17 July 2022

Sexualisierte und reproduktive Gewalt als Völkerrechtsverbrechen

Plädoyer für ein geschlechtergerechtes Völkerstrafgesetzbuch

Heute vor 24 Jahren wurde das Römische Statut des Internationalen Strafgerichthofs (IStGH) verabschiedet. Aus diesem Anlass wird am 17. Juli der „Day of International Criminal Justice“ begangen. Vor wenigen Tagen feierten zudem der Internationale Strafgerichtshof ebenso wie das deutsche Völkerstrafgesetzbuch ihre 20-jährigen Jubiläen. Doch nicht nur diese Jahrestage bringen dem Völkerstrafrecht derzeit verstärkte rechtspolitische Aufmerksamkeit ein. Vielmehr ist es der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der das Völkerstrafrecht in das gesellschaftliche Bewusstsein und auf die politische Tagesordnung rückt.

Die zentrale Aufgabe des Völkerstrafrechts liegt darin, (straf-)rechtliche Antworten auf die schwersten Menschenrechtsverletzungen bereitzuhalten. Doch ist dieser Anspruch gerade bei sexualisierter und reproduktiver Kriegsgewalt in der Vergangenheit häufig nicht erfüllt worden. Die Begehung derartiger Taten ist ein bekanntes und gut dokumentiertes Phänomen. Lange Zeit als unvermeidbares Nebenprodukt von Kriegen verharmlost, wird insbesondere sexualisierte Gewalt heute oft als Kriegswaffe bezeichnet. So haben kürzlich die Berichte von Massenvergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten in Bucha internationale Empörung ausgelöst. Anders als in früheren Konflikten ist die internationale Strafgerichtsbarkeit im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schon in einem frühen Stadium sehr präsent. Die üblichen Mechanismen der asymmetrischen Durchsetzung des Völkerstrafrechts greifen in diesem Fall nicht bzw. begünstigen eine Strafverfolgung. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, dass das Völkerstrafrecht eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung des Krieges – nicht zuletzt auch von sexualisierten und reproduktiven Verbrechen – spielen wird. Sowohl der IStGH als auch der Generalbundesanwalt haben bereits Ermittlungen aufgenommen. Letzterer hat kürzlich ein Strukturermittlungsverfahren eröffnet, um Beweise für Völkerrechtsverbrechen zu sammeln und zu sichern.

Grundlage für diese Ermittlungen des Generalbundesanwalts ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Danach können Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auch dann strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie im Ausland begangen wurden und keinen Bezug zu Deutschland aufweisen. Das Völkerstrafgesetzbuch wird von vielen als mustergültige Umsetzung des Völkerstrafrechts auf nationalstaatlicher Ebene angesehen. Doch dürfen dieser Befund und einige inzwischen erfolgreich abgeschlossene Verfahren nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Völkerstrafgesetzbuch in einem zentralen Bereich Schutzlücken aufweist, nämlich bei den Straftaten gegen die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung.

Straftaten gegen die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung im VStGB

Das VStGB bietet in § 7 Abs. 1 Nr. 6, § 8 Abs. 1 Nr. 4 die Grundlage für die Verfolgung von sexualisierter und reproduktiver Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Kriegsverbrechen. Die Normen unterscheiden sich lediglich in Bezug auf das sog. Kontextelement, das sie zur Völkerstraftat macht: § 7 VStGB erfordert einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung, während § 8 VStGB Taten im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt und gegen eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person voraussetzt. Die Tatbestände erfassen – nach dem Vorbild des IStGH-Statuts – jeweils fünf Begehungsweisen: sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution, Beraubung der Fortpflanzungsfähigkeit und das Gefangenhalten einer unter Anwendung von Zwang geschwängerten Frau. Die Tatbestände der Vergewaltigung, der Nötigung zur Prostitution und der Beraubung der Fortpflanzungsfähigkeit hat der deutsche Gesetzgeber ohne substantielle Änderungen aus dem IStGH-Statut in das VStGB übernommen, während der Anwendungsbereich der erzwungenen Schwangerschaft erheblich eingeschränkt wurde. Statt der im IStGH-Statut zusätzlich enthaltenen sexuellen Sklaverei und dem Auffangtatbestand der anderen Formen sexueller Gewalt erfasst das VStGB den Tatbestand der sexuellen Nötigung, der dem IStGH-Statut unbekannt ist. Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des VStGB wird deutlich, dass diese Abweichungen Probleme hervorrufen, die der Gesetzgeber beheben muss.

Erzwungene Schwangerschaft

Das Verbrechen der erzwungenen Schwangerschaft ist eine Innovation des IStGH-Statuts und beruht auf dem Präzedenzfall der Gefangenhaltung vergewaltigter bosnisch-muslimischer und kroatischer Frauen während der Jugoslawien-Kriege, die dadurch zum Austragen vermeintlich serbischer Kinder gezwungen werden sollten. Die tatbestandsmäßige Handlung liegt nicht in der zwangsweisen Schwängerung an sich, sondern im nachgelagerten Akt der Gefangenhaltung einer zwangsweise geschwängerten Person. Dabei ist unerheblich, ob der Täter selbst die Schwangerschaft herbeigeführt hat. In subjektiver Hinsicht erfordert der Tatbestand eine besondere Absicht, die sich laut IStGH-Statut entweder auf die Beeinflussung der ethnischen Zusammensetzung einer Bevölkerung oder auf die Begehung anderer schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht richten muss. Letztere Absichtsvariante kam im vergangenen Jahr im wegweisenden Ongwen-Urteil des IStGH zur Anwendung. Der ugandische Rebellenführer Ongwen zwang zwei Frauen dazu, als seine „Ehefrauen“ zu leben, und vergewaltigte sie wiederholt, woraufhin sie schwanger wurden und Kinder bekamen. Indem er die Frauen weiterhin foltern, vergewaltigen und sexuell versklaven sowie dazu zwingen wollte, als seine „Ehefrauen“ zu leben, handelte er in der Absicht zur Begehung schwerer Verstöße gegen das Völkerrecht und machte sich wegen erzwungener Schwangerschaften strafbar.

Anders als das IStGH-Statut erfasst das VStGB das Gefangenhalten einer zwangsweise geschwängerten Frau ausschließlich in ethnisch motivierten Kontexten, verzichtet also auf die zweite Absichtsvariante.  Darin liegt eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs im Vergleich zum IStGH-Statut. So hätte sich Ongwen mangels ethnisch motivierter Handlungen nicht wegen erzwungener Schwangerschaften im Sinne des VStGB strafbar gemacht. Die Anpassung hat der deutsche Gesetzgeber, wie auch bei anderen Generalklauseln im IStGH-Statut, mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots nach Art. 103 Abs. 2 GG begründet. Der pauschale Verweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz überzeugt an dieser Stelle jedoch nicht. Die weit formulierte zweite Absichtsvariante sollte laut Verhandlungsdokumentationen der Römischen Konferenz ein Gegengewicht zur restriktiv gefassten ersten Variante bilden. Überzeugender wäre es, vollständig auf das besondere Absichtserfordernis zu verzichten. Dieses resultierte aus der ablehnenden Haltung einiger Verhandlungsdelegationen der Römischen Konferenz gegenüber reproduktiven Rechten von Frauen. Neuere Entwicklungen zum Schutz reproduktiver Rechte im internationalen Menschenrechtsdiskurs legen nahe, dass diese Auffassung nunmehr überholt ist.

Sexuelle Sklaverei und andere Formen sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere

Die Aufnahme der sexuellen Nötigung in das VStGB sollte sicherstellen, dass auch die nicht aus dem IStGH-Statut übernommenen Tatbestände erfasst werden, also die sexuelle Sklaverei und der Auffangtatbestand der anderen Formen sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere. Zwar bestehen in der Tat weitgehende Überschneidungen mit der sexuellen Nötigung, doch werden bei näherem Hinsehen Schutzlücken sichtbar.

Sexuelle Sklaverei ist eine Form der Versklavung, bei welcher der Täter bewirkt, dass das Opfer sich auf sexuelle Handlungen einlässt. Eine Verfolgung solcher Taten als sexuelle Nötigung, auch in Kombination mit Versklavung, trifft den Unrechtskern der Handlungen nicht. Ein eigenständiger Tatbestand ist notwendig, weil das verwirklichte Unrecht gerade in der spezifischen Verknüpfung der betroffenen Rechtsgutsverletzungen liegt, nämlich in der Ausübung der mit einem Eigentumsrecht an einer Person verbundenen Befugnisse in Kombination mit der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.

Beim Tatbestand der anderen Formen sexueller Gewalt im IStGH-Statut handelt es sich um einen Auffangtatbestand. Als Anwendungsbeispiel wird häufig das erzwungene Entkleiden genannt. Ob derartige Taten auch in der deutschen Rechtspraxis als strafbewehrte sexuelle Handlung eingeordnet würden, ist offen. Denn die von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an den Sexualbezug einer Handlung lassen möglicherweise zu wenig Raum für die notwendige kontextsensible Auslegung. Dem BGH zufolge kann sich der Sexualbezug entweder aus dem eindeutigen äußeren Erscheinungsbild oder aus der Sicht eines objektiven und alle Umstände des Falles kennenden Beobachters ergeben. Diesem Maßstab folgend erscheint es nicht zwingend, dass das erzwungene Entkleiden ohne körperliche Berührung als solches, das allein der Degradierung oder Folter des Opfers – und damit nicht primär der sexuellen Erregung oder Befriedigung des Täters – dient, als sexuelle Handlung eingeordnet würde. Zudem birgt die primär objektive Beurteilung des Sexualbezugs die Gefahr, dass kulturelle Besonderheiten keine Berücksichtigung finden. Aus der Perspektive eines deutschen Gerichts mag der Sexualbezug etwa beim zwangsweisen Entfernen des Kopftuches einer muslimischen Frau fehlen, im Tatkontext aber gegeben sein. Im Sinne der erforderlichen völkerstrafrechtsfreundlichen Auslegung sollte der Sexualbezug einer Handlung im Rahmen des VStGB weit verstanden und kontextsensibel unter Berücksichtigung des geschützten Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung ausgelegt werden.

Als sexuelle Gewalt im Sinne des IStGH-Statuts lassen sich zudem nicht explizit kriminalisierte Verletzungen der reproduktiven Selbstbestimmung fassen, beispielsweise der erzwungene Schwangerschaftsabbruch. Dies ergibt sich aus der Systematik: Die Bezeichnung als „andere Formen sexueller Gewalt“ impliziert, dass die zuvor genannten Tatbestände sexuelle Gewalt darstellen. Dies betrifft auch die reproduktiven Verbrechen der erzwungenen Schwangerschaft und der Zwangssterilisation. Damit ist die Verfolgung nicht-benannter reproduktiver Straftaten als sexuelle Völkerrechtsverbrechen im Sinne des IStGH-Statuts möglich. Hingegen dürfte die Einordnung eines erzwungenen Schwangerschaftsabbruchs als sexuelle Nötigung nach dem VStGB die Wortlautgrenze überschreiten. Zwar wäre eine Verfolgung ggf. als Menschlichkeitsverbrechen der Folter und Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden möglich, doch würde dies nicht den Unrechtsgehalt der Verletzung der reproduktiven Selbstbestimmung abbilden. Vorzugswürdig ist eine eigenständige Kriminalisierung neben den beiden anderen reproduktiven Tatbeständen.

Sexueller Übergriff statt sexuelle Nötigung

Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass Ziel einer Reform auch sein sollte, das VStGB durch die Aufnahme des Tatbestands des sexuellen Übergriffs an das reformierte deutsche Sexualstrafrecht anzupassen. Denn das VStGB erfasst weiterhin den Tatbestand der sexuellen Nötigung, der sich explizit an § 177 Abs. 1 StGB a.F. orientierte, während im reformierten Recht nunmehr der sexuelle Übergriff (§ 177 Abs. 1 StGB n.F.) im Vordergrund steht. Eine Aufnahme des sexuellen Übergriffs in das VStGB und damit eine Anknüpfung an den entgegenstehenden Willen statt an ein Zwangselement würde einem modernen menschenrechtlichen Verständnis des Rechtsguts der sexuellen Selbstbestimmung als Ausgangspunkt von Sexualstraftaten entsprechen. Eine Angleichung der Tatbestände könnte zudem einen wichtigen Beitrag zur praktischen Handhabbarkeit der Normen leisten.

Anwendungspraxis

Neben dem Gesetzgeber ist auch der Generalbundesanwalt gefragt. Denn ungeachtet des bestehenden Reformbedarfs bietet das VStGB schon heute eine Grundlage zur Ahndung sexualisierter und reproduktiver Völkerrechtsverbrechen. Um dieses Potential in die Praxis umzusetzen, ist eine Priorisierung derartiger Taten schon zu einem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen nötig. Dazu braucht es geschultes Ermittlungspersonal. Auch beim IStGH hat sich nach anfänglichen Schwierigkeiten gezeigt, dass Priorisierungsmaßnahmen der Anklagebehörde Schlüssel zum Erfolg für spätere Verurteilungen waren. Darüber hinaus sollte die Praxis der IStGH-Anklagebehörde, Verbrechen kumulativ, d.h. unter mehreren rechtlichen Gesichtspunkten, anzuklagen, dem Generalbundesanwalt als Vorbild dienen – und zwar nicht nur aus Gründen einer geschlechtergerechten Rechtsanwendung, sondern auch weil das Legalitätsprinzip ein solches Vorgehen erfordert. Zudem müssen Opportunitätsentscheidungen nach §§ 154, 154a StPO in Fällen sexualisierter und reproduktiver Kriegsgewalt stets die Dokumentationsfunktion von Völkerstrafverfahren und generalpräventive Erwägungen berücksichtigen.

Fazit

Zwanzig Jahre nach Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuchs in Deutschland ist es Zeit für eine kritische Bilanz. Nachdem gerade in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Strafverfolgungspraxis in den Blick genommen worden ist, müssen nun auch die nötigen materiell-rechtlichen Reformen angestoßen werden. Ziel muss es sein, bestehende Schutzlücken gegenüber dem IStGH-Statut zu schließen und mit den neueren menschenrechtlichen Entwicklungen Schritt zu halten. Dazu bietet es sich an,