Friedliche Gewalt!
Ein Plädoyer für die Rechtsprechung zu Sitzblockaden
In seinem Beitrag vom 13. August beleuchtet Thomas Groß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Sitzblockaden und ihre Bedeutung für die Bewertung von Protestaktionen der Letzten Generation. Er kritisiert, dass Strafgerichte friedliche Versammlungen mithilfe der sogenannten Zweite-Reihe-Rechtsprechung unter den Gewaltbegriff subsumieren. Entgegen verbreiteter Annahme habe sich das Bundesverfassungsgericht noch gar nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine im verfassungsrechtlichen Sinne friedliche Versammlung überhaupt „Gewalt“ im Sinne von § 240 oder § 113 StGB sein könne. Es widerspräche der Normhierarchie, wenn der einfache Gesetzgeber berechtigt wäre, als „friedlich“ qualifiziertes Verhalten mit dem entgegengesetzten Begriff der „Gewalt“ zu belegen.
„Gewalt“ und „Unfriedlichkeit“ zu unterscheiden, erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Sitzblockaden
Dem ist entgegenzuhalten, dass die Rechtsprechung der Karlsruher Richterinnen und Richter seit Jahrzehnten von der Einsicht geprägt ist, dass eine Versammlung, die nach strafrechtlichen Maßstäben Gewalt ausübt, nicht zwangsläufig unfriedlich i.S.d. Art. 8 Abs. 1 GG ist. So heißt es bereits in einem Beschluss aus dem Jahr 1986 zu Sitzdemonstrationen der Friedensbewegung:
„Der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit kann aber nicht mit dem von der Rechtsprechung entwickelten weiten Gewaltbegriff des Strafrechts gleichgesetzt werden. Dagegen spricht bereits, daß die Verfassung die Unfriedlichkeit in gleicher Weise wie das Mitführen von Waffen bewertet, also ersichtlich äußerliche Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen meint und die Anwendbarkeit des Grundrechts nicht davon abhängig macht, ob eine Behinderung Dritter gewollt ist oder nur in Kauf genommen wird.“1)
Das Verfassungsgericht legt bewusst strengere Maßstäbe an, wenn es darum geht, ob ein Verhalten überhaupt in den Schutzbereich des Grundrechts fällt. Von der Bestimmung des Schutzbereichs zu unterscheiden ist die Frage, ob eine Verurteilung wegen Nötigung einen gerechtfertigten Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellt oder nicht. Erst die Unterscheidung zwischen „Gewalt“ und „Unfriedlichkeit“ erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Sitzblockaden. Der normhierarchische Vorrang des Art. 8 GG wird hiervon nicht berührt. Dies wäre anders, ließe man den umgekehrten Schluss zu, dass eine Versammlung, von der Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeht, automatisch als unfriedlich einzustufen ist. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die eigenständige Bestimmung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit verhilft dem Vorrang des Grundrechts vor den einfachgesetzlichen Tatbeständen des StGB effektiv zur Geltung.
Bestes Beispiel ist der viel zitierte Kammerbeschluss zur Blockade der Ellis Road aus dem Jahr 2011.2) Zwar billigt das Verfassungsgericht die sogenannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung als mit der Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Dennoch sieht es in der Verurteilung wegen Nötigung eine Verletzung der Versammlungsfreiheit, da die Urteilsgründe des Landgerichts eine Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit der Blockierer auf der einen und der allgemeinen Handlungsfreiheit der Blockierten auf der anderen Seite vermissen ließen.
Praktische Konkordanz statt „Alles oder nichts“
Das Verfassungsgericht folgt wie so oft keinem „Alles-oder-nichts-Prinzip“. Es bringt die betroffenen Grundrechtspositionen in praktische Konkordanz. Der richtige Ort hierfür ist die Verwerflichkeitsprüfung des § 240 Abs. 2 StGB. Entscheidende Abwägungselemente sind die Dauer und die Intensität der Blockadeaktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand.3)
Die Strafjustiz hat in den letzten beiden Jahren bewiesen, dass sie in der Lage ist, die Klebeaktionen der Letzten Generation anhand dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu bewerten. In der Regel gelangt sie zu dem Ergebnis, dass eine Strafbarkeit wegen Nötigung zu bejahen ist.4) Wer gezielt Hauptverkehrswege im Berufsverkehr blockiert, behindert nun einmal eine Vielzahl von Menschen. Wer dazu noch Gliedmaßen an die Fahrbahn klebt, erschwert die Auflösung der Blockaden und verlängert die Wartezeiten der Betroffenen. Dass die Praxis die Umstände des Einzelfalls dennoch nicht aus dem Blick verliert, zeigen Verfahrenseinstellungen, Nichteröffnungsbeschlüsse, Freisprüche oder Urteilsaufhebungen, etwa, wenn Aktionen nur geringfügige Behinderungen von kurzer Dauer verursachen oder leicht umfahren werden können.
Der Unterschied zwischen Bauernprotesten und der Letzten Generation
Vor dem Hintergrund der klaren verfassungsgerichtlichen Vorgaben verwundert auch Groß‘ Vorwurf einer mangelnden Strafverfolgung der Bauernproteste. Dass beide Protestformen bisweilen unterschiedlich behandelt werden, beruht nicht auf der Willkür einer politischen Justiz. Im Gegensatz zur Letzten Generation melden Bauernverbände ihre Protestaktionen häufig an. Die Kooperation mit den Versammlungsbehörden ermöglicht verkehrsleitende Maßnahmen, die Behinderungen für den Straßenverkehr reduzieren. Nicht die Strafjustiz, sondern das Verfassungsgericht hat Bekanntgabe und Ausweichmöglichkeiten zu wichtigen Abwägungselementen erhoben. Wo Anmeldungen fehlen und der Verkehr vollständig zum Erliegen kommt, wie bei der Blockade der Elbbrücke Tangermünde, leiten die Strafverfolgungsbehörden Ermittlungsverfahren gegen Landwirte ein.
Zuzustimmen ist Groß, soweit er kritisiert, dass das Kammergericht die Klebeaktionen der Letzten Generation als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte wertet.5) Mithilfe der Konstruktion des „vorweggenommenen Widerstands“, die auf eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1963 (!) zurückgeht,6) mag man noch darüber hinwegkommen, dass die Aktivisten ihre Gliedmaßen in aller Regel nicht bei sondern vor Eintreffen der Polizeibeamten ankleben.7) Das Ankleben der Gliedmaßen stellt aber keine Gewalt im Sinne des § 113 StGB dar.8) Nach zutreffender Auffassung ist der Gewaltbegriff des § 113 StGB enger auszulegen als der des § 240 StGB.9) Bereits sprachlich kommt im Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte das Erfordernis der Kraftentfaltung deutlicher zum Ausdruck.10) Nach dem Schutzzweck der Vorschrift muss die Gewalt für den Amtsträger zudem – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein.11) Das Ankleben der Gliedmaßen zwingt Polizeibeamte aber nur dazu, die Hände und Füße der Aktivisten mit Lösungsmittel zu bestreichen und sie vorsichtig von der Straße zu lösen. Die eigentliche körperliche Beschwernis der Beamten liegt im anschließenden Sich-wegtragen-lassen der Demonstranten, was den Tatbestand des § 113 StGB als rein passives Verhalten nicht erfüllt.
Hat die Verfassungsbeschwerde der Letzten Generation Chancen?
Im Ergebnis ist festzuhalten: Unfriedlichkeit gemäß Art. 8 GG ist nicht gleich Gewalt gemäß § 240 StGB ist nicht gleich Gewalt gemäß § 113 StGB. Dass die Protestaktionen der Letzten Generation als friedliche Versammlungen Gewalt i.S.d. § 240 StGB ausüben, ist kein logischer Bruch, sondern die logische Folge einer eigenständigen Bestimmung des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit, die eine differenzierte Betrachtung von Sitzblockaden erst ermöglicht.
Wie das Verfassungsgericht über die anhängigen Verfassungsbeschwerden der Mitglieder der Letzten Generation entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Wer darauf hofft, dass Karlsruhe ihre Klebeaktionen für straflos erklärt, dürfte am Ende enttäuscht sein. Vieles spricht für eine Bewertung entlang der tradierten Rechtsprechungslinie zu Straßenblockaden. Das würde bedeuten, dass Verurteilungen wegen Nötigung in vielen Fällen bestehen blieben. Der Gefahr einer Aufhebung unterlägen vor allem Urteile, die keine Feststellungen zu den geforderten Abwägungselementen treffen, eine echte Abwägung der betroffenen Grundrechte vermissen lassen oder die Verwerflichkeit von Straßenblockaden bejahen, die nur zu ganz geringfügigen Verkehrsbeeinträchtigungen führten. Besser stehen die Chancen der Beschwerdeführer, soweit sie sich gegen Verurteilungen nach § 113 StGB wenden. Hier erscheint denkbar, dass das Verfassungsgericht die Wortlautgrenze der Vorschrift überschritten sieht und eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG bejaht.
Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.
References
↑1 | BVerfG NJW 1987, 43, 47. |
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↑2 | BVerfG NJW 2011, 3020 ff. |
↑3 | BVerfG NJW 2011, 3020, 3023. |
↑4 | Umfassende Nachweise zur Rechtsprechung finden sich in einem lesenswerten Beschluss des LG Berlin vom 08.07.2024 (BeckRS 2024, 20101, Rn. 28), der sich zu allen relevanten Fragen verhält, die sich im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Bewertung von Klebeaktionen stellen. |
↑5 | KG NJW 2023, 2792, 2794. |
↑6 | BGH NJW 1963, 769, 770. |
↑7 | Papathanasiou/Bauch, ZJS 2024, 229, 234. |
↑8 | Jäger, JA 2024, 256, 259; Papathanasiou/Bauch, ZJS 2024, 229, 235 f.; Schmidt, KlimR 2023, 210, 213 f. |
↑9 | MüKo-StGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, StGB § 113 Rn. 18 mwN. |
↑10 | NK-StGB/Paeffgen, 6. Aufl. 2023, StGB § 113 Rn. 24. |
↑11 | BGH NStZ 2015, 388. |
This article is part of VB Security and Crime: A Cooperation Project of Verfassungsblog and MPI-CSL