Sendeverbot durch Sanktionen
Das EU-Verbot russischer Staatsmedien aus der Perspektive des Medienrechts
„Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.“ Im Bilde dieses – meist dem US-amerikanischen Politiker Hiram Johnson zugeschriebenen – Zitats will die Europäische Union lebenserhaltende Maßnahmen für die Wahrheit im Krieg gegen die Ukraine ergreifen. Dazu hat sie eine Reihe von Sanktionen gegen russische Staatsmedien erlassen. In normalen Zeiten wäre ein (quasi-)staatliches Verbot von Medien wohl erheblichen Einwänden ausgesetzt gewesen. Doch unter dem Eindruck der immer rücksichtsloseren Invasion Russlands in der Ukraine erhält die EU breite Zustimmung bei nur wenigen kritischen Stimmen. „Außergewöhnliche Zeiten verlangen nach außergewöhnlichen Maßnahmen“, erklärte die für Medien zuständige Vizepräsidentin der Kommission, Vera Jurova. Die noch am Anfang stehende juristische Aufarbeitung (eine erste Einschätzung liefert Björnstjern Baade) darf sich aber nicht mit diesem Hinweis begnügen, sondern muss eine tragfähige und geeignete Rechtsgrundlage für den Kampf gegen staatliche Propaganda entwickeln. Statt auf das Sanktionsrecht sollte hierfür auf das Medienrecht gesetzt werden. Dafür sollte auf Unionsebene das Medienrecht nach deutschem Vorbild weiterentwickelt werden.
Sende- statt Betätigungsverbot
Nachdem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 27. Februar 2022 russische Staatsmedien der Verbreitung von Lügen bezichtigt und als Konsequenz daraus ihr Verbot angekündigt hatte, wurden hierzu Maßnahmen durch Verkündung im EU-Amtsblatt am 02. März 2022 in Kraft gesetzt. Seitdem sind bereits viele, wenn auch nicht sämtliche Verbreitungswege für die betroffenen Angebote in der EU gesperrt worden.
Die EU stützt das Verbot auf die Rechtsgrundlagen zur Verhängung von Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Es ist, soweit ersichtlich, das erste Mal, dass auf diesem Weg die Verbreitung von Medien innerhalb der EU unterbunden werden soll. Normiert sind die Maßnahmen gegen russische Staatsmedien in der nunmehr aktualisierten Fassung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (VO Nr. 833/2014). Es handelt sich um eine auf Art. 215 AEUV gestützte Verordnung des Rates zur Umsetzung seines gemäß Art. 29 EUV getroffenen Beschlusses 2014/512/GASP vom 31. Juli 2014. Die Verordnung wurde nun durch eine Änderungsverordnung auf russische Staatsmedien erstreckt.
Der neu eingefügte Art. 2f Abs. 1 VO Nr. 833/2014 verbietet es Betreibern, „Inhalte durch die in Anhang XV aufgeführten juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen […]“. Im Anhang XV werden verschiedene Gesellschaften von Russia Today sowie Sputnik aufgeführt. Mit „Betreibern“ sind Anbieter von Übertragungs- und Verbreitungsdienstleistungen gemeint.
Die Reichweite des Verbots ist nicht eindeutig. Zu seiner Auslegung kann die Richtlinie über audiovisuelle Medien (AVMD-RL) herangezogen werden. Baade legt dar, dass sich Art. 2f Abs. 1 VO Nr. 833/2014 in seiner englischen Fassung („to broadcast“) einzig auf Fernsehprogramme beziehe. Denn Art. 1 Abs. 1 e) AVMD-RL versteht unter einem Fernsehprogramm („television broadcasting“) ein Angebot mit einem vom Anbieter festgelegten Sendeplan (sog. lineare Mediendienste). Davon abzugrenzen sind nichtlineare Mediendienste, sprich Angebote mit Videoinhalten zum individuellen Abruf (vgl. Art. 1 Abs. 1 g) AVMD-RL); solche Angebote wären nach der englischen Fassung nicht sanktioniert. Allerdings kann man die deutsche Fassung des Art. 2f Abs. 1 VO Nr. 833/2014 weiter auslegen: Hiernach ist es den Betreibern verboten, „Inhalte … zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen…“. Mit „Inhalte“ könnte auch die Verbreitung von Videoinhalten zum individuellen Abruf gemeint sein, zumal sich der Begriff „Sendung“ (Art. 1 Abs. 1 b) AVMD-RL) in der deutschen Fassung der Richtlinie sowohl auf Inhalte in linearen als auch in nichtlinearen Mediendiensten bezieht. Nicht sanktioniert ist in jedem Fall eine rein pressemäßige Online-Berichterstattung.
Laut Erwägungsgrund 11 sollen die betroffenen Medien und ihr Personal nicht daran gehindert sein, im Einklang mit den Rechten aus der Grundrechtecharta (GRCh) „andere Tätigkeiten als Sendetätigkeiten in der Union auszuführen“. Allerdings hätte es dieser Rücksichtnahme nicht bedurft, da sich die russischen Staatsmedien zumindest nicht auf die Mediengrundrechte des Art. 11 GRCh berufen können: Grundrechtsberechtigt sind nur solche Medien, die eine hinreichende Unabhängigkeit vom Staat aufweisen, wie es der EGMR mit Blick auf Art. 10 EMRK mehrfach entschieden hat (vgl. nur Entscheidung Nr. 35841/02 v. 07.12.2006 – Österreichischer Rundfunk v. Austria, Rn. 46 ff). Und gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh ist diese Rechtsprechung auch für die Auslegung von Art. 11 GRCh maßgeblich.
Eine nach innen gerichtete „Sanktion“
Baade hat zu Recht auf die völkerrechtliche Verpflichtung der EU und ihrer Mitgliedstaaten aufmerksam gemacht, gegen die Verbreitung von Kriegspropaganda einzuschreiten. Der Rat fühlt sich offensichtlich berufen, dieser Pflicht mit den Mitteln des Sanktionsrechts nachzukommen. Der Sanktionsbegriff ist nicht primärrechtlich definiert, doch versteht man hierunter „im Allgemeinen außenpolitisch motivierte nichtmilitärische Zwangsmittel […], die ein Völkerrechtssubjekt zu völkerrechtskonformen Verhalten veranlassen sollen, indem seine wirtschaftliche Position betroffen wird“ (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Terhechte/Schneider, Recht der Europäischen Union, Stand: September 2021, Art. 215 AEUV, Rn. 7 m. w. N.).
Die nun verhängten Maßnahmen gegen russische Staatsmedien fallen aber nicht ohne weiteres unter diese Definition. Zwar stellt das Anbieten von audiovisuellen Medien auch eine wirtschaftliche Tätigkeit dar (grundlegend für den Rundfunk EuGH v. 30.04.1974, Rs. 155/71 Rn. 6 – Sacchi). Indes sollen die Maßnahmen nicht wie andere jüngst ergangene Wirtschafts- und Finanzsanktionen der Disziplinierung Russlands dienen. Vielmehr ist ihre eigentliche Zielrichtung „nach innen gerichtet“: Sie sollen eine Destabilisierung der Union durch die Verbreitung von Desinformation verhindern. Hierzu führt der Rat in den Erwägungsgründen 7 und 8 aus, die Russische Föderation betreibe zur Rechtfertigung ihrer Aggression gegenüber der Ukraine kontinuierliche und konzertierte Propagandaaktionen, wozu sie sich einer Reihe von Medien unter direkter oder indirekter Kontrolle ihrer Staatsführung bediene. Solche Maßnahmen stellten eine erhebliche und unmittelbare Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der EU dar.
Nun mag der Sanktionsbegriff einer weiten Auslegung zugänglich sein (so Callies/Ruffert/Cremer, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 215 Rn. 19) und grundsätzlich auch Beschränkungen für Mediendienstleistungen ermöglichen. Wenn aber der Rat die Verbreitung russischer Propaganda innerhalb der EU zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhindern will, geht es ihm um eine inhaltliche Regulierung von Medien. Und dieses Ziel dürfte nicht mehr vom Zweck des Sanktionsrechts gedeckt sein.
(Keine) Rechtsgrundlagen im europäischen Medienrecht
Die inhaltliche Regulierung von Medien fällt vielmehr in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Denn soweit die Medien in ihrer meinungsbildenden Funktion reguliert werden, liegen die entsprechenden Vorschriften auf dem Gebiet der Kultur im Sinne des Art. 167 AEUV (vgl. dazu Spindler/Schuster/Ferreau, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, Allgemeines B Rn. 4 m. w. N.). Dessen Absätze 4 und 5 setzen übrigens der EU deutliche Harmonisierungsschranken. Medienspezifische EU-Rechtsakte stützen sich deshalb auf Kompetenztitel zur Verwirklichung des Binnenmarktes und regulieren vorrangig das „Wirtschaftsgut“ Medien. Eine trennscharfe Linie zwischen wirtschaftsbezogenen und meinungsbildungsbezogenen Regelungen lässt sich zwar kaum ziehen; doch mit Zurückhaltung in besonders meinungsbildungsbezogenen Materien sowie mit Öffnungsklauseln in Sekundärrechtsakten kann die EU Kompetenzkonflikte bei der Mediengesetzgebung eindämmen.
Wenig überraschend enthält daher auch die AVMD-RL keine Rechtsgrundlage für ein unionsweites Verbot von Sendern durch die EU und ihre Organe: Vielmehr sind die Mitgliedstaaten nach Artikel 6 Abs. 1 a) AVMD-RL aufgefordert, gegen die Aufstachelung zu Gewalt oder Hass in audiovisuellen Mediendiensten vorzugehen. Art. 3 Abs. 1 AVMD-RL statuiert darüber hinaus den Grundsatz der freien Verbreitung von Angeboten aus anderen Mitgliedstaaten („Sendestaatsprinzip“). Ausnahmsweise dürfen die Mitgliedstaaten aber die Weiterverbreitung einschränken, wenn ein Angebot aus einem anderen Mitgliedstaat in offensichtlicher und schwerwiegender Weise zu Gewalt und Hass aufstachelt (Art. 3 Abs. 2 AVMD-RL). Baade hat bereits darauf hingewiesen, dass auf dieser Basis Lettland und Litauen in der Vergangenheit unionsrechtskonforme Maßnahmen gegen russischsprachige Sender ergriffen haben (siehe dazu auch EuGH v. 04.07.2019, Rs. C-622/17 – Baltic Media Alliance). Das spricht ebenfalls dafür, die einschlägigen Rechtsgrundlagen für den Kampf gegen staatliche Propaganda im Medienrecht zu suchen – oder neu zu schaffen.
Fortentwicklung nach deutschem Vorbild?
Außer in Fällen des Art. 6 AVMD-RL besteht bislang keine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten, gegen staatliche Propagandasender vorzugehen. Daher sollte über eine Ergänzung des europäischen Medienrechts nachgedacht werden. Vorbild könnte hierfür der Ansatz des deutschen Medienrechts sein.
Bereits vor dem Einschreiten der EU hat Anfang Februar 2022 die Medienanstalt Berlin-Brandenburg die Verbreitung des deutschsprachigen Fernsehprogramms RT DE untersagt. Die Betreibergesellschaft beschreitet derzeit hiergegen den Rechtsweg, dürfte dabei jedoch kaum Aussicht auf Erfolg haben (näher zu dem Fall Ferreau, LTO v. 05.02.2022). Grund für die Untersagung ist nicht der propagandistische Programminhalt, sondern das Senden ohne die nach § 52 Abs. 1 S. 1 Medienstaatsvertrag (MStV) erforderliche Zulassung. RT DE hat eine solche Zulassung nicht beantragt und hätte sie auch nicht erhalten dürfen, da § 53 Abs. 3 MStV inländische wie ausländische staatliche Stellen sowie mit diesen verbundene Unternehmen für nicht zulassungsfähig erklärt. Hintergrund dieser Regelung ist das in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen fortentwickelte Gebot der Staatsferne, welches insbesondere eine staatliche Rundfunkveranstaltung untersagt (vgl. nur BVerfGE 12, 205, 262 ff; 136, 9, 33 ff). Angesichts der historischen Erfahrung einer Instrumentalisierung des Rundfunks im Nationalsozialismus ist dieses Gebot in Deutschland besonders streng ausgestaltet. In den Mediengesetzen vieler anderer EU-Staaten sucht man dagegen ein Verbot staatlicher Medienbetätigung vergeblich.
Für die Zukunft sollte erwogen werde, eine entsprechende Handhabe im Sekundärrecht zu verankern. Zwar ist der Aspekt der Staatsferne meinungsbildungsbezogen und fällt somit primär in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Nicht übersehen werden darf aber die demokratiefunktionale Bedeutung staatsferner Medien: Jede demokratische Gemeinschaft muss ihren Meinungsbildungsprozess vor staatlicher Propaganda abschirmen, denn nur so kann sich demokratische Meinungs- und Willensbildung tatsächlich „von unten nach oben“ vollziehen (vgl. für die grundgesetzliche Demokratie BVerfGE 138, 102, 109). Vor dem Hintergrund der primärrechtlichen Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf den Wert der Demokratie (Art. 2, 7 EUV) dürfte es daher rechtfertigungsfähig sein, den Mitgliedstaaten gewisse Mindestanforderungen hinsichtlich der Staatsferne der unter ihre Rechtshoheit fallenden Medien aufzugeben.
Die Chance für eine solche Normierung in absehbarer Zeit bietet der bereits projektierte Erlass eines Media Freedom Act. Das Vorhaben ist Teil des Europäischen Aktionsplans für Demokratie und soll unter anderem die Unabhängigkeit von Medien stärken. Damit erscheint das Medienrecht prädestiniert, um auf Unionsebene staatliche Propaganda zu bekämpfen. Vom Sanktionsrecht lässt sich dies hingegen nicht behaupten.