21 June 2016

Staunenswertes aus Karlsruhe: zum OMT-Urteil des BVerfG

2016-06-22 OMT-Urteil

Das wäre geschafft. Mit dem heute verkündeten Urteil zum OMT-Programm der Europäischen Zentralbank ist das vorläufig letzte Kapitel der vielbändigen Eurokrisen-Verfassungssaga geschrieben. Und wer erwartet hatte, dass Karlsruhe zwei Tage, bevor dies das Vereinigte Königreich womöglich tut, den europapolitischen Weltuntergangsknopf drücken würde, der sieht sich enttäuscht: Der EZB werden Leitplanken hingestellt, aber nicht der Teppich unter den Füßen weggezogen. Dem EuGH wird sanft widersprochen, aber kein Ultra-Vires-Schwert zwischen die Rippen gebohrt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter seinem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle hat das europa- und finanzpolitische Boot gehörig gerockt, aber am Ende nicht versenkt, und das ohne allzu dramatischen Reputationsverlust auf allen Seiten. Das verdient erst mal Respekt.

Was man aber vor lauter Tagesaktualität nicht übersehen sollte: das heutige Urteil setzt nach über 20 Jahren Bauzeit in schwindelerregender Abstraktionshöhe den Schlussstein in eins der luftigsten und ambitioniertesten verfassungsjuristischen Gedankenkonstrukte, das je von Richterhand errichtet worden ist. Die Rede ist von jenem ominösen “Recht auf Demokratie”, das selbst das vorliegende Urteil nur zwischen Gänsefüßchen beim Namen zu nennen wagt (RNr. 147, 166). Welchen Gefallen das Gericht uns damit getan hat, wird sich erst noch weisen müssen.

Mein Recht auf Infra-Vires und Verfassungsidentität

Diese Bauphase von ihren Anfängen in den Ausländerwahlrechts-Entscheidungen der späten 80er Jahre über Maastricht, Lissabon, Honeywell etc. bis heute im Detail nachzuzeichnen, ist eine Aufgabe für künftige Verfassungsrechtshistoriker. Hier muss eine grobe Skizze reichen: Die Deutschen, so die vom BVerfG entwickelte Doktrin, sind das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland und haben als dessen Mitglieder das Recht, durch Wahlen zum Bundestag die Geschicke derselben zu bestimmen. Wenn durch Kompetenzverlagerung auf Europa ihr Parlament, der Bundestag, plötzlich nichts mehr zu melden haben sollte, dann wäre dies eine Verletzung des Demokratieprinzips (Art. 20 I) und damit des Identitätskerns (Art. 79 III) des Grundgesetzes, und damit wäre das Wahlrecht der Einzelnen nichts mehr wert, weshalb jede(r) Einzelne dagegen Verfassungsbeschwerde erheben kann. Das gleiche gilt auch dann, wenn Organe der EU, ohne dass ihnen die Mitgliedsstaaten die Zuständigkeit dafür übertragen haben, aktiv werden, soweit es sich um offensichtliche bzw. strukturell bedeutsame Fälle handelt: Auch dagegen kann jede(r) einzelne Deutsche in Karlsruhe klagen. Und die Verfassungsorgane der Bundesrepublik, vor allem Bundesregierung und Bundestag, sind jeder/m Deutschen individuell verpflichtet, ihr Recht auf Demokratie zu schützen, und zwar gegen Europa.

Bis zum Lissabon-Urteil hätte man diese Konstruktion, über das Wahlrecht der einzelnen Staatsbürger die Verfassungsbeschwerde gegen EU-Primär- und Sekundärrecht möglich zu machen, als  als Trick betrachten können, mit dem sich Karlsruhe auf raffinierte Weise einen Fuß in der europapolitischen Tür sichert. Aber weit gefehlt: Nichts weniger als die Menschenwürde steht für das BVerfG auf dem Spiel, die es mit dem Demokratieprinzip zu einem bis zur Weißglut verdichteten, allerinnersten Nukleus der totalen Unantastbarkeit zusammenschweißt, auf dass niemals ein deutscher Mann oder eine deutsche Frau einer politischen Gewalt unterworfen werden kann, die sie nicht in Freiheit und republikanischer Gleichheit selbst bestimmt haben.

Soweit der grobe Stand der Erkenntnis, dessen verschiedene Stränge das heutige Urteil sehr ausführlich zu einem verfassungs- und demokratietheoretischen Grundsatzdokument zusammenführt, das erklärt, wie Ultra-Vires-Kontrolle und Identitätskontrolle miteinander zusammenhängen und welche Voraussetzungen dafür jeweils bestehen und wie sie mit der Tätigkeit des EuGH interagieren.

(Und mit einem m.E. neuen Strang verknüpft, den man fürderhin vielleicht “Peter M. Hubers Lehre vom Einflussknick” nennen wird. Einflussknick? Jawoll, Einflussknick. Noch mehr Grazie hat das Wort in seiner Pluralform: “mit mehreren Einflussknicken” (RNr. 131). Wenn ich das richtig deute, verbirgt sich dahinter die These, dass mein demokratischer Einfluss als Deutscher einen Knick abbekommt, wenn ich ihn mit dem demokratischen Einfluss von irgendwelchen Iren, Portugiesen und Slowaken teilen muss. Aber das wird nicht weiter ausgeführt, und das Wort kommt nur an zwei Stellen eher beiläufig vor.)

(Und obendrein scheint mir dieses Grundsatzdokument nicht durchläufig für Klarheit, sondern auch für neue Fragen zu sorgen. So grüble ich beispielsweise über RNr. 152: Sehe ich das richtig, dass da bei der Ultra-Vires-Kontrolle über die Honeywell-Qualifier “offensichtlich” und “strukturell bedeutsam” hinaus noch ein weiterer Fall “rechtsstaatswidrig” aufgemacht wird? Der doch dann eigentlich die ganze eingrenzende und auf Solange-Konstellationen beschränkende Wirkung des Honeywell-Urteils wieder zunichte macht? Für Erklärungen und Belehrungen bitte Kommentarfunktion verwenden…)

Demokratie sind die Vielen, Grundrechte sind die Einzelnen

Als Grundsatzdokument ist diese Konstruktion im Großen und Ganzen höchst eindrucksvoll. In einem gewissen Kontrast dazu steht allerdings, was das BVerfG den solcherart Verpflichteten tatsächlich an Tun und Unterlassen aufgibt. Bundesregierung und Bundestag, so das BVerfG, verfügen in Europa über große Gestaltungsspielräume, und wenn sie einem qualifizierten Kompetenzverstoß oder einer Verletzung der Verfassungsidentität begegnen, müssen sie natürlich aktiv werden, und der Senat zählt ihnen ihre Möglichkeiten von der Klage zum EuGH bis zum Misstrauensvotum nach Art. 67 GG detailliert auf (RNr. 171). Aber was genau Regierung und Parlament zu tun haben, das will Karlsruhe selbstverständlich ihrer politischen Verantwortung überlassen.

Dagegen ist auch gar nichts zu sagen. Von Herrn Gauweiler jedesmal mit Verpflichtungsklagen überzogen zu werden, wenn er findet, dass hier in Luxemburg auf Nichtigkeit geklagt und dort in Brüssel Veto eingelegt hätte werden müssen, das will man offenbar in Karlsruhe genauso wenig wie in Berlin. Nur dass der Bundestag im Plenum beraten und entscheiden müsse, wie einer in Karlsruhe festgestellten Ultra-Vires- oder Identitätsverletzung zu begegnen ist, traute sich der Senat in den Maßstäbeteil seines Urteils zu schreiben.

Trotzdem geht es mir beim Betrachten dieses Urteils ein bisschen so wie beim Besuch von gewissen Schlössern der notorisch bettelarmen brandenburgischen Herzöge und Könige, wie man sie in und um Berlin in nicht geringer Zahl findet: sehr schön anzusehen und mit allen Prachtelementen des Barock oder welcher Stilepoche auch immer auf das Reichste versehen. Aber wenn man an den vermeintlichen Marmor klopft, stellt man – no disrespect – fest, dass man es mit bemaltem Sperrholz zu tun hat.

Warum der Ansatz des Senats unter Gewaltenteilungsaspekten mehr als ein Fragezeichen verdient, dazu haben die beiden mittlerweile ausgeschiedenen Richter_innen Lübbe-Wolff und Gerhardt in ihren Minderheitsvoten zum Vorlagebeschluss im gleichen Verfahren schon alles Nötige gesagt.

Mir kommt aber auch in anderer Hinsicht der Kurzschluss zwischen Demokratieprinzip einerseits und Freiheits- und Würdegrundrechten andererseits, den das BVerfG in seiner Europa-Rechtsprechung herstellt, fragwürdig vor.

Demokratie, das sind die Vielen. Grundrechte, das sind die Wenigen, wenn nicht gar die Einzelnen.

Demokratie heißt, dass die Mehrheit ihren Willen dem Einzelnen bzw. der Minderheit als verbindlich aufzwingen kann. Grundrechte heißt, dass die Mehrheit ihren Willen gegenüber dem Einzelnem bzw. der Minderheit zügeln muss.

Das passt nicht zueinander. Das steht sogar in einem gewissen Gegensatz zueinander.

Demokratie zu einer Sache meiner Freiheit, meiner Würde zu machen, tut weder der Demokratie gut noch der Freiheit/Würde. Das suggeriert mir, meine individuelle Machtlosigkeit sei so etwas wie Unterdrückung, und die Macht auf meiner Seite und Anteil an ihr zu haben, mein staatsbürgerliches Recht. Das füttert das Ressentiment derer, die ohnehin finden, dass mit einer Demokratie, deren Entscheidungen sie nicht mögen, etwas nicht stimmt, wo sie doch das eigentliche Volk sind im Gegensatz zu “denen da oben”. Das tut so, als sei es immer noch die “Obrigkeit”, die dynastisch oder religiös oder sonstwie undemokratisch legitimierte Macht, die sich sofort über die armen Individuen hermachen würde, wenn diese nicht ihr Grundrecht auf Demokratie in Karlsruhe beschützen lassen können – als ob das noch irgendeinen Wirklichkeitsbezug hätte im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, als seien die tatsächlichen Quellen von Unfreiheit und Entwürdigung nicht gerade dort besonders lebhaft am Sprudeln, wo sich die Macht mit dem Volk besonders einig fühlt.

Vor allem suggeriert das BVerfG damit: Kommt zu uns, wenn ihr ein Problem mit euren demokratischen Partizipationsmöglichkeiten habt! Zieht vor Gericht! Statt um politische Mehrheiten zu kämpfen – klagt! Statt die Macht zu erobern – empfangt das, was ihr fordert, aus der Hand des Rechts! Aus der Hand derer, die sich auf demokratische Legitimation nun wirklich zu allerletzt stützen können – von uns!

Das werden sich die Herren Gauweiler, Marcus C. Kerber und tutti quanti nicht zweimal sagen lassen. Fünfmal die Woche werden sie fortan klagen in Karlsruhe. Sie werden erwarten, dass das BVerfG dann schon irgendwann auch mal liefert. Ob es das dann auch tut? Mit wunderschönen Grundsatzdokumenten kann man diese Leute jedenfalls fortan nicht mehr abspeisen, das Pulver ist verschossen.

Das Gericht hat sich, wie gesagt, ein spektakuläres Gerüst gezimmert mit seinem “Grundrecht auf Demokratie”.

Ich bin froh, dass ich es nicht bin, der sich darunter aufhalten muss.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Staunenswertes aus Karlsruhe: zum OMT-Urteil des BVerfG, VerfBlog, 2016/6/21, https://verfassungsblog.de/staunenswertes-aus-karlsruhe-zum-omt-urteil-des-bverfg/, DOI: 10.17176/20160622-110516.

8 Comments

  1. Claudio Tue 21 Jun 2016 at 20:43 - Reply

    Der Weg über Art. 38 GG war von Anfang an verfehlt. Darüber ist sich die wohl hM unter den Staatsrechtslehrern einig. Das Gericht wird die Geister, die es rief, nicht mehr los. Und wird darunter Schaden nehmen. Schade eigentlich.

  2. JD Tue 21 Jun 2016 at 20:55 - Reply

    “Recht auf Demokratie” heisst zwar nicht automatisch – wie es oben angenommen zu werden scheint – “Recht auf was man möchte”, aber wenn man sich die Abstimmungen in der Schweiz anschaut, siehe Minarettverbot, ist an der hier formulierten Kritik durchaus etwas dran.

  3. Jessica Lourdes Pearson Tue 21 Jun 2016 at 22:39 - Reply

    “Pillenknick” war gestern – “Einflussknick” ist heute! Blöd nur, dass sich das so schlecht ins Englische übersetzen lässt (ebensowenig wie “Integrationsverantwortung”; siehe englische PM). Vielleicht sollte man das im Interesse der offenbar beabsichtigten internationalen Wirkung bei künftigen Wortschöpfungen beachten. By the way: Wo liegt denn der behauptete “Einflussknick” im Hinblick auf die EZB? Durften die Bundesbürger früher über die Geldpolitik der Bundesbank abstimmen?

    Meine absolute Lieblingspassage aber ist die zu den “gewichtigen Einwänden” des BVerfG gegen das EuGH-Urteil (Rn. 181 ff.): Dieses Machwerk aus Luxemburg, teilt uns das BVerfG mit, stimmt zwar “mit dem Wortlaut der primärrechtlichen Grundlagen” überein. Auch hält sich der EuGH nach Auffassung des BVerfG auf der Linie “seiner bisherigen Rechtsprechung”. Schließlich, so das Karlsruher Eingeständnis, hat der EuGH die ihm vom BVerfG vorgelegten “Indizien” für eine Kompetenzüberschreitung der EZB “jeweils isoliert” widerlegt.
    Also alles ok? Weit gefehlt! Denn der EuGH hätte schließlich, das liegt auf der Hand, auch noch eine “wertende Gesamtbetrachtung” dieser Indizien vornehmen müssen!
    Also doch alles schlecht? Naja, auch wieder nicht. Denn eine (diesmal tatsächlich durchgeführte) “wertende Gesamtbetrachtung” ergibt wiederum, dass das EuGH-Urteil doch “noch hingenommen” werden kann, weil es “der Sache nach” irgendwie doch gemacht hat, was das BVerfG wollte. Und damit will man dem EuGH “anerkannte methodische Grundsätze” (Rn. 161) beibringen?

    Noch ein ernstes Wort zum Schluss: Muss man – obiter dictum und ohne Not – in Zeiten eines drohenden Brexit und der offenen Verweigerungshaltung osteuropäischer Staaten in der Flüchtlingspolitik wirklich den LUXEMBURGER KOMPROMISS von 1966(Rn. 171) aus der Mottenkiste holen? Ist es wirklich das Gebot der Stunde, politische Entscheidungen in der EU (noch mehr) zu erschweren? Hat nicht vielmehr die politische Blockade in der Eurokrise erst zu der nun vom BVerfG beklagten Situation geführt, dass die EZB einspringen musste?

  4. Christian Rath Wed 22 Jun 2016 at 03:51 - Reply

    Drei Gedanken zu Rz 135 des EZB-Urteils:

    Dort wird behauptet, dass die Menschenwürde der deutschen Staatsbürger nur gewahrt ist, solange die EU-Organe im Rahmen des Integrationsprogrammes agieren. Begründung: Nur das Integrationsprogramm sei durch ein deutsches Zus