Katalysator der Polykrise
Das Staatsschuldenrecht und seine verfassungsgerichtliche Überprüfung als Hindernis politischer Gestaltungskraft
Am 15. November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum ersten Mal über die Vorschriften der Schuldenbremse im Grundgesetz entschieden. Das Gericht erklärte das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher nichtig. Das nun ergangene Urteil verdeutlicht erneut, dass die aktuelle Ausgestaltung des Staatsschuldenrechts in eine finanzrechtliche, vor allem aber finanzpolitische Sackgasse führt. So setzt sich im Urteil durch die restriktive Auslegung der Schuldenbremse die Entpolitisierung des parlamentarischen Haushalts- und Budgetrechts, die „Königsdisziplin des Parlaments“, fort. Daneben beschränkt das Urteil auf erhebliche Art und Weise die Handlungsfähigkeit des Staates und versetzt auch der Wehrhaftigkeit der Demokratie einen Dämpfer. Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen – obgleich dieser Gedanke vom BVerfG erst vor zwei Jahren im sogenannten Klima-Beschluss prominent angebracht wurde.
Zwischen politischer und gerichtlicher Verantwortung
Die ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit bewerten das Urteil teilweise als konsequente Ausbuchstabierung der Idee, die der Schuldenbremse zugrunde liegt. Andererseits wird auch das Potenzial des Urteils hervorgehoben, politische Dynamiken für eine Verfassungsänderung anzuschieben. Beiden Ansichten liegt die Annahme zugrunde, dass die Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes, beschlossen im Februar 2022 mit rückwirkender Geltung ab dem 1. Januar 2021, von vornherein klar gewesen ist und dass das Gericht faktisch gezwungen war, den Fall so zu entscheiden und zu begründen, wie es dies nun getan hat. Demnach läge die vollständige Verantwortung für die faktischen Konsequenzen, die sich aus dem Urteil ergeben, beim Verfassungsgeber – und damit der Politik.
Dies ist schon deswegen abwegig, weil – wie Doris König bei der Urteilsverkündung selbst sagte – das Gericht terra incognita betrat, als es nun zum ersten Mal die Vorschriften der Schuldenbremse, insbesondere Art. 109 und 115 GG interpretierte. Abgesehen davon beinhaltet das Urteil weitgehende Feststellungen, die für die bloße Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushaltsgesetzes nicht strikt notwendig gewesen wären und daher die eigenständige Bedeutung der Interpretation des Gerichts hervortreten lassen. Während der Vorwurf des haushälterischen Taschenspielertricks in Hinblick auf die „Umgehung“ der Schuldenbremse durch den rückwirkenden Nachtragshaushalt politisch sicherlich gewisse Überzeugungskraft besitzt, trifft das auf die rechtliche Einordnung nicht zu. Herauszuarbeiten, welche Haushaltsmanöver eine Umgehung, ein unzulässiges „Austricksen” der Schuldenbremse darstellen, ist genuine Aufgabe des Gerichts, das den Anwendungsbereich der Vorschriften nun konkretisiert und restriktiv gestaltet hat. Lediglich auf die Verantwortung des Verfassungsgebers, der die Schuldenbremse selbst im Grundgesetz verankert hat, zu verweisen, greift also zu kurz.
Nachträgliche Symptombekämpfung statt präventiver Krisenabwendung
Die Systematik der Schuldenbremse hält den Gesetzgeber dazu an, politische Ziele im Regelfall ohne Schulden zu erreichen. Dabei ist – aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht – die Ausgabe von Staatsanleihen ein so sinnvolles wie übliches Instrument zur Staatsfinanzierung. Umsichtige Finanzpolitik strebt keine Schuldenfreiheit, sondern ein vernünftiges Maß an Schulden an – im Gegensatz zur derzeitigen Ausgestaltung der Schuldenbremse, welche dem Staat nur in Ausnahmefällen Kreditaufnahmen in nennenswertem Umfang gestattet. Diese Ausnahmefälle befinden sich in Art. 115 II 6 GG. Demnach kann die Schuldenbremse im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, ausgesetzt werden.
Das BVerfG verlieh dieser Voraussetzung in seinem Urteil Konturen und stellte, bis auf die Einschätzung der erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage, alle Merkmale unter vollständige verfassungsgerichtliche Kontrolle (Rn. 115). Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen immer nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf. Ein aktives und präventives Vorgehen gegen vorhersehbare Krisen ist ohne Kredite zu tätigen. Die Schuldenbremse zwingt den Staat mithin gewissermaßen, Krisen eskalieren zu lassen, bevor Maßnahmen per Kreditaufnahme getätigt werden dürfen. Im Hinblick auf die Klimakrise entpuppt sich die Gefahr dieser Logik. Auf eine „Naturkatastrophe” im Sinne des Art. 115 II 6 GG dürfte der Staat mit Kreditaufnahmen reagieren. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet.
Ein im Ergebnis effizienteres Vorgehen hatte bereits das BVerfG selbst in seinem Klima-Beschluss von 2021 angemahnt. Unter dem Stichwort des intertemporalen Freiheitsschutzes nahm das Gericht damals erstmals eine intergenerationelle Perspektive ein und schrieb vor, dass Freiheitschancen der künftigen Generation durch engagierte Klimapolitik in der Gegenwart erhalten werden müssen. Der Zweite Senat schien nun nicht bereit zu sein, an die grundsätzlichen Erwägungen des Ersten Senats aus 2021 anzuknüpfen. Berücksichtigt man, dass das aktuelle Urteil sich mit Ausgaben zur Bekämpfung der Klimakrise auseinandersetzt, wäre es nicht abwegig gewesen, eine Auslegung des Staatsschuldenrechts im Lichte des Art. 20a GG vorzunehmen, wie auch Lennart Starke vorschlägt.
Langfristige Transformation versus Jährigkeit der Schuldenbremse
Neben der Auslegung der Notlagenklausel gem. Art. 115 II 6 GG beschäftigte sich das Gericht weiterhin damit, inwiefern allgemein anerkannte Grundsätze der Haushaltspolitik Teil des grundgesetzlichen Staatsschuldenrechts sind. Hervorzuheben ist dabei aus einer finanzpolitischen Perspektive der Grundsatz der Jährigkeit. Zunächst hielt das BVerfG fest, dass die Jährigkeit vollständig überprüfbarer Teil des Staatschuldenrechts im Grundgesetz ist (Rn. 155), welche nur in eng begrenzten Ausnahmefällen durchbrochen wird (Rn. 160). Dieser Grundsatz zwingt den Gesetzgeber und die Exekutive, in einem bestimmten Jahr vorgesehene Kreditermächtigungen auch vor Ablauf eben dieses Jahres tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Andernfalls entfällt die Ermächtigung ersatzlos. Sinn und Zweck dieses Grundsatzes sei es, eine „Lastenverschiebung in die Zukunft” zu verhindern (Rn. 162). Konkret soll verhindert werden, dass Notlagen benutzt werden, um den haushaltspolitischen Spielraum kommender Jahre über einen “Vorrat” an Kreditermächtigungen zu erweitern.
Die politische Übersetzung dieses Gedankens lieferte kurz nach der Urteilsverkündung sodann auch der ehemalige Kanzleramtsminister Helge Braun, indem er festhielt, dass es wichtig sei, den kommenden Generationen genügend finanziellen Spielraum zu belassen, um unter anderem die Anpassung an den Klimawandel zu bewältigen. Auch hier wünschte man sich, dass die Erwägungen des Ersten Senats aus dem Jahr 2021 Eingang in politische und verfassungsrechtliche Reflexionsprozesse nehmen würden. Es bleibt nämlich zu bezweifeln, wie sinnvoll eine Fiskalregel ist, die den Gesetzgeber daran hindert, die Klimakrise in der Gegenwart mithilfe von Krediten adäquat zu bekämpfen, lediglich um kommenden Generationen „finanziellen Spielraum” für die Anpassung an eben jenen nicht hinreichend eingedämmten Klimawandel zu belassen.
Bemerkenswert ist die Feststellung des Gerichts, dass „nicht ersichtlich” sei, warum der Gesetzgeber, um Planungssicherheit für langfristige private Investitionen zu gewährleisten, nicht einfach jährlich wiederholt die Feststellung einer Notlage im Sinne des Art. 115 II 6 GG vornehmen könne (Rn. 212). An dieser vermeintlich kleinen Bemerkung wird überaus deutlich, wieso ein umfassendes Staatsschuldenrecht in der Verfassung kritikwürdig ist. Das Verfassungsgericht wird gezwungen, sich zu Fragen zu verhalten, die in ihrer Essenz nicht rechtlich sind und daher in den Bereich der politischen Entscheidungsfindung fallen sollten.
Strenge Rechtsfolge der Nichtigkeit des Gesetzes
Erwähnung verdient darüber hinaus die Rechtsfolge, die das Gericht anordnete. So erklärte es das Nachtragshaushaltsgesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher nichtig. Zwar ist die regelmäßige Folge einer Unvereinbarkeit eines einfachen Gesetzes mit dem Grundgesetz die ex-tunc-Nichtigkeit der jeweiligen Norm. In Ausnahmefällen kann das BVerfG die in Frage stehende Norm aber auch nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklären und seine Geltung in der Vergangenheit unberührt lassen. In solchen Fällen können dem Gesetzgeber Handlungspflichten für die Zukunft auferlegt werden.
Eine sogenannte Unvereinbarkeitserklärung hat das BVerfG bereits in mehreren steuer- und beitragsrechtlichen Fällen vorgenommen. So kann das Gericht insbesondere dann eine Unvereinbarkeitserklärung aussprechen, wenn die Nachteile des sofortigen Außerkrafttretens gegenüber den Nachteilen überwiegen, die mit der vorläufigen Weitergeltung verbunden wären (BVerfGE 149, 222, Rn. 151 und Verweis auf ständige Rechtsprechung). Insbesondere wenn eine rückwirkende Änderung der Finanzlage des Bundes in Frage stand, hat das Gericht eine solche Abwägung zugunsten des Bundes getroffen, zum Beispiel im Fall des Existenzminimums in 1992. In diesem Urteil führte die verfassungswidrige Bemessung des steuerlichen Existenzminimums nicht zu einer ex-tunc-Nichtigkeit des Gesetzes. Das Gericht begründete dies explizit mit der andernfalls erheblich gefährdeten staatlichen Finanzplanung sowie der Bedrohung der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates (BVerfGE 87, 153). Dies geschah wohlgemerkt in einer Konstellation, in der die Bürger:innen einen unmittelbaren finanziellen Vorteil aus der ex-tunc-Nichtigkeit erhalten hätten, da das zu niedrig bemessene Existenzminimum die verfassungsrechtlichen Rechte der Steuerpflichtigen verletzt. Das BVerfG war in diesem Fall also sogar bereit, die Verletzung der Rechte Einzelner hinzunehmen, um die Handlungsfähigkeit des Staates nicht zu gefährden.
Im Hinblick auf nach dem Klima-Beschluss zu sichernde Freiheitschancen wäre eine ähnliche Argumentation möglich gewesen. Sicherlich muss das Verfassungsgericht die vergangenen, sich als verfassungswidrig herausstellenden Handlungen der anderen Gewalten nicht um jeden Preis durch eine Unvereinbarkeitserklärung retten. Jedoch hätte sich eine stärkere Beschäftigung mit diesem Gedanken (das Urteil beinhaltet nur den Ergebnissatz, dass die Voraussetzungen nicht vorlägen, Rn. 231) durchaus gelohnt, betrachtet man das politische Chaos, das aus der Nichtigkeit folgt und das, wie im Folgenden dargestellt wird, auch demokratiefeindliche Akteure auf den Plan rufen könnte.
Haushalte unter dem Damoklesschwert rechtspopulistischer Normenkontrollanträge
Die restriktive Handhabung der Schuldenbremse seitens des Gerichts wird die Politik vor ein weiteres Problem stellen, dem bisher nicht allzu viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Der Aufstieg der rechtsextremen AfD wird in anderen Politikbereichen oftmals thematisiert, er wird über kurz oder lang aber auch das Haushaltsrecht erreichen. Wie auf Bundesebene (Art. 93 I Nr. 2 GG) ist auch in vielen Landesverfassungen (z. B. Art. 81 I Nr. 2 LV Sachsen) vorgesehen, dass ein Viertel der Mitglieder des jeweiligen Landtags für abstrakte Normenkontrollen antragsberechtigt sind; in Thüringen reicht sogar ein Fünftel oder eine Fraktion, vgl. Art. 80 I Nr. 4 LV Thüringen. Durch die restriktive Handhabung der Schuldenbremse wird – wenn sich der derzeitige Aufstieg der AfD in den Wahlumfragen fortschreibt, was durch einen drohenden Sparkurs in der öffentlichen Daseinsvorsorge noch verstärkt werden könnte – in vielen Landtagen die AfD die rechtliche Möglichkeit haben, die jeweiligen Haushaltsgesetze überprüfen zu lassen. Dass grundlegender Bestandteil der politischen Strategie der AfD ist, demokratische Prozesse zu destabilisieren und den parlamentarischen Prozess lahmzulegen, ist mittlerweile mehrfach bewiesen. Besonders schwer wiegt dies im Bereich der Haushaltspolitik nun, da das Urteil des BVerfG Auswirkungen auf die Stabilität der Haushaltsführungen einer großen Anzahl von Bundesländern hat, deren genaues Ausmaß nicht sicher vorherzusehen ist. Wie das Gericht an mehreren Stellen im Urteil betont (z. B. Rn. 109, 140, 157 und 164), binden die Schuldenbremse aus Art. 109 GG und die nun zweifelsfrei Verfassungsrang besitzenden Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit sowie der Vorherigkeit auch die Länder umfassend. Es wäre ein Leichtes für die AfD, diese Rechtsunsicherheit politisch auszuschlachten, sich selbst als Bewahrer des Grundgesetzes zu stilisieren und die demokratischen Parteien als rechtsstaats- und demokratiefeindlich zu denunzieren.
Auf Bundesebene hat zudem Unionsfraktionsvorsitzender Friedrich Merz nach eigenen Angaben bereits ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Auswirkungen des Urteils auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) prüfen soll, auf den die Gaspreisbremsen maßgeblich gestützt wurden. Auch die Bundesregierung geht mittlerweile davon aus, dass der WSF vom Urteil betroffen ist. In rechtlicher Hinsicht spricht vieles dafür. Karlsruhe hat den Grundsatz der Jährigkeit in den Rang eines allgemeinen Verfassungsprinzips im Staatsschuldenrecht gehoben (Rn. 162) und die Möglichkeit, von diesem Grundsatz abzuweichen, äußerst restriktiv angelegt (Rn. 161). Weiterhin stellt das Gericht explizit fest, dass die Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit auch für unselbständige Sondervermögen gelten (Rn. 174).
Während das Urteil in erster Linie die Schuldenbremse sowie das gesamte Staatsschuldenrecht als verbindliches Recht stärken möchte, wird es nun dazu führen, dass der Bundestag für 2023 erneut die Notlagenklausel aus Art. 115 II 6 GG bemüht, um die bisherigen unselbständigen Sondervermögen wie den WSF zu retten. Weiterhin erkläre Bundesfinanzminister Lindner am 20. November eine Haushaltssperre im Sinne des § 41 Haushaltsordnung. Die aus einer neuerlichen Erklärung der Notlage gem. Art. 115 II 6 GG folgenden Haushaltsmanöver könnten dann wiederum in Karlsruhe landen – ein politisches sowie rechtliches Verantwortungschaos, das auch dem BVerfG nicht gefallen kann.
Die „höhere Weisheit der Schuldenbremse” ist realitätsfremd
Es zeigt sich also, dass die „höhere Weisheit der Schuldenbremse”, kurz vor dem Urteil noch von Bundesfinanzminister Lindner gepriesen, in der Praxis zu erheblichen Einschränkungen der Effektivität der Politik führt, da sie ein reaktives Handeln der Politik fördert und ein präventiv-aktives Handeln erschwert. Dies gilt umso mehr, betrachtet man die wirtschaftswissenschaftliche Fragwürdigkeit der Annahmen, die der Schuldenbremse zugrunde liegen: Staatsverschuldung ist kein um jeden Preis zu bekämpfendes Übel, sondern ein gängiges Instrument der Staatsfinanzierung. Die Schuldenbremse ist eine im Grundgesetz festgeschriebene Form des Kardinalfehlers, den staatlichen Handlungsspielraum aus fehlgeleiteter Angst vor Staatsverschuldung zu beschränken. In der Praxis führt diese Beschränkung vor allem zu einem