Mit heißer Nadel gestricktes Polizeirecht
Als Reaktion auf den Anschlag von Solingen will die Bundesregierung schnell Handlungsstärke beweisen. Ein am 9. September eingebrachter „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung“ wurde bereits am 12. September in der ersten Lesung im Bundestag diskutiert und steht für den 23. September auf der Tagesordnung des Innenausschusses.
Der Entwurf ist teilweise an anderer Stelle kritisiert worden (siehe hier). Wenig Aufmerksamkeit hat bislang aber eine beabsichtigte Änderung im Bundespolizeigesetz (BPolG) erhalten. Neben der digitalen Datenerhebung soll auch die klassische Datenerhebung durch Ansprechen einer Person geändert werden, um die es im Folgenden allein gehen soll. Konkret soll der Ermächtigungsgrundlage zur Befragung, dem § 22 BPolG, ein neuer Absatz 1b mit folgendem Inhalt hinzugefügt werden:
Die Bundespolizei kann zur Durchsetzung von Waffenverbotszonen nach § 42 Absatz 7 des Waffengesetzes sowie zur Durchsetzung von Allgemeinverfügungen der Bundespolizei auf dem Gebiet der Eisenbahnen des Bundes, welche das Mitführen von konkret bezeichneten gefährlichen Gegenständen und Waffen untersagt, Personen kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen und durchsuchen. Die Auswahl der nach Satz 1 durch die Bundespolizei kontrollierten Person anhand eines Merkmals im Sinne des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes ohne sachlichen, durch den Zweck der Maßnahme gerechtfertigten Grund ist unzulässig.
Dieser § 22 Abs. 1b BPolG n.F. hätte mit § 22 Abs. 1a BPolG nicht nur einen notorisch bekannten Nachbarn, der vielfach im Kontext von Racial Profiling kritisiert wurde (beispielsweise hier, hier und hier). Beide Normen weisen auch strukturelle Ähnlichkeiten auf, sodass auch bei § 22 Abs. 1b BPolG n.F. erhöhtes Diskriminierungspotential besteht.
Adressaten des § 22 Abs. 1b BPolG n.F. sind keine flüchtigen Straftäter:innen oder sich besonders verdächtig verhaltende Personen. Die Norm ermächtigt vielmehr dazu, jede Person in einem bestimmten Bereich zu befragen, ihren Ausweis zu prüfen oder sie zu durchsuchen. Die Person muss dafür keinerlei Anlass geben. Mit der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich formulierten Reaktion auf islamistischen Terrorismus obliegt es damit am Ende allein dem Ermessen der Beamt:innen, wen es trifft und wen nicht.
22 Abs. 1a BPolG reloaded?
Ausweislich der Gesetzesbegründung erhofft sich der Gesetzgeber durch die Änderung eine „abstrakt abschreckende Wirkung“. Der Aufbau der Norm ist mit § 22 Abs. 1a BPolG weitgehend identisch. Beide Normen formulieren ein Ziel, auf Tatbestandsebene lediglich eine räumliche Beschränkung und auf Rechtsfolgenseite einen nach Ermessen anzuwendenden Maßnahmenkatalog. Eine Gefahr setzt keiner der Tatbestände voraus.
Bei § 22 Abs. 1a BPolG ist das Ziel die Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise, bei § 22 Abs. 1b BPolG n.F. die Durchsetzung von Waffenverbotszonen und Allgemeinverfügungen. Der Kontrollraum ist in dem einen Fall in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes, in dem anderen auf dem Gebiet der Eisenbahnen des Bundes.
Nach Ermessen können die Beamt:innen sodann nach § 22 Abs. 1a BPolG jede Person kurzzeitig anhalten, befragen und verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen. Nach § 22 Abs. 1b BPolG n.F. können sie neben diesen Maßnahmen zusätzlich mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen und durchsuchen. § 22 Abs. 1b BPolG n.F. ist daher die deutlich eingriffsintensivere Norm.
Spannend ist zudem die Gestaltung des Ziels. Im Zusammenhang mit Abs. 1a wurde kritisiert, dass die Norm durch die Anknüpfung an das Ziel der Verhinderung unerlaubter Einreisen Racial Profiling fördere (hier S. 27 sowie zu § 23 BPolG hier Rn. 105). Der Abs. 1b n.F. knüpft nicht mehr an eine Handlung von Personen, sondern an Waffenverbotszonen und vergleichbare Allgemeinverfügungen an. Das eigentliche Ziel ist jedoch die Generalprävention von terroristischen Anschlägen mittels Messern oder durch verdeckt am Körper getragenen Sprengstoff. So steht es in der Gesetzesbegründung auf S. 23.
Erst Fragen, dann Durchsuchen
Zwei Probleme stellen sich in Bezug auf den Aufbau der Norm. Erstens besteht die Gefahr, dass die Norm in der Praxis rechtswidrig für Durchsuchungen herangezogen wird. § 22 Abs. 1 BPolG ist die Generalklausel zur polizeilichen Befragung. Die Rechtsprechung hat bereits hier und hier für Abs. 1a entschieden, dass der Maßnahmenkatalog im Sinne einer Reihenfolge zu verstehen ist, sodass erst nach einer Befragung, beispielsweise zur Sicherung der Aussage, Ausweisdokumente überprüft werden dürfen. In einer systematischen Auslegung bedeutet das, dass der Abs. 1b n.F. erst nach einem Gespräch und abhängig von dessen Ergebnis zu einer Durchsuchung ermächtigt. Eine Ermächtigungsgrundlage für sofortige Durchsuchungen zum Auffinden von Messern oder Sprengstoff stellt Abs. 1b n.F. daher nicht dar. Der Tatbestand ist jedoch vage und setzt keinen Kontrollgrund voraus. Ein Missbrauch wird oftmals schwer aufzudecken sein, da die Kontrollierten die Rechtslage in der Regel nicht kennen.
Zweitens stellt sich die Frage (wie bereits bei Abs. 1a), wie die Polizei anlasslos Personen identifizieren soll, die verdeckt Messer oder Sprengstoff mit sich führen könnten. Bei Abs. 1a ist ein Hauptkritikpunkt, dass die Norm Racial Profiling ermögliche und fördere. Die Zielvorgabe, unerlaubte Einreisen zu verhindern, begünstige rassistische Zuschreibungen. Daher seien hauptsächlich Menschen betroffen, denen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung zugeschrieben wird, entweder nicht Deutsch zu sein oder keinen gültigen Aufenthaltstitel zu haben.
Für Abs. 1b n.F. ist ein vergleichbares Vorgehen zu erwarten. Nur lässt sich das Ziel der Maßnahme diesmal nicht einmal mehr dem Normtext entnehmen. Dort steht nichts zu islamistischem Terrorismus, obwohl es in der Gesetzesbegründung und der Debatte im Bundestag ausschließlich darum ging. Wie wählt die Polizei nun aus, wer zu befragen ist? Wer wird die Kontrollen über sich ergehen lassen müssen, sodass es die „abstrakt abschreckende Wirkung“ gibt, die allen zugutekommen soll?
Es ist davon auszugehen, dass diese Last in der Gesellschaft nicht gleichmäßig verteilt sein wird und solche Durchsuchungen in den öffentlichen Bahnhofsgebäuden nicht den gewünschten Effekt erreichen werden. Vielmehr ist zu befürchten, dass sie zu Diskriminierungen und Stigmatisierungen von nicht als weiß gelesenen Personen führen werden.
Rassistische Diskriminierung aus sachlichen Gründen?
Der Gesetzentwurf antizipiert bereits solche Befürchtungen und beinhaltet daher in Abs. 1b S. 2 n.F. eine Regelung, die diskriminierenden Kontrollen vorbeugen soll. Dort heißt es:
Die Auswahl der nach Satz 1 durch die Bundespolizei kontrollierten Person anhand eines Merkmals im Sinne des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes ohne sachlichen, durch den Zweck der Maßnahme gerechtfertigten Grund ist unzulässig.
Die Idee eines solchen Verweises auf das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes ist nicht neu. Entsprechende Klauseln sind bereits in § 12 Abs. 3 BbgPolG oder § 181 Abs. 2 LVwG SH enthalten. Der Verweis hat jedoch einen Haken: Er ergibt keinen Sinn. Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 3 GG mittels eines sachlichen Grundes ist nicht möglich. Soweit ersichtlich vertritt auch niemand, dass das möglich sei. Während unter Umständen bei Art. 3 Abs. 1 GG ein sachlicher Grund ausreichen kann, kann er es nie bei Art. 3 Abs. 3 GG.
Eine Rechtfertigung ist, wenn überhaupt, nur durch kollidierendes Verfassungsrecht denkbar. Für die Kategorie der Rasse gem. Art. 3 Abs. 3 GG wird aber selbst das teilweise abgelehnt und die Möglichkeit der Rechtfertigung generell verneint. Das ist vorliegend wichtig, da sich Rasse als rechtliche Diskriminierungskategorie in diesem Szenario aufdrängt.
Auch ein Blick ins Detail hilft nicht weiter. Der Wortlaut von Abs. 1b S. 2 n.F. besagt nicht, dass sachliche Gründe eine Ungleichbehandlung wegen Art. 3 Abs. 3 GG rechtfertigen, sondern, dass die sachlichen Gründe, welche den Zweck der Maßnahme rechtfertigen, auch die Ungleichbehandlung rechtfertigen. Nach dieser leicht tautologischen Konstruktion sind wir so klug als wie zuvor.
Zu guter Letzt bleibt dann noch ein Blick in die Gesetzgebungsmaterialien. Dort heißt es auf S. 24, dass ein alleiniges Anknüpfen an die Kategorien aus Art. 3 Abs. 3 GG unzulässig sei. So weit so bekannt. Weiter heißt es dann aber, dass sich ein sachlicher Grund für anlasslose Kontrollen aus besonderen Lageerkenntnissen ergeben könne. Was das bedeuten soll, bleibt unklar. Das Polizeirecht kennt Lageerkenntnisse beispielsweise als Tatbestandsmerkmal in § 22 Abs. 1a BPolG. Auf Basis von Lageerkenntnissen sind demnach Befragungen nach § 22 Abs. 1a BPolG zu vollziehen. Die Lageerkenntnisse sollen dabei mit dem Maßnahmenziel korrespondieren und für Effektivität sorgen. In der Rechtsprechung wurden Lageerkenntnisse als Einschätzungen und Wertungen für Informationen, beispielsweise in Bezug auf Örtlichkeiten und deren Gefahrenpotential verstanden. Vereinfacht ausgedrückt sind Lageerkenntnisse also Informationen und Daten sowie deren Bewertung durch die Polizei über das Gefahrenpotential, z.B. an einem Bahnhof.
Wie Einschätzungen und Wertungen zu Gefahrenpotentialen, die die Tatbestandsvoraussetzung für Befragungen sind, Durchsuchungen aufgrund, wenn auch nicht ausschließlich, der Kategorien von Art. 3 Abs. 3 GG rechtfertigen sollen, erscheint zweifelhaft. Das Tatbestandsmerkmal der Lageerkenntnisse des weniger eingriffsintensiven Abs. 1a kann im Ergebnis jedenfalls nicht die Rechtfertigung des intensiveren Abs. 1b n.F. sein.
Wie es dieser Satz trotzdem in den Gesetzesentwurf geschafft hat, lässt sich leicht erklären. Er ist wortlautidentisch im Reformentwurf zum BPolG in § 23 Abs. 2 S. 2 BPolG-E enthalten, also de lege lata § 22 Abs. 1a BPolG. Auch in diesem Zuge wurde er bereits wiederholt scharf kritisiert und auf seine systematischen Defizite hingewiesen (z.B. hier und hier sowie erneut hier auf S. 190). All diese Hinweise wurden jedoch dem Anschein nach ignoriert.
Der Gesetzgeber möchte und muss die Polizei auf die besonderen Herausforderungen vorbereiten und ihr die notwendigen Kompetenzen geben, sodass sie Gefahren abwehren und auch deren Entstehung verhindern kann. Ein geeignetes Mittel dafür ist jedoch § 22 Abs. 1b BPolG n.F. nach den obigen Ausführungen nicht.
Wiederholt haben Studien belegt, dass solche Regelungskonstellationen ein massives Diskriminierungsrisiko beinhalten (zuletzt hier). Auch bei Verständnis für den enormen politischen Druck durch Terror darf die derzeitige Situation nicht dazu führen, dass widersprüchliches Recht hier „mit der heißen Nadel gestrickt wird“. Darauf gilt es im Innenausschuss hinzuweisen. Die Stellungnahmen der Sachverständigen greifen das bislang nicht auf.
Hinzuweisen sei noch auf Artikel 2 Ziff. 4 lit. c des Gesetzentwurfs, (Drs. 20/12806) durch den § 43 Abs. 1 BPolG ergänzt wird um eine Befugnis zur Durchsuchung der Person “in Fällen des § 22 Absatz 1b”, nach meinem Verständnis also ohne weitere Voraussetzungen (wie etwa einer Pflicht zum stufenweisen Vorgehen).