Seenotrettung vor dem EuGH
Seenotrettungsorganisationen wehren sich gegen die Festsetzung ihrer Schiffe
Schlagzeilen über zivile Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer sind in letzter Zeit spärlich gesät. Der Mittelmeeranrainer Italien übt sich aktuell, so will man jedenfalls meinen, in administrativer und strafrechtlicher Zurückhaltung gegenüber der zivilen Flotte. Die Zeit der geschlossenen Häfen ist vorbei. Rom weist NGO-Schiffen regelmäßig einen „sicheren Ort“ zu, an dem aus Seenot gerettete Migrant:innen ausgeschifft werden können, bevor die Schiffe wieder in See stechen. Das Strafverfahren gegen die IUVENTA-Crew hat das Strafgericht in Trapani aktuell aufgrund von Verfahrensfehlern ausgesetzt. Auch das Instrument der Hafenstaatkontrolle, mit dem Rom NGO-Schiffe seit 2020 regelmäßig festsetzte, wird derzeit wesentlich seltener als in den letzten Jahren angewendet. Dagegen hatten die NGOs Sea-Eye und Sea-Watch noch 2020 vor italienischen Verwaltungsgerichten geklagt. In den von Sea-Watch betriebenen Verfahren hatte das Regionale Verwaltungsgericht Sizilien dem EuGH zwei Vorabentscheidungsersuchen über die Auslegung der europäischen Vorschriften zur Hafenstaatkontrolle vorgelegt. Anfang August erging nun nach rund 1,5 Jahren ein auf vielen Ebenen relevantes EuGH-Urteil. Der Gerichtshof präzisiert darin nicht nur die europarechtlichen Vorschriften zur Hafenstaatkontrolle. Er trägt auch zur Auslegung der einschlägigen seevölkerrechtlichen Normen bei und grenzt die Verantwortungsbereiche von Flaggen- und Hafenstaaten voneinander ab. Außerdem stärkt er, wenn auch nur in begrenztem Umfang, die Rechtsposition von zivilen Seenotrettungsorganisationen.
Die Vorgeschichte des Verfahrens
Hintergrund des Verfahrens vor dem EuGH ist die italienische Politik der geschlossenen Häfen und die darauffolgende Politik der Hafenstaatkontrollen. Unter der Ägide des ehemaligen italienischen Innenministers Salvini führte dieser 2018 die sogenannte Politik der geschlossenen Häfen ein mit der Folge, dass gerettete Menschen an Bord von NGO-Schiffen tagelang auf engstem Raum ausharren mussten, bis das Schiff einen Hafen anlaufen durfte. Selbst einem Schiff der italienischen Küstenwache mit 177 aus Seenot geretteten Migrant:innen an Bord verbot der Innenminister die Einfahrt in einen italienischen Hafen. 2019 folgte dann ein bußgeldbewährtes Verbot, mit dem NGO-Schiffe davon abgehalten werden sollten, italienische Häfen anzusteuern. In Erinnerung ist sicherlich die medial intensiv begleitete Einfahrt der Sea-Watch Kapitänin Carola Rackete in den Hafen von Lampedusa im Juni 2019 nach einem rund zweiwöchigen Stand-off. Das Strafverfahren gegen die Kapitänin hat das italienische Gericht mittlerweile rechtskräftig eingestellt (vgl. hier und hier). Diese (möglicherweise zu viel Medienwirksamkeit verursachende) Politik der geschlossenen Häfen, die ihren Höhepunkt während der Anfangszeit der Covid-19 Pandemie fand, mündete schließlich ab 2020 in eine neue italienische Politik der Hafenstaatkontrollen. Im Gegensatz zum geschlossenen Hafen verhindert das Instrument der Hafenstaatkontrolle nicht die Hafeneinfahrt, sondern die Hafenausfahrt von NGO-Schiffen.
Die Rechtsgrundlagen für Hafenstaatkontrollen entstammen sowohl dem Europa- als auch dem (See-)Völkerrecht. Die Gewährleistung „der Sicherheit auf See“ (vgl. Art. 94 Absatz 1 und 3 des UN-Seerechtsübereinkommens) aber auch Belange des Meeresumwelt- und Arbeitsschutzes fallen vordergründig in den Jurisdiktionsbereich des Flaggenstaates. Das Instrument der Hafenstaatkontrolle stellt eine Ausnahme vom Grundsatz der Verantwortlichkeit des Flaggenstaates zur Kontrolle seiner Schiffe dar. Im Wege der Hafenstaatkontrolle dürfen sogenannte „unternormige Schiffe“, also z.B. solche Schiffe, die rechtlich normierte Sicherheitsstandards nicht erfüllen, nach Feststellung der entsprechenden Mängel durch den kontrollierenden Hafenstaat festgehalten werden, bis die Mängel beseitigt sind. Das Regime der Hafenstaatkontrolle beruht in Europa auf einer Absprache von 27 Staaten in Form des Pariser Memorandum of Understanding (Paris MoU). Für EU-Mitgliedstaaten gilt das Rechtsregime der Hafenstaatkontrolle in Form der Richtlinie 2009/16/EG in den geänderten Fassungen.
Auf Grundalge dieser Regelungen hat Italien ab 2020 systematisch NGO-Schiffe aus dem Verkehr gezogen (hier eine Übersicht zu allen Festsetzungen für die Jahre 2020 und 2021). Neben kleinteiligen technischen Mängeln beanstandeten die italienischen Behörden gegenüber fast allen NGOs, dass ihre Schiffe nicht als Rettungsschiffe klassifiziert seien und dass sich in Anschluss an Rettungsoperationen mehr Menschen an Bord befunden hätten, als das Schiffssicherheitszeugnis des Flaggenstaates als zulässig ausweise. Den italienischen Behörden kam bei der Kontrolle der zivilen Rettungsschiffe dabei gelegen, dass das Rechtsregime der Hafenstaatkontrolle neben einer (dem Risikoprofil der Schiffe entsprechenden) Kontrolle alle 10-12 Monate auch zusätzliche Überprüfungen auf Grundlage bestimmter Faktoren vorsieht, z.B., wenn ein Schiff so betrieben wurde, dass von ihm Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen (sog. „unerwartete Faktoren“ gem. Art. 11 lit. b der Richtlinie). Dieses Einfallstor für die zusätzliche Durchführung von Hafenstaatkontrollen führte in den letzten Jahren – trotz flaggenstaatlicher Interventionen zugunsten der betroffenen Schiffe – zu einer Endlosschleife von Hafenstaatkontrollen und darauffolgenden Festsetzungen mit dem Ergebnis, dass phasenweise kein einziges NGO-Schiff ausfahren durfte.
Das Urteil des EuGH
In Italien klagten ab 2020 die Organisationen Sea-Eye und Sea-Watch, sowohl in Eil- als auch in Hauptsacheverfahren auf Nichtigerklärung der Festhaltebescheide vor italienischen Verwaltungsgerichten. In zwei der von Sea-Watch betriebenen Verfahren gegen die Festsetzung der Schiffe „Sea-Watch 3“ und „Sea-Watch 4“ legte das sizilianische Verwaltungsgericht (Tribunale amminstrativo regionale per la Sicilia, TAR Sicilia) dem EuGH mehrere, die Auslegung der Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle betreffende Fragen zur Vorabentscheidung vor.
In der verbundenen Rechtssache C-14/21 und C-15/21 stellte der EuGH nun in seinem Anfang August 2022 veröffentlichten Urteil zunächst zu Lasten der NGOs fest, dass die Richtlinie zur Hafenstaatkontrolle nicht nur auf Schiffe der kommerziellen Schifffahrt, sondern auch in Bezug auf private Seenotrettungsschiffe anwendbar sei. Eine andere Feststellung des EuGH in Bezug auf eine zu hohe Personenanzahl an Bord eines Schiffes nach einer Rettungsaktion fällt hingegen unmittelbar zu Gunsten der NGOs aus: Italien hatte in der Vergangenheit bemängelt, dass sich mehr (gerettete) Menschen als per Zeugnis zugelassen an Bord der NGO Schiffe befunden hätten. Dieser Umstand ist außer Acht zu lassen, soweit es um eine Bestimmung des Internationalen Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS-Übereinkommen) geht, gegen die möglicherweise verstoßen wurde (Rn. 107-108). In dieser Hinsicht rezipiert der EuGH die gleichlautende Vorschrift des SOLAS-Übereinkommens (Art. IV lit. b) und stärkt, an dieser Stelle des Urteils, die Rechtsposition der NGOs.
Die weiteren Vorlagefragen betreffen im Wesentlichen die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen Befugnisse des Hafenstaates. Die dazugehörigen Ausführungen des EuGH können aus Gründen der Übersichtlichkeit in diesem Blogbeitrag nur verkürzt wiedergegeben werden.
In Bezug auf die Häufigkeit der Durchführung von Hafenstaatkontrollen betont er, dass allein der Umstand, dass sich mehr Menschen als per Zeugnis zugelassen, an Bord befunden hatten, nicht dazu berechtige, das Schiff einer zusätzlichen Inspektion zu unterziehen. Eine solche Auslegung der entsprechenden Regelung der Richtlinie sei geeignet, die wirksame Durchführung der Pflicht zur Seenotrettung zu behindern und sei daher nicht zulässig (Rn. 118). Allerdings kann, je nach Einzelfall, eine zusätzlich (also außer der Reihe) stattfindende Überprüfung der Schiffe auf Grundlage „detaillierter rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte“ erfolgen. Insoweit relativiert der EuGH an dieser Stelle die Rechtsposition der Seenotrettungs-NGOs und ihrer Flaggenstaaten. Küstenstaaten müssten jedoch belastbare Anhaltspunkte vorliegen, die eine Gefahr für Rechtsgüter (u.a. die Sicherheit an Bord oder die Umwelt) unter Berücksichtigung der Betriebsbedingungen des Schiffes belegen können (Rn. 118-126).
Eine der zentralen Aussagen des Urteils betrifft die Anerkennung von flaggenstaatlichen Zertifikaten. Die Schiffe von Sea-Watch und Sea-Eye fahren aktuell unter deutscher Flagge und sind in Deutschland als Frachtschiffe registriert. Das deutsche Schiffssicherheitsrecht unterteilt Schiffe in verschiedene Schiffskategorien. Je nach Schiffskategorie unterscheiden sich die einzuhaltenden (Sicherheits-)Standards. Im Rahmen der Hafenstaatkontrollen hatte Italien nun regelmäßig bemängelt, dass NGO-Schiffe lediglich als Frachtschiff und nicht – entsprechend ihrer Tätigkeit – als Rettungsschiff registriert seien und daher ohne entsprechende Zeugnisse ausführen. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass das deutsche Recht keine Rechtsgrundlagen für eine Registrierung als Rettungsschiff vorsieht. Der Rechtsauffassung Italiens ist der EuGH nun entgegengetreten. Ein Hafenstaat darf im Kontext von Hafenstaatkontrollen nicht bemängeln, dass NGO-Schiffe nicht über Zeugnisse entsprechend ihrer tatsächlich ausgeübten (Rettungs-)Tätigkeit verfügten. In diesem Sinne stärkt der EuGH die Rechtsposition der NGOs und die des Flaggenstaates, wonach der Flaggenstaat über die Gültigkeit von Zeugnissen und Zertifizierungen entscheide (Rn. 139). Ein weiterer Aspekt des Urteils betrifft die Frage, welche konkreten Mängel dazu berechtigen, ein Schiff festzuhalten. Hier stellt der EuGH die Voraussetzungen der „Seeuntüchtigkeit des Schiffes in Anbetracht seiner gemeldeten oder tatsächlichen Tätigkeit“ auf sowie die Notwendigkeit, dass eine „Gefahr für die Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt offenkundig vorliegen müsse“ (Rn. 146 ff.). Schließlich räumt der EuGH dem Hafenstaat das Recht ein, der NGO Abhilfemaßnahmen, u.a. im Bereich der Sicherheit und der Meeresumwelt, aufzuerlegen. Diese Abhilfemaßnahmen müssen dabei verhältnismäßig sein und auf Grundlage einer loyalen Zusammenarbeit mit dem Flaggenstaat ergehen (Rn.150 ff.).
Relevanz des Urteils
Die Entscheidung des EuGH ist aus mehreren Gründen beachtenswert.
Das EuGH-Urteil beantwortet zunächst nur die Vorlagefragen in einem konkreten Rechtsstreit vor dem TAR Sicilia. Das TAR Sicilia muss nun die von Sea-Watch geführten Verfahren wieder aufgreifen, (nachträglich) über die Rechtmäßigkeit der Festhalteanordnungen gegenüber der beiden Sea-Watch Schiffe entscheiden und dabei die vom EuGH formulierte Auslegung der Richtlinie anwenden. Auch Sea-Eye hatte gegen zwei Festsetzungen ihres ehemaligen Schiffes „Alan Kurdi“ geklagt. Auch diese zwei Verfahren hatten italienische Gerichte bis zur EuGH-Antwort ausgesetzt. Jenseits dieser vier konkreten Verwaltungsstreitigkeiten hat das Urteil sicherlich auch Auswirkungen auf den zukünftigen Umgang italienischer Behörden mit Schiffen der zivilen Flotte, die die Rechtsprechung des EuGH beachten müssen.
In rechtlicher Hinsicht hat der EuGH nicht nur Bestimmungen der Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle, sondern auch, und das ist bemerkenswert, völkerrechtliche Bestimmungen im Kontext von Seenotrettung ausgelegt und damit völkerrechtlichen Regelungen mehr Kontur verliehen. Dies gilt speziell für die Pflicht zur Seenotrettung (Rn. 118) aber auch in Bezug auf die Aufteilung von völkerrechtlichen Hoheitsbefugnissen zwischen Flaggen- und Hafenstaaten. Dieses Spannungsverhältnis versucht er mit Mitteln des europarechtlichen Prinzips der loyalen Zusammenarbeit zu lösen. Ob die vom EuGH gewählte Auslegung der Richtlinie in Zukunft ein gangbarer und vor allem konfliktarmer Weg im Verhältnis zwischen Flaggenstaat und Hafenstaat darstellt, hängt mit Sicherheit auch von den jeweiligen politischen Mehrheiten in den jeweiligen Ländern ab. In Italien stehen im September 2022 wieder Parlamentswahlen an.
Blickt man auf die Rechtsposition von Seenotrettungsorganisationen, so ist die EuGH-Entscheidung zwar zu Lasten der Organisationen ergangen, soweit festgestellt wird, dass auch Schiffe der Seenotrettungsorganisationen vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sind. Gleichwohl trägt die Entscheidung hoffentlich zu mehr Rechtssicherheit im Umgang mit Festsetzung bei, da der EuGH darin einen Rechtsstandard festschreibt, dessen Einhaltung (z.B. in Form von Verhältnismäßigkeitserwägungen) von den Rettungsorganisationen nun auch gegenüber den Hafenbehörden und in Gerichtsverfahren eingefordert werden kann. Ob die Gerichte nun – in Anwendung der Rechtsauffassung des EuGH – zu Gunsten oder zu Lasten der NGOs urteilen, erscheint noch offen. Das Urteil des EuGH eröffnet an diversen Stellen Ermessens- und Auslegungsspielräume.
Die besondere Relevanz des Urteils ergibt sich aus einem weiteren Umstand. Der EuGH hat sich zum ersten Mal mit dem Thema Seenotrettung befasst. Damit wächst auch die Anzahl der „Rechtsforen“, innerhalb derer Rechtsfragen im Zusammenhang mit Seenotrettung und maritimer Migration verhandelt und entschieden werden (siehe z.B. hier für die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit; hier, hier, und hier und hier für den EGMR sowie hier für den UN-Menschenrechtsausschuss). Rechtlich ging es vor dem EuGH zwar vordergründig „nur“ um eine Auslegung der Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle. Im Raum stand jedoch auch ein Streit über den Umgang europäischer Staaten mit einem zivilen Bündnis, das sich für sichere Flucht- und Migrationswege einsetzt, per Schiff und auch vor Gericht. Und dass dieses Rechtsforum nun existiert, ist ein kleiner Erfolg.