Schlussanträge zu OMT-Vorlage: Lob der Zweideutigkeit
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat in den letzten Wochen keine besonders souveräne Figur gemacht. Sein Gutachten zum EMRK-Beitritt der Union ist eine Katastrophe, und in diesem Urteil scheint sich so ziemlich die gesamte Fachwelt einig zu sein – nicht nur hier auf dem Verfassungsblog. Vielleicht gibt es ja jemanden, der mit dieser Entscheidung sympathisiert. Alle, mit denen ich gesprochen habe, rollen jedenfalls die Augen, halb entsetzt, halb beschämt über die machohafte Unverblümtheit, mit der der EuGH hier sein Terrain verteidigt gegenüber der potenziellen Konkurrenz aus Straßburg.
Vor diesem Hintergrund sind die heutigen heute veröffentlichten Schlussanträge von Generalanwalt Pedro Cruz Villalón im so heiß umstrittenen OMT-Verfahren ein besonders interessantes Dokument.
Noch mal kurz zur Rekapitulation: Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise hatte die EZB am 6. September 2012 angekündigt, notfalls unbeschränkt Staatsanleihen wankender Euroländer zu kaufen, wenn das zur Rettung der gemeinsamen Währung nötig werden sollte. Das war zwar einstweilen effektiv, was die Spekulationen gegen den Euro betraf, aber rechtlich war das eine äußerst riskante Sache: Die EZB ist nicht dazu da, überschuldeten Mitgliedsstaaten aus der Patsche zu helfen. Sie hat sich um Preisstabilität zu kümmern und nichts anderes. Monetäre Haushaltsfinanzierung ist in der EU primärrechtlich explizit verboten.
Auf den Tag genau vor einem Jahr kam das von einer bunten Allianz von Klägern angerufene Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass dieses so genannte OMT-Programm nicht nur den Kompetenzrahmen der Union sprengt, sondern auch die Verfassungsidentität Deutschlands verletzt. Nun hatte das BVerfG in seiner berühmten Honeywell-Entscheidung bekanntlich versprochen, zuerst dem EuGH Gelegenheit, zu der Streitfrage Stellung zu nehmen und so den Stein des Anstoßes vielleicht selbst aus der Welt zu schaffen, bevor es den Ultra-Vires-Hammer fallen lässt. Dieses Versprechen machte das BVerfG im OMT-Fall nun zum ersten Mal wahr und legte dem EuGH den Fall zur Vorabentscheidung vor.
Die Honeywell-Entscheidung war von mir und anderen eigentlich als großes Friedenswerk gedeutet worden, der nach dem Lissabon-Urteil den beiden konkurrierenden Gerichten wieder einen Modus Vivendi ermöglicht. Doch wie der OMT-Fall zeigt und der Generalanwalt mit feinem Skalpell offenlegt, kann so eine Vorlage eine sehr zweideutige Sache sein.
Inakzeptabel wäre es für den EuGH, zu einer Art Auskunftsbüro in Fragen des Europarechts herabgewürdigt zu werden, dem die nationalen Verfassungsgerichte allerhand interessante Fragen vorlegen, nur um hinterher nach ihren eigenen nationalen Verfassungsmaßstäben zu entscheiden. Auf den Gedanken zu kommen, dass sich das BVerfG das etwas in der Art vorstellt, macht einem die OMT-Vorlage nicht besonders schwer. Eine solche Lesart würde darauf hinauslaufen, dass die Meinung des EuGH nur dann eine Rolle spielt, wenn sie mit der des BVerfG ohnehin übereinstimmt. Dazu sei das Vorlageverfahren nicht da, so der Generalanwalt.
Was die Ultra-Vires-Kontrolle betrifft, so scheint dem Generalanwalt das Problem jedenfalls im OMT-Fall beherrschbar. Ob Art. 88 GG oder Art. 127 AEUV, der Begriff, um den es bei der Kompetenzabgrenzung geht, ist von beiden Seiten aus betrachtet der selbe, nämlich Preisstabilität.
Schwieriger ist es bei der Identitätskontrolle. Was zum unantastbaren Kernbereich der nationalen Verfassungsidentität gehört, dieses Urteil kann der EuGH den nationalen Verfassungsgerichten schwerlich streitig machen. Andererseits darf er es auch nicht so weit kommen lassen, dass dauernd mal dieses, mal jenes Verfassungsgericht aus dem einheitlichen Unionsrecht lauter nationale Verfassungsreservate herausstanzt.
Damit das nicht passiert, erinnert Cruz Villalón an die gemeinsame “europäische Verfassungskultur” (und zitiert für diesen Begriff listigerweise Andreas Voßkuhle), die uns in der Union verbindet und dafür sorgt, dass sich die nationalen Verfassungsidentitäten annähern und jedenfalls nicht “astromisch weit entfernt” von der besagten – und vom EuGH gestalteten – europäischen Verfassungskultur sein können.
Vor diesem Hintergrund schlägt der Generalanwalt vor, sich die Zweideutigkeit dieser Sorte verfassungsgerichtlicher Vorlagebeschlüsse zunutze zu machen und für die Vorlage und die verfassungsgerichtlichen Intentionen dahinter eine “alternative Lesart” zu wählen. Anknüpfungspunkt ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV): Das Verfassungsgericht sollte in seiner Vorlageentscheidung das “loyale Bestreben” zum Ausdruck bringen, es mit der Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH sein Bewenden haben zu lassen und Widersprüche möglichst zu vermeiden.
Den Gerichtshof wiederum mahnt der Generalanwalt, seinerseits “mit größtmöglicher Loyalität auf eine ihrerseits in völliger Loyalität vorgelegte Frage zu antworten”. Gerade wenn also, wie hier, das Verfassungsgericht in seinem Vorlagebeschluss besonders markig auftritt, soll sich der Luxemburger Gerichtshof nach Ansicht seines Generalanwalts nicht provozieren lassen und stattdessen den harschen Ton der nationalen Verfassungsrichter milde als “Ausdruck der Besorgnis” werten. Außerdem solle der Gerichtshof bei seiner Antwort auf die Vorlagefragen davon “ausgehen”, dass das Verfassungsgericht diese dann auch berücksichtigt – ein “Element des Vertrauens” im Loyalitätsverhältnis der beiden Gerichte.
Mit anderen Worten: Der Gerichtshof soll, so Cruz Villalón, die Honeywell-Entscheidung mitsamt der aktuellen Vorlage aus Karlsruhe als ausgestreckte Hand betrachten und diese dann auch beherzt und ohne Groll ergreifen. Wofür ich den wackeren Spanier dem Stockholmer Friedensnobelpreiskomittee ans Herz legen möchte, wenn ihm das nächste Mal kein besserer Kandidat einfällt als, sagen wir, Arafat oder Kissinger oder so jemand.
Meine Vermutung ist, dass ein solcher Akt der Versöhnung an Karlsruhe nicht scheitern würde. Zumindest hatte Berichterstatter Peter M. Huber im letzten März sehr deutlich unterstrichen, dass er sich jeder “vertretbaren” Auslegung des maßgeblichen Unionsrechts aus Luxemburg gerne zu beugen bereit wäre. Und was jedenfalls Pedro Cruz Villalón in punkto EZB-Kompetenzen und monetäre Haushaltsfinanzierung in seine Schlussanträge schreibt, scheint mir prima facie diesem Maßstab durchaus zu genügen, wenngleich ich zu dieser späten Stunde das Urteil dazu gern Berufeneren überlassen würde.
So oder so: jetzt liegt der Ball im Feld der Luxemburger Richterbank. Ob es Skouris et.al. gelingt, ihr Temperament zu zügeln und den vom Generalanwalt vorgezeichneten Friedenskurs einzuschlagen? Oder werden sie versuchen, sich mit einer brutalen Abfuhr in Richtung Karlsruhe, mit einer Grundsatzentscheidung gegen jede Art von Ultra-Vires- oder Identitätskontrolle gar, als Platzhirsch und europäischer “Supreme Court” zu etablieren?
Ich würde es nicht ausschließen. Immerhin hatte beim EMRK-Gutachten die Generalanwältin Juliane Kokott ebenfalls mit viel Mühe einen vernünftigen Weg ausgearbeitet. Das hatte den Gerichtshof nicht gehindert, in den Wind geschlagen…
Ich freue mich, nach einem Dutzend Beiträgen zu choice und nudging endlich wieder etwas anderes in meinem RSS-Reader zu entdecken. Die Erwartungen werden dann auch mehr als erfüllt: Von all den hier angesprochenen Aspekten hatte ich in der Curia-Pressemitteilung (http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2015-01/cp150002de.pdf) schlicht gar nichts gelesen. Danke dafür.
Der Generalanwalt zieht das Ernstmeinen einer möglichen Ultra-vires-Feststellung durch das Bundesverfassungsgerichts in Zweifel. Das subkutane Motto, “lasst das BVerfG kläffen, geht aber davon aus, dass am Ende des Tages nicht gebissen wird” und nahezu jedes Ergebnis des Gerichtshofs (“vertretbar”) entgegengenommen wird, hat der Berichterstatter mit seinen öffentlichen Äußerungen geradezu provoziert. Man mag das im Sinne eines dialogischen Miteinanders gut finden… aber der Gerichtshof der Union würde damit de facto sein Stellung im Verhältnis auch zu nationalen Verfassungsgerichtsbarkeiten in unscheinbarer Weise befestigen und ausbauen.
Zumindest gehört der wackere Spanier in die Deutsche Staatsrechtslehrervereinigung. Erinnern wir uns: Er war es, der die Schlussanträge zur Vorratsdatenspeicherung formulierte. Es zeigt sich nun, dass auch die deutsche Verfassungsidentität bei Pedro Cruz-Villálon in guten, vielleicht sogar in den allerbesten Händen liegt.
Es ist eine ironisch Wendung dieses Großverfahrens, dass die Schlussanträge des Generalanwalts – und nicht das BVerfG mit seinen ultra vires-Aktivitäten – einen “Wechselkurs-Tsunami” auslösen. Die Entscheidung der Schweizerischen Nationalbank, das Wechselkursziel zum Euro aufzugeben, steht zweifelsohne im Zusammenhang mit den gestrigen Schlussanträgen. Die Nationalbank hat die Schlussfolgerung bereits gezogen, der EuGH werde jedenfalls im Ergebnis entsprechend Villalons Vorschlag entscheiden und die EZB werde ihre geplanten Anleihekäufe beginnen.
Interessant an den Schlussanträgen ist auch die Botschaft, dass die EZB einer Rechtsbindung – dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für die Bestimmung der Grenzen ihres Mandats (!) – unterliegt. Das ist aber sicherlich eher etwas für den juristischen Feinschmecker, denn im Ergebnis werden diese Rechtsbindungen nicht greifen. Die Leitplanken sind sehr weit gesteckt, andere Vorgaben (Begründungspflicht, Aufgabe der “Parallelität” und Stillhaltefrist) sind leicht zu erfüllen.
Oh, ich wusste nicht, dass Herr Villálon in die Staatsrechtslehrervereinigung strebt. Aber vielleicht sollten wir auf Grundlage dieser Hypothese das Verfahren angehen ….
@Max Steinbeis: Verletzung der Verfassungsidentität: Das lässt der OMT-Beschluss ausdrücklich noch offen (sub D. = Rn. 102 f.)?
[…] Deutschland wurde der Schlussantrag des Generalanwalts bezüglich des OMT-Programms der EZB vielfach als erste Bestätigung dieser „These der zu schwachen Kontrolle“ gesehen. Und in der […]