Schuldenbremse und Klimawandel
Warum es dringend einer Verfassungsänderung bedarf
Das Urteil des BVerfG vom 15.11.2023 zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 stellt die Ampelkoalition vor enorme Herausforderungen. Ohne die nun verfassungsgerichtlich wegen Verstoßes gegen die Schuldenbremse für unzulässig erklärte Verschiebung übriger Kreditermächtigungen aus den Corona-Hilfen in den Klima- und Transformationsfonds sind wichtige Förderprogramme zum Übergang in eine möglichst emissionsfreie Wirtschaftsweise akut gefährdet. Da ist es wenig verwunderlich, dass das Urteil auch kritische Reaktionen ausgelöst hat. Karlsruhe schwinge sich zum Mitregieren auf und verordne ein „hirnloses Sparen“, war in der Tagespresse zu lesen. Auf diesem Blog schließen sich Lennart Starke sowie Lukas Märtin und Carl Mühlbach der Kritik unter dem Aspekt an, dass es hier um Klimaschutzinvestitionen geht. Ich halte es im Ergebnis ebenfalls für bedenklich, dass schuldenfinanzierte Investitionen in den klimaverträglichen Umbau der Wirtschaft kategorisch ausgeschlossen werden. Ich sehe aber nicht, dass dieses Ergebnis auf der Ebene der Verfassungsinterpretation zu vermeiden gewesen wäre. Vielmehr wird deutlich, dass die Regelung des Art. 115 Abs. 2 GG dringend auf den Prüfstand gehört. Die Verfassung sollte die politischen Akteure nicht auf eine einseitige Sicht der Wirtschaftspolitik und ein verkürztes Verständnis von Generationengerechtigkeit festlegen.
Überzogene Erwartungen an die Verfassungsinterpretation
Dass das Urteil (eine nähere Analyse bereits hier) den Zweiten Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig und nichtig erklärt, kommt keineswegs überraschend. Bereits im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes war die Verfassungsmäßigkeit kontrovers diskutiert worden. Das BVerfG hielt die Konstruktion der Ampel im Wesentlichen aus zwei Gründen für verfassungswidrig. Zum einen hätten die politischen Organe nicht plausibel dargelegt, dass zwischen der zur Überschreitung der Regelverschuldungsgrenzen berechtigenden „außergewöhnlichen Notlage“ nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG – hier der Corona-Pandemie – und der Kreditaufnahme ein Veranlassungszusammenhang bestehe. Die streitgegenständlichen Milliarden für den Klima- und Transformationsfonds standen gerade deshalb zur Verfügung, weil sie nicht mehr zur akuten Corona-Krisenbewältigung benötigt wurden. Dass die Pandemie auch noch längerfristig konjunkturelle Auswirkungen hat, genügt als Zusammenhang nicht. Zum anderen betont das BVerfG, dass Kredite zur Bewältigung einer Notsituation für ein bestimmtes Haushaltsjahr aufgenommen und im selben verausgabt werden müssen; nach den Grundsätzen der Jährlichkeit und Jährigkeit ist eine Kreditaufnahme auf Vorrat ausgeschlossen. Der Plan der Ampel, ab 2023 „die Schuldenbremse einzuhalten“, also die Ausnahme nach Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG nicht mehr zu nutzen, gleichzeitig aber durch im Haushaltsjahr 2021 veranschlagte Schulden die finanziellen Spielräume zu erhöhen, ging daher nicht auf. Insgesamt wird deutlich, dass es bei Art. 115 Abs. 2 S. 6 GG um punktuelle Notsituationen geht. Strukturelle Herausforderungen, zu denen auch der Klimawandel zählt, fallen nicht darunter. Ich halte diesen Maßstab mit Blick auf den Wortlaut und die mit der Einführung der Schuldenbremse 2009 verfolgte Zielsetzung, die Staatsverschuldung wirksam zu begrenzen, für sehr plausibel. Würde die Ausnahmeklausel als „Blankoscheck“ verstanden, der den politischen Akteuren bei Gelegenheit außergewöhnlicher Notsituationen Kreditaufnahmen für strukturelle Herausforderungen ermöglichte, wäre die Schuldenbremse entwertet.
Hätte das BVerfG hier aber deshalb großzügiger sein müssen, weil es um den Klimaschutz ging, einen Belang der in Art. 20a GG selbst Verfassungsrang hat (so auf diesem Blog neben den aktuellen Beiträgen auch bereits Joachim Wieland)? Gegen Versuche, die Schuldenbremse interpretatorisch unter Verweis auf andere Verfassungsgüter zu relativieren, spricht bereits, dass sie ersichtlich als abschließende Regelung konzipiert ist. Vor allem aber sehe ich nicht, wo ein Konflikt zwischen der Schuldenbremse und der im Beschluss vom 24.03.2021 näher konturierten Verpflichtung des Staates zu aktivem Klimaschutz bestehen soll, der im Wege „praktischer Konkordanz“ aufgelöst werden müsste. Aus der verfassungsrechtlichen Klimaschutzverpflichtung folgt zwar durchaus, dass hierzu viel Geld in die Hand genommen werden muss. Das heißt aber nicht, dass dieses Geld durch Kredite aufgebracht werden müsste. In rechtlicher Hinsicht kann nicht davon gesprochen werden, dass für eine Finanzierung neuer, verfassungsrechtlich gebotener Aufgaben aus dem regulären Haushalt keine Spielräume bestünden. Es gibt zwar einige finanzwirksame Pflichtausgaben (insbesondere auch das Existenzminimum, was den Forderungen der FDP nach Kürzungen bei Sozialleistungen Grenzen setzt), abgesehen davon steht das Grundgesetz aber weder Ausgabenkürzungen, noch Steuererhöhungen entgegen.
Verfassungsrechtliche Vorentscheidungen und die Legitimitätsfrage
In politischer Hinsicht ist es allerdings schwierig, die für den Klimaschutz notwendigen massiven Ausgaben zu tätigen, wenn dies nur mit drastischen Kürzungen in anderen Bereichen oder Steuererhöhungen möglich ist. Die Kritik am Urteil, dass politische Handlungsspielräume übermäßig eingeschränkt werden, bleibt bedeutsam – aber sie betrifft die Schuldenbremse selbst. Während die von 1969 bis 2009 geltende Fassung des Art. 115 GG es noch zuließ, Schulden zur Finanzierung von Investitionen aufzunehmen, verordnet die gegenwärtige Regelung der Politik ein, will man in der Diktion der Kritiker bleiben, „hirnloses Sparen“. Abgesehen von der Ausnahme für Notsituationen wird die Nettoneuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des nominalen BIP begrenzt (für die Länder besteht nach Art. 109 Abs. 3 GG sogar ein vollständiges Verschuldungsverbot, was auch intrikate Fragen zu deren föderaler Selbstständigkeit aufwirft). Die Bewertung, ob es zur Lösung drängender Zukunftsaufgaben gerechtfertigt sein kann, eine gewisse Verschuldung einzugehen, ist den politischen Akteuren kraft einer Vorentscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers aus der Hand genommen.
Ob eine solche Vorentscheidung im Bereich der Staatsverschuldung sinnvoll ist, wird nun im politischen Raum wieder verstärkt diskutiert. Ich möchte im Folgenden im Anschluss an frühere Überlegungen darlegen, dass es hier nicht allein darum geht, ob man die Aufnahme neuer Staatsschulden in der Sache für sinnvoll hält oder nicht – für beides gibt es Argumente. Die Frage ist vielmehr gerade, warum diese Argumente nicht von den jeweiligen politischen Mehrheiten auf ihre Überzeugungskraft geprüft werden sollten, sondern auf der Ebene der Verfassung eine Vorentscheidung durch ein Verschuldungsverbot getroffen wird. Eine solche Beschränkung demokratischer Gestaltungsfähigkeit bedarf der Rechtfertigung. Dabei genügt es meines Erachtens nicht, darauf zu verweisen, dass die Einschränkungen selbst aus demokratischen Verfassungsgebungs- und -änderungsprozessen hervorgegangen sind – jedenfalls, wenn Verfassungsnormen wie hierzulande nicht in partizipativen Verfahren mit einem Referendum als Abschluss, sondern von den für die Gesetzgebung zuständigen Organen mit Zweidrittelmehrheit gesetzt werden. Der Ökonom Christian Breuer hat zur Schuldenbremse zurecht gefragt, „weshalb angenommen wird, dass einer einfachen Parlamentsmehrheit nicht zugetraut wird, eine nachhaltige Haushaltspolitik zu betreiben, eine Zweidrittelmehrheit der gleichen Parlamente aber das Interesse der kommenden Generationen vertreten könne“. Die Idee von Verfassungsbindungen der Gesetzgebung ist nun gerade, dass der einfachen Parlamentsmehrheit nicht alles zugetraut wird – man denke nur an die Grundrechte. Um rechtlich wirksam zu werden, müssen diese Bindungen selbst durch ein politisches Verfahren in die Welt kommen. Trotzdem geht es nicht darum, dass dieses Verfahren als solches bessere Ergebnisse bringt als die reguläre Gesetzgebung. Vielmehr bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, warum einer einfachen Parlamentsmehrheit gewisse Entscheidungen nicht zugetraut werden, also aus welchen Gründen es Begrenzungen bedarf. Darüber lässt sich natürlich streiten. Aber es geht bei diesem Streit nicht um die richtige Sachpolitik, sondern um Konzeptionen, welchen Grenzen diese unterliegen sollte.
Problematik der Schuldenbremse in ihrer gegenwärtigen Form
Inwieweit lässt sich die verfassungsrechtliche Vorentscheidung für eine strikte Begrenzung der Neuverschuldung vor diesem Hintergrund problematisieren? Sie unterscheidet sich jedenfalls deutlich von der hierzulande kaum umstrittenen Bindung der Gesetzgebung an Grundrechte. Diese beruht auf der Überzeugung, dass alles Recht den einzelnen Menschen gegenüber zu rechtfertigen sein muss, und dass hierfür Möglichkeiten der Beteiligung am demokratischen Prozess nicht genügen. Aus den traditionsreichen philosophischen Ideen der Würde, Freiheit und Gleichheit werden konkrete Rechte entwickelt, die im Rahmen der Verfolgung von Gemeinwohlzielen im politischen Prozess geachtet werden müssen. Dagegen wird mit der Schuldenbremse auf höherer Ebene ein Stück weit vorgegeben, worin das Gemeinwohl selbst besteht: Staatsverschuldung oberhalb von 0,35 % des BIP ist unbedingt zu vermeiden; mit anderen Zielsetzungen wie der Sicherung hoher Beschäftigung, einer Verbesserung der Infrastruktur oder eben dem Klimaschutz kann es keine Kompromisse geben. Die in einer Demokratie zentrale politische Aushandlung zwischen unterschiedlichen Zielsetzungen und Interessen fällt partiell zugunsten der Vorfestlegung einer als richtig erkannten Wirtschaftspolitik auf höherer Ebene aus. Die Vorstellung, dass es wirtschaftspolitisch richtig ist, fast vollständig auf Staatsverschuldung zu verzichten, wird nun auch in der Ökonomie keineswegs einhellig geteilt. Verschuldungsverbote sind von konservativen und neoliberalen Ökonomen vielfach gefordert werden; der Keynesianismus sieht dagegen in der Staatsverschuldung positive Potentiale. Vor diesem Hintergrund ist in der Aufnahme der Schuldenbremse in das Grundgesetz 2009 ein deutlicher Bruch mit der früher so betonten wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes zu sehen.
Der Schuldenbremse liegen allerdings nicht nur bestimmte wirtschaftspolitische Auffassungen zugrunde, sondern auch eine gerechtigkeitstheoretische Erwägung, die im Ansatz durchaus als Rechtfertigung einer Bindung der Gesetzgebung taugt: Ausweislich der Begründung des verfassungsändernden Gesetzes 2009 soll eine Belastung nachfolgender Generationen durch Zins und Tilgung vermieden werden. Dieses Verständnis von Generationengerechtigkeit ist freilich einseitig. Schon bei isolierter Betrachtung der Staatsschulden lässt sich ihm entgegenhalten, dass eine Schuldenfinanzierung von Investitionen – anders als von Konsumausgaben – gerade generationengerecht ist (vgl. eingehend hier). Wenn nachfolgende Generationen von heute errichteten Infrastrukturen etc. profitieren, erscheint es angemessen, sie im Sinne einer „goldenen Regel“ über Schulden an der Finanzierung zu beteiligen. Am Gesamteindruck des langfristigen Nutzens ändert es auch nichts, dass Investitionen gelegentlich fehlschlagen und sich Präferenzen verschieben können. Noch fragwürdiger wird das Generationengerechtigkeitsargument, wenn die Frage, wie wir verantwortlich gegenüber nachfolgenden Generationen handeln, umfassend betrachtet wird. Die zentrale Herausforderung ist hier, dass wir es durch eine Transformation unserer Wirtschaftsweise schaffen, eine gravierende Verschlechterung der Lebensbedingungen infolge eines Temperaturanstiegs von mehr als 1,5 bis 2°C zu verhindern. Wenn wir hier versagen, kann es uns nicht entlasten, dass wir gesunde Staatsfinanzen hinterlassen haben.
Gegen das Anliegen, nachfolgende Generationen vor Belastungen durch die Staatsverschuldung zu schützen, ist also an sich nichts einzuwenden. Problematisch ist aber, dass dieser spezifischen politischen Zielsetzung in Art. 115 Abs. 2 und 109 Abs. 3 GG absoluter Vorrang vor allen anderen eingeräumt wird. Gewisse absolute Begrenzungen lassen sich zwar mit Blick auf die Vermeidung gravierender Stabilitätsrisiken oder eines völligen Leerlaufens der Haushaltsautonomie künftiger Parlamente (vgl. zur Frage einer sich daraus ergebenden Grenze für Gewährleistungen für andere Staaten die ESF-Entscheidung des BVerfG, Rn. 134-135) gut begründen. Mit Blick auf diese Zielsetzung dürfte aber eine deutlich höhere Verschuldung akzeptabel sein.
Wie könnte eine Verfassungsänderung aussehen?
Der Clou der verfassungsrechtlichen Verfestigung besteht darin, dass eine Reform nur mit breiten Mehrheiten zu machen ist. Eine Änderung des unbefriedigenden Status quo setzt voraus, dass sich die politischen Akteure der Ampel und der CDU/CSU zu einem Kompromiss durchringen. Eine Komplettstreichung ist hier kein realistisches Ziel. Die durch das Urteil entstandene Lage könnte aber über die politischen Lager hinweg die Einsicht wachsen lassen, dass es nicht klug war, schuldenfinanzierte Investitionen weitgehend auszuschließen. Dementsprechend könnte man das – unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit sehr viel überzeugendere – Verbot der Verschuldung zur Finanzierung gegenwärtiger Konsumausgaben bekräftigen, zugleich aber eine Verschuldung zu investiven Zwecken in Grenzen zulassen. Wo diese Grenzen im Einzelnen zu ziehen sind, wäre noch zu diskutieren. Einen guten Ausgangspunkt bietet der Vorschlag der Grünen-Bundestagsfraktion, eine Verschuldung zu investiven Zwecken in Höhe von 1 % des BIP zuzulassen, solange das Maastricht-Kriterium eines Schuldenstands von unter 60 % des BIP eingehalten ist. Wenn man sich nicht auf eine allgemeine Regelung einigen kann, wäre es denkbar, speziell für die drängende Aufgabe des Klimaschutzes, und vielleicht auch für Infrastrukturprojekte, schuldenfinanzierte Investitionen durch ein unmittelbar im Grundgesetz verankertes Sondervermögen nach Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr (Art. 87 Abs. 1a GG) zu ermöglichen. So sehr das Urteil kurzfristig Schwierigkeiten auslöst, könnte es doch am Beginn eines produktiven Nachdenkens über die Schuldenbremse stehen.