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16 June 2023

Rechtsfortbildung in Zeiten planetarer Krisen

Ökologische Nachhaltigkeit operationalisieren

Nicht nur der Klimawandel, auch der immense Verlust der Artenvielfalt und die globale Umweltverschmutzung haben sich aus ihren fachspezifischen Nischen in das Zentrum der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bewegt. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns aktuelle Nachrichten nicht an die großen planetaren Krisen – oder noch treffender, wie viele meinen: Katastrophen – erinnern. Es verwundert daher nicht, dass diese globalen Herausforderungen auch im Fokus des Forums Junges Nachhaltigkeitsrechts stehen, welches vom 16. bis 17. Juni an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) seine zweite Jahrestagung abhält. Welche potentiellen Lösungen das Nachhaltigkeitsrecht in Theorie und Praxis bereithält, werden wir in den folgenden Tagen nicht nur in Halle (Saale), sondern auch im Rahmen dieser Verfassungsblog-Debatte zur Diskussion stellen.

Hintergrund: Vom Brundtland-Bericht zu den SDGs

Für viele bedarf das Konzept der Nachhaltigkeit heutzutage kaum mehr einer theoretischen Einordnung. Das stetig wachsende Interesse am Nachhaltigkeitsdiskurs hat dafür gesorgt, dass die wegweisenden rechtspolitischen Dokumente, angefangen bei dem Brundtland-Bericht (1987) über das Drei-Säulen-Modell des Erdgipfels (1992) bis zur Agenda 2030 mit den 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs), weithin bekannt sind. Der Brundtland-Bericht (1987) unternahm eine erste Begriffsbestimmung, welche bis heute diskursleitend ist. Dort wird die nachhaltige Entwicklung definiert als “meeting the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs”. Eine wesentliche und bis heute grundlegende Ausdifferenzierung hat der Nachhaltigkeitsbegriff seither durch das Drei-Säulen-Modell erfahren, welches die Gleichrangigkeit von sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Belangen betont (vgl. eingehend Mittwoch, Nachhaltigkeit und Unternehmensrecht, 2022, S. 17ff.). Entwickelt wurde dieses Modell von der internationalen Staatengemeinschaft, um den komplexen „Ungleichzeitigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung“ zwischen Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländern Rechnung zu tragen (vgl. Berg, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S. 434). Denn nur auf diesem Wege könnten die vielfältigen Umweltauswirkungen der sozial-ökonomischen Diskrepanzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern einzelfallgerecht verortet und die Frage nach der „ökologischen Gerechtigkeit“ gestellt werden. Mit der Agenda 2030 hat sich die internationale Staatengemeinschaft auf Wirtschaft, Soziales und Umwelt als die drei tragenden und gleichrangigen Säulen für die Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) verständigt. Dass Nachhaltigkeit insbesondere im Brundtland-Bericht noch als vorrangig ökologische Nachhaltigkeit im Sinne der “Erhaltung der Integrität ökologischer Systeme” verstanden wurde, wird dabei häufig übersehen (Schröter/Bosselmann, ZUR 2018, S. 203, vgl. auch Mittwoch, Nachhaltigkeit und Unternehmensrecht, 2022, S. 31).

Die drei Säulen der Nachhaltigkeit im Recht

Das Drei-Säulen-Modell wird zunehmend auch in jüngeren Rechtstexten gespiegelt. Die Europäische Union hat sich spätestens mit dem Vertrag von Lissabon nachhaltige Entwicklung “in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt” als grundlegende Zielsetzung auf die Fahnen geschrieben ( vgl. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV und Art. 21 Abs. 2 lit. d). Noch genauere Begriffsbestimmungen finden sich beispielsweise in den sog. Freihandelsabkommen der neuen Generation der EU. Im Freihandelsabkommen zwischen der EU und Neuseeland wird nachhaltige Entwicklung definiert als “economic development, social development and environmental protection, all three being interdependent and mutually reinforcing” (Art. 19.1 Abs. 2 EU-Neuseeland-FTA).

Die so skizzierte Multidimensionalität und -funktionalität des Nachhaltigkeitsbegriffs erweist sich jedoch zunehmend als ein ökologisches Problem. Das gegenwärtig herrschende Drei-Säulen-Modell schließt eine Konvergenz der jeweils verfolgten Zielsetzungen zwar nicht aus. Oft genug aber kommt es zu Zielkonflikten, welche zulasten der ökologischen Dimension aufgelöst werden. Ein “schwaches” Nachhaltigkeitsverständnis suggeriert, dass sich Verluste des “Naturkapitals” in gewissem Maße durch technologische und wirtschaftliche Fortschritte ausgleichen lassen, und trägt so de facto häufig zu einer Nachrangigkeit ökologischer Belange gegenüber sozialen, technischen und ökonomischen Zielsetzungen bei (vgl. z.B. Czybulka, EurUP 2021, S. 5). In der gegenwärtigen Zeit multipler Krisen wird allzu oft deutlich, dass es der ökologischen Nachhaltigkeit in diesem Gefüge an normativer Kraft fehlt. Politische Entscheidungen, wie die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe (“Tankrabatt”) im Sommer 2022 und die Aufweichung der CO2-Sektorziele im Klimaschutzgesetz, deren Vereinbarkeit mit dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts gegenwärtig zumindest bezweifelt werden kann, wären womöglich unter den Vorzeichen einer starken Nachhaltigkeit anders ausgefallen. Denn die planetaren Krisen lassen sich nicht isoliert denken, sondern bedrohen alle Lebensbereiche gleichzeitig und gleichermaßen.

Von der Gleichrangigkeit zum Vorrang der ökologischen Nachhaltigkeit

Jüngere Forschungsergebnisse kommen zu dem Schluss, dass Umweltverschmutzung, Biodiversitätsverlust und Klimawandel die Erreichung von 80 Prozent aller UN-Nachhaltigkeitsziele und -unterziele gefährden. Das Stockholm Resilience Center hat bereits 2016 vorgeschlagen, die vier ökologischen Ziele der SDGs zur Grundlage der übrigen wirtschaftlichen und sozialen Ziele zu erklären. In vergleichbarer Weise haben Rakhyun Kim und Klaus Bosselmann aus einer völkerrechtlichen Perspektive zugunsten einer Hierarchisierung der SDGs argumentiert, im Rahmen derer die ökologische Integrität zur Grundnorm wird (vgl. Kim/Bosselmann, RECIEL 24 (2015), S. 198ff.). Damit wird der Gedanke aus der Frühphase des internationalen Nachhaltigkeitsdiskurses, ökologische Nachhaltigkeit als vorrangiges Leitprinzip zu verstehen, wieder aufgegriffen. Es geht darum, einen “ökologisch neuformulierten Vorbehalt[…] und Vorrang des Rechts (Rule of Law for Nature)” zu statuieren (Schröter/Bosselmann, ZUR 2018, S. 204):

Genauso wie die natürlichen Wachstums- und Regenerationsintervalle des Waldes dem Holzeinschlag Grenzen setzen, müssen sich sozioökonomische Bedürfnisse im Zweifel dem Erhalt der für das Erdsystem essentiellen Umweltgüter unterordnen” (Schirmer, ZEuP 2021, 35 (38 f.)).

De constitutione lata hat dieser Gedanke in der Verfassung von Ecuador (2008) Gestalt angenommen. Dort heißt es in Art. 395 Abs. 4:

In Zweifelsfällen über den Anwendungsbereich von Rechtsvorschriften in Umweltangelegenheiten sind diese in dem für den Naturschutz günstigsten Sinne anzuwenden”.

Ein anderer, verwandter Vorschlag, den Andreas Buser in diesem Symposium diskutieren wird, ist die verfassungsrechtliche Konturierung der ökologischen Nachhaltigkeit durch die Aufnahme der planetaren Grenzen in das Grundgesetz.

Nachhaltigkeit vor die Klammer ziehen  

Um ökologische Nachhaltigkeit wirksam im Recht zu verankern, kann es natürlich nicht genügen, sich auf allgemeingültige Grundprinzipien zu verständigen. Damit das Recht in seiner alltäglichen Auslegung und Anwendung nachhaltige Entscheidungen und Verhaltensweisen befördern kann, bedarf es eines tiefgreifenden Mainstreamings von Nachhaltigkeitsbelangen in alle Teilbereiche des Rechts. Nachhaltigkeit muss intradisziplinär operationalisiert werden. Dazu gehört sowohl, das jeweilige rechtsgebietsspezifische Nachhaltigkeitsverständnis in der Fachliteratur als auch in der Rechtspraxis offenzulegen (so auch Vorfelder, Rechtsfragen einer nachhaltigen Forstwirtschaft, 2022, S. 74) als auch konkrete Handlungsanweisungen und Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln. In der Operationalisierung der Nachhaltigkeit liegt die vielleicht größte Herausforderung der kommenden Jahre. Die Europäische Union hat u.a. mit neuen Vorschriften zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und nachhaltigkeitsbezogenen Offenlegungspflichten von Unternehmen im Finanzdienstleistungssektor wichtige erste Schritte in diese Richtung unternommen; Unternehmensregeln für die nachhaltige Ausgestaltung von Lieferketten werden voraussichtlich noch in diesem Jahr folgen.

Für weitere Rechtsgebiete, wie das Wirtschaftsstrafrecht, Verbraucherschutzrecht und Gesellschaftsrecht, zeigen Vertreter*innen aus dem Forum Junges Nachhaltigkeitsrecht de lege ferenda Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Gesellschaft auf (vgl. Sommerer, RW 2021 (2), S. 119-147 sowie Lisa Beer und Katharina Gelbrich in diesem Symposium). Auch in anderen Rechtsdisziplinen wurde bereits der Bedarf nach nachhaltigkeitsbezogenen Reformanstrengungen identifiziert und entsprechende Vorschläge unterbreitet (vgl. z.B. für das Verwaltungsrecht Kment, 2019).

Der Fokus auf die ökologische Nachhaltigkeit soll hierbei nicht den Blick dafür verstellen, dass in der Rechtswirklichkeit insbesondere die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen über Fortschritt oder Stillstand in rechtspolitischen Prozessen in Reaktion auf die planetaren Krisen entscheiden können. Die individuelle Bereitschaft, Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen mitzutragen, hängt nachweislich von der sozioökonomischen Situation einer Person ab. Nachhaltigkeitsorientierte Politik muss gerechtigkeitssensibel sein und vulnerable Gruppen in besonderem Maße berücksichtigen, wenn sie akzeptiert werden will (OECD, Rn. 93). Andersherum ist bereits seit einiger Zeit klar, dass es “no jobs on a dead planet” gibt, und so ist das effektive Zusammenführen von ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit eine weitere Kernherausforderung. Sie führt zu einer Vielzahl weiterer, hoch praxisrelevanter Fragen für das Nachhaltigkeitsrecht nicht nur in den Bereichen des Sozial- Arbeits- und Unternehmensrechts. Die intra- und intergenerational faire Gestaltung ökologisch transformativer Maßnahmen verlangt eine Auseinandersetzung selbst mit den innersten Regeln der Demokratie, etwa der staatsorganisationsrechtlichen Frage nach dem Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung.

Starke Nachhaltigkeit = ökozentrische Nachhaltigkeit?

Das Nachhaltigkeitsprinzip lässt sich nicht vollends zu Ende denken, wenn man es nur anthropozentrisch begreift. Seine Prämisse der Verschränkung und Interdependenz aller Lebensbereiche schließt die nicht-humane Mitwelt notwendigerweise ein – nicht lediglich aus einer zweckorientierten Perspektive, sondern aufgrund des inhärenten Eigenwertes der Natur (Schröter/Bosselmann, ZUR 2018, S. 203). Die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft gelingt daher nicht ohne einen grundlegenden Wandel des Mensch-Natur-Verhältnisses, wie er auch von ökofeministischen Stimmen (in diesem Symposium dazu Carolin Heinzel) gefordert wird. Es ist daher keinesfalls ein Widerspruch, sondern vielmehr eine sinnvolle Ergänzung des Nachhaltigkeitsdiskurses, wenn in den folgenden Beiträgen auch die Forderung nach der Anerkennung von Eigenrechten der Natur und einer neuen Kommunikations- und Mediationskultur mit der natürlichen Mitwelt anklingt (Charlotte Maier in diesem Symposium).

Diskursräume für eine nachhaltige Rechtsfortbildung schaffen

Obwohl heutzutage ein breiter Konsens über Nachhaltigkeit als generelle politische Zielsetzung besteht, befindet sich das Recht selbst noch am Anfang eines Findungs- und Transformationsprozesses, dessen Leitplanken und Werkzeuge teilweise überhaupt erst entwickelt werden müssen. Es ist ein zentrales Anliegen des Forums Junges Nachhaltigkeitsrecht, zur Entwicklung dieses Instrumentenkastens beizutragen. Die Ideen und Vorschläge, die in den kommenden Tagen im Rahmen dieser Debatte folgen, sind durch ein gemeinsames Anliegen verbunden: Diskursräume – in und jenseits von Halle (Saale) – für eine nachhaltige Rechtsfortbildung zu öffnen und mit den Mitteln des Rechts auf eine Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft hinzuarbeiten.