30 March 2011

Sitzblockaden: Strafrecht bleibt Strafrecht

Die heutige Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Sitzblockaden wird überall als superdemonstrantenfreundlich gefeiert. Tagessschau.de beispielsweise: “Demonstrationsfreiheit bei Sitzblockaden gestärkt”. Oder FAZ.net, noch schöner: “Sitzblockade nicht stets Nötigung”.

Das passt sicher irgendwie in die Zeit, wo doch am Sonntag die Grünen so doll gewonnen haben.

Tatsächlich aber ist es so: Diese Entscheidung versteht sich teilweise von selbst, und soweit sie das nicht tut, ist sie für die Versammlungsfreiheit gar nicht so besonders günstig.

Nötigung: Nicht stets, aber oft

Die Kammer hat zum einen die so genannte “Zweite-Reihe-Rechtsprechung” des BGH bestätigt. Die besagt, dass es zwar keine gewaltsame Nötigung ist, wenn man durch sein schieres Auf-der-Straße-Sitzen einen Autofahrer zum Anhalten zwingt. Aber wenn dann ein zweiter Autofahrer wegen des ersten blockierten Autos nicht weiterfahren kann, dann sei das gewissermaßen so, als habe der Demonstrant dieses erste Auto genommen und damit gewissermaßen den Verkehrsfluss gewaltsam zugestopft. Und das sei dann gewaltsame Nötigung und somit strafbar.

Nicht einleuchtend? Macht nichts. Ist Strafrecht. Strafrecht ist nicht einleuchtend. Strafrecht ist Strafrecht.

Das Verfassungsrecht dahinter beruht auf der berühmten Entscheidung des BVerfG von 1995, das die ebenso berühmte Mutlangen-Entscheidung von 1986 korrigierte und besagte, dass es doch irgendwie ein bisschen weit geht, es als Gewalt zu bezeichnen, wenn jemand bloß auf der Straße herumsitzt, wo doch Art. 103 II GG besagt, dass Strafgesetze bestimmt genug formuliert sein müssen, dass man ihnen entnehmen kann, was verboten ist und was nicht.

Diese “Zweite-Reihe-Rechtsprechung” war dann eine sehr elegante Idee, wie man dieser Linie des BVerfG dem Buchstaben nach folgen und strafrechtlich in weiten Teilen trotzdem alles beim Alten lassen kann: Sobald das zweite Auto anhält, nötigt der Sitzblockierer gewaltsam und macht sich daher strafbar, in den 70ern, 80ern, 90ern und heute auch.

(Nur die Castor-Blockierer sind fein raus, weil dem einen Zugführer kein zweiter folgt. Ist eigentlich schon mal jemand auf die Idee gekommen, zwei Castor-Züge hintereinander fahren zu lassen? Dann hätte man die auch am Wickel…)

In dem heute veröffentlichten Kammerbeschluss sagt nun das BVerfG ausdrücklich, dass diese Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH in Ordnung geht und das Bestimmtheitsgebot bzw. das Analogieverbot nicht verletzt: Das erste Auto beuge sich nur psychischer Gewalt, das zweite und alle weiteren dagegen physischer Gewalt.

Nun gut. Was immer das ist, ein Durchbruch für die Versammlungsfreiheit ist das nicht.

Ein Landgericht verirrt sich im Grundrechtswald

Im zweiten Teil des Beschlusses holt sich das Landgericht Frankfurt am Main eine väterliche Belehrung ab: Das LG hatte der Sitzblockade kurzerhand den Charakter eines nach Art. 8 GG geschützten Versammlung aberkannt, aus Gründen, die die Kammer ersichtlich in Verwirrung stürzen:

Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass die Demonstranten sich nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen könnten, weil ihre Aktion der Erregung von Aufmerksamkeit gedient habe, hat es den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit verkannt. Der Umstand, dass die gemeinsame Sitzblockade der öffentlichen Meinungsbildung galt – hier: dem Protest gegen die militärische Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte im Irak und deren Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland -, macht diese erst zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG. Versteht man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass es zum Ausdruck habe bringen wollen, die Demonstranten hätten mithilfe der Aktion zu einer selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener konkreter Forderungen angesetzt, erweisen sich diese Erwägungen ebenfalls verfassungsrechtlich als nicht tragfähig. Den der Entscheidung des Landgerichts zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts sowie den eigenen rechtlichen Erwägungen des Landgerichts lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die auf das Vorliegen einer solchen konkreten, vor Ort durchsetzbaren Forderung auf Seiten der Demonstranten deuten. Begreift man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass der Aktion der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG deshalb abzusprechen sei, weil die Demonstranten sich unfriedlicher Mittel im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG bedient hätten, halten sie einer verfassungsrechtlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Entscheidung des Landgerichts sowie den zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass es bei der Aktion zu Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen gekommen ist und die Versammlung hierüber insgesamt einen durch Aggressionen geprägten unfriedlichen Charakter gewonnen hat.

Dass Sitzblockaden in den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen, ist meines Wissens seit mindestens 20 Jahren bekannt.

Ich bin jetzt kein Experte im Versammlungsrecht, aber ist das nicht eine totale Einzelfallentscheidung? Ist das tatsächlich mehr als ein landgerichtlicher Ausreißer, der hier korrigiert wird?

Foto: GuentherHH, Flickr Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Sitzblockaden: Strafrecht bleibt Strafrecht, VerfBlog, 2011/3/30, https://verfassungsblog.de/sitzblockaden-strafrecht-bleibt-strafrecht/, DOI: 10.17176/20181008-123804-0.

13 Comments

  1. Roman Wed 30 Mar 2011 at 18:01 - Reply

    Ist es eigentlich das erste Mal, dass das BVerfG die Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH bestätigt, bzw. nicht ankreidet?

    Übrigens Daumen hoch zum neuen WordPress-Theme, finde ich wesentlich angenehmer zu lesen.

  2. Dietrich Herrmann Wed 30 Mar 2011 at 21:20 - Reply

    Ad 1: Die Bestätigung der BGH-Rechtsprechung ist wieder ein wunderbares Beispiel für meine These der “Verfassungsinterpretation durch Dialog” – Das BVerfG ist nicht das allein entscheidende oberste Organ, dem alle (womöglich ohne nachzudenken) einfach so folgen. Wenn es ihnen nicht passt (und das kommt eben mehr als gelegentlich vor), sind Akteure wie Gesetzgeber, Exekutive, Verwaltungen oder eben auch Instanzgerichte gerne bereit, die Verfassungsinterpretation vom Karlsruher Schlossplatz ihrerseits eher kreativ anzuwenden. Und Strafrichter haben gegenüber den auf Grundrechte pochenden Verfassungsrichtern wohl auch so etwas wie ein Grundmisstrauen.
    Trotzdem – das ist aber meine persönliche Einschätzung, die man nicht teilen muss – finde ich diese Überlegung mit der “Zweiten Reihe” nicht nur kreativ, sondern heikel. Sie ist auch nicht ganz zusammenhanglos zum zweiten Aspekt.
    Ad 2: Man sollte meinen, dass diese Interpretation der Versammlungsfreiheit längst überall hinreichend bekannt ist – das ist aber beileibe nicht so, wie ich als Dresdner leidvoll bekräftigen muss: Die hiesigen Verwaltungen u. Verwaltungsgerichte (inkl. OVG Bautzen) haben etwa Schwierigkeiten, die Versammlungsfreiheit der Anti-Nazi-Demonstranten anzuerkennen. Da zählte vordergründig das Recht der Nazis zur Demonstration (und da geht es natürlich auch um die in der 2. Reihe). In diesem wie im letzten Jahr wurden etliche Anti-Nazi-Demonstrationen und Kundgebungen unter fadenscheinigen Begründungen(mit Billigung der Gerichte) verboten. Einstweiligen Rechtsschutz wollte Masings Kammer nicht gewähren. Nun geht es ins Hauptsache-Verfahren. Mal sehen, ob dieses Mal der Senat sich der Sache annimmt. Kann es vielleicht auch sein, dass eine kleine Kammer vom Schlossplatz vielleicht Scheu hat, einen ganzen BGH-Strafsenat vor den Kopf zu stoßen?

  3. Paul Wed 30 Mar 2011 at 21:54 - Reply

    Um an Dietrich Herrmann anzuknüpfen …
    Die Grundrechtsverletzungen in Dresden sind noch viel weitergegangen.
    So hat die Polizei die gewalttätigen Schweine (sog. “Antifaschisten”) mit Wasser nass gespritzt.
    Auch als die gewalttätigen Schweine (sog. “Antifaschisten”) friedlich mit Pflasterstenen geworfen und gewaltfrei mit Eisenstangen geschlagen haben, hat die Polizei das gelegentlich unterbunden.
    Schlimm, dass es 66 Jahre danach schon wieder so weit ist.

  4. xRatio Wed 30 Mar 2011 at 22:51 - Reply

    Das weiß doch jedes Kind:

    Wer sich jemandem in den Weg stellt oder ihm irgendetwas in den Weg legt, der nötigt ihn – entweder auszuweichen, umzukehren oder das Hindernis zu beseitigen.

    Er nötigt mit physischer Gewalt, nicht bloß durch Drohung mit Gewalt.

    Der mit (erfreulich) knapper Mehrheit (5:3) ergangene Beschluß des BVerfG von 1995 ist daher in Begründung und Ergebnis schlicht absurd, völlig unhaltbar.

    Nach meiner Ansicht ein klarer Rechtsbruch durch linkifizierte Juristen in einem links-korrumpierten BVerfG.

    Die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und Haas zum skandalösen Beschluß des Ersten Senats vom 10. Januar 1995 – 1 BvR 718, 719, 722, 723/89 –

    entspricht auch meiner Meinung.

    http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv092001.html

    In seiner ursprünglichen rechtsstaatlichen Fassung stellte § 240 StGB die Nötigung “durch rechtswidrige Gewalt oder Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen” unter Strafe

    Der heutige reichlich konfuse § 240 StGB beruht auf Gesetzesänderungen der braunen Sozis (“gesundes Volksempfinden”), die später zwar umformuliert, in Wahrheit aber bis heute nicht beseitigt wurden. Man hat das “gesunde Volksempfinden” bloß schamhaft durch “verwerflich” ersetzt.

    Rechtswidrige Gewalt oder Drohung mit Straftaten ist niemals “sozialadäquat”, also niemals rechtmäßig.

  5. franz Thu 31 Mar 2011 at 07:14 - Reply

    Bevor ich Notwehr gegen einen Sitzblockierer vorgehe muss ich also erst warten, bis ich im Rückspiegel einen weiteren Autofahrer sehe (dem ich dann Nothilfe leiste)?!

    Weiche ich nicht schon dem Unrecht, wenn ich anhalte, statt die Sitzblockierer zu überfahren?

  6. Mathias Thu 31 Mar 2011 at 14:47 - Reply

    Zur Frage des “Neuigkeitswertes” einer Feststellung einer Verletzung der Versammlungsfreiheit: So ganz selbstverständlich ist das auch wieder nicht. In der Startbahn-West-Entscheidung klangen vier der Richter schon was die Einbeziehung in den Schutzbereich betrifft noch ganz anders (BVerfGE 82, 236 [264]). Und die Folgerungen auf der Rechtfertigungsebene für die Anwendung von § 240 StGB wurden soweit ich sehe erst im Wackersdorf-Beschluss von 2001 ausdrücklich gezogen (BVerfGE 104, 92 [106 ff.]; http://sorminiserv.unibe.ch:8080/tools/ainfo.exe?Command=ShowPrintVersion&Name=bv104092). Das wären dann immerhin “erst” zehn, nicht schon zwanzig Jahre. Natürlich ist auch das nicht mehr “brandneu” (sonst hätte es aber auch kaum von der Kammer entschieden werden können)