Systemversagen?
Zur Aufarbeitung problematischer polizeilicher Gewaltausübung in Deutschland
Der bis März dieses Jahres amtierende UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, hat der Bundesrepublik bei der Aufarbeitung rechtswidriger Polizeigewalt „Systemversagen“ attestiert und festgestellt, übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung sei in Deutschland ein „blinder Fleck“. Melzer hatte die Bundesregierung in seiner Funktion als Special Rapporteur zu einer Stellungnahme aufgefordert, nachdem er sich im Sommer 2021 besorgt über das polizeiliche Vorgehen gegen Proteste der Corona-Leugner in Berlin gezeigt hatte. Damals war auf kursierenden Aufnahmen teils erhebliche Gewaltanwendung gegen Demonstrierende zu sehen gewesen. Die Antworten von Polizei und Regierung haben ihn nun zu einer grundsätzlichen Kritik des Umgangs mit polizeilicher Gewalt in Deutschland veranlasst.1)
Zwischen unmittelbarem Zwang und rechtswidriger Polizeigewalt
Melzer benennt zahlreiche Szenen, in denen Polizist:innen eindeutig exzessive Gewalt angewandt hätten. So würden Menschen, die lediglich verbal protestierten, in schmerzhafte Polizeigriffe gezwungen, andere brutal zu Boden gebracht, obwohl die Situation eigentlich bereits unter Kontrolle gewesen sei, und ein Mann, der nach einem Redebeitrag in Ruhe auf dem Fahrrad davonfahre, werde ohne Vorwarnung von hinten ins Genick geschlagen und zu Boden geworfen. In einem weiteren Fall geht es um einen Polizisten, der auf einer fixierten, blutüberströmten und regungslosen Person kniee und auf diese einprügele. Es handelt sich bei diesen Beispielen laut Melzer nicht um Einzelfälle, sondern um einen „besorgniserregenden Trend“.
Bilder polizeilicher Gewalt sorgen immer wieder für erhebliche öffentliche Debatten – ob bei den G20-Protesten in Hamburg 2017, während der Diskussion um rassistische Polizeigewalt im Sommer 2020 oder aktuell zu einem Fall in Mannheim, wo Anfang Mai ein 47-jähriger Mann bei einem gewaltsamen Polizeieinsatz zu Tode gekommen ist. Einerseits soll die Polizei gegebenenfalls Gewalt anwenden, um ihre Aufgaben zu erfüllen, andererseits darf sie das nur in einem eng begrenzten gesetzlichen Rahmen. In konkreten Fällen gehen die Meinungen darüber, was noch erlaubt und was zu viel ist, allerdings häufig auseinander. Die Klärung dessen ist in Deutschland dann meist der Strafjustiz übertragen, die Verfahren gegen Polizist:innen wegen Körperverletzung im Amt zu bearbeiten und Fehlverhalten zu ahnden hat.
Melzer verweist insofern zu Recht darauf, dass jeder dieser Verdachtsfälle straf- bzw. disziplinarrechtlich untersucht werden müsse. Genau das geschehe allerdings viel zu selten bzw. nicht effektiv. Laut Antwort der Bundesregierung sei bundesweit bisher nur ein Polizist im Zusammenhang mit den Vorfällen verurteilt worden. Aber auch insgesamt vermittelten die offiziellen Statistiken beim Thema Polizeigewalt den Eindruck einer „De-facto-Straflosigkeit“. Wo es überhaupt zu Verfahren gegen Polizeibeamte komme, blieben diese oft lange liegen und würden dann „sang- und klanglos“ eingestellt.
Mangelnde Aufarbeitung
Die Befunde des Sonderberichterstatters decken sich mit den Erkenntnissen der diesbezüglichen Forschung. Von den gut 2.000 Verfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamt:innen, die von den Staatsanwaltschaften pro Jahr erledigt werden, wird der absolute Großteil eingestellt, ohne dass es zu einem Hauptverfahren vor Gericht kommt. Die Anklagequote bei diesen Verfahren beträgt etwa zwei Prozent und ist damit so niedrig wie in praktisch keinem anderen Deliktsbereich. Ein besonders großer Teil der Einstellungen erfolgt gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts, was in der Regel bedeutet, dass das Verhalten nicht als strafbar bewertet wurde oder niemandem nachgewiesen werden konnte.2)
Für die Erklärung dieser außergewöhnlichen Erledigungsstruktur scheinen einige Besonderheiten von Strafverfahren gegen Polizist:innen eine Rolle zu spielen. Erstens ermitteln dort Polizist:innen gegen Polizist:innen; Spurensicherung, Videoauswertung, Beschuldigten- und Zeug:innenvernehmungen und die vorläufige rechtliche Bewertung im Abschlussbericht werden also von der Polizei selbst übernommen. Angesichts einer in der sogenannten Cop Culture verankerten internen Werteordnung, die Zusammenhalt und Loyalität großschreibt („Korpsgeist“) und das öffentliche Eingestehen von Fehlern sanktioniert („Mauer des Schweigens“), muss man davon ausgehen, dass in diesen Ermittlungen nicht immer das gleiche Problembewusstsein besteht wie es in anderen Strafverfahren üblich ist.
Zweitens besteht in einschlägigen Konstellationen oft eine besondere, schwierige Beweislage. Zum einen stehen als Beweismittel häufig nur Zeug:innenaussagen zur Verfügung, die das Geschehen jeweils aus ihrer Perspektive darstellen. Dabei steht meist eine ganze Gruppe von Beamt:innen wenigen Betroffenen gegenüber. Zum anderen treten Polizist:innen bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen, die für rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübung eine besondere Rolle spielen, häufig in Schutzausrüstung, behelmt oder gar vermummt auf, sodass sie von Zeug:innen und auf Videos mitunter nur schwer identifiziert werden können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte Deutschland angesichts dessen bereits 2017 dazu aufgefordert, eine individualisierte Kennzeichnungspflicht einzuführen oder auf andere Weise zu gewährleisten, dass eine effektive Strafverfolgung von Polizist:innen möglich ist.3) Gleichwohl gibt es eine solche Kennzeichnungspflicht in zahlreichen Bundesländern nach wie vor nicht. Die fehlende Identifizierbarkeit der handelnden Beamt:innen führt dazu, dass ein Teil der Verfahren mangels Beweisen eingestellt wird, und entmutigt die Geschädigten, Anzeige zu erstatten.4)
Drittens werden Polizist:innen nicht nur von den Kolleg:innen, sondern auch von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten als besonders glaubwürdig erachtet. Als sogenannte Berufszeug:innen gelten sie in der Justiz verbreitet als zuverlässiger als zivile Zeug:innen, was die Forschung allerdings nicht bestätigt.5)
Nur die Spitze des Eisbergs
Bei den registrierten, von den Staatsanwaltschaften erledigten Verfahren handelt es sich indes nur um die Spitze des Eisbergs. Die meisten Verdachtsfälle rechtswidriger Polizeigewalt verbleiben im Dunkelfeld, weil sie weder von anwesenden Beamt:innen noch von den Betroffenen angezeigt werden und damit in keine Statistik Eingang finden. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die solche Polizeigewalt erfahren, dies nur selten anzeigen – unter anderem, weil sie davon ausgehen, dass eine Verurteilung der Beamt:innen äußerst unwahrscheinlich ist oder sie negative Konsequenzen befürchten.6) Ein Teufelskreis.
Im Ergebnis wird nur eine Handvoll von Polizeibeamt:innen wegen Körperverletzung im Amt verurteilt. Melzer weist aber zu Recht darauf hin, dass selbst die beste Polizei der Welt statistisch ein gewisses Maß rechtswidriger Gewalt produzieren wird. Die geringen Verurteilungsquoten können deshalb und angesichts der eben beschriebenen Problematiken und Forschungserkenntnisse nicht etwa als Beleg dafür herangezogen werden, dass deutsche Polizist:innen so gut wie nie rechtswidrige Gewalt anwenden, sondern lassen im Gegenteil befürchten, dass ihre Kontrolle und Aufarbeitung nur sehr eingeschränkt funktioniert. Neben einer effektiven Kennzeichnungspflicht wird daher schon seit langem die Einrichtung unabhängiger externer Beschwerdestellen zur Aufklärung polizeilichen Fehlverhaltens diskutiert. Mindestens ebenso erforderlich scheint, dass sich die Polizei der Problematik stellt und damit beginnt, eine eigene Fehlerkultur zu entwickeln.
Die Proteste der Corona-Leugner:innen, die den Anlass für Melzers grundsätzliche Kritik boten, stellen insoweit keine Besonderheit dar, sondern verdeutlichen vielmehr den Normalzustand des Umgangs mit problematischer polizeilicher Gewalt in Deutschland. Ungewöhnlich ist allenfalls die breite Aufmerksamkeit, die die Vorfälle erfahren haben, wenngleich in den vergangenen Jahren durchaus eine Tendenz zu einer kritischeren zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit polizeilicher Gewalt zu beobachten ist.
Einer der Gründe für die erhöhte Aufmerksamkeit dieser Fälle bei den Protesten der Corona-Leugner:innen wird wohl auch darin liegen, dass die betroffene Gruppe hier eine besondere war. Denn polizeiliche Maßnahmen und Gewaltausübungen richten sich nicht gegen alle Menschen und Gruppen in der Gesellschaft in gleicher Weise, sondern betreffen marginalisierte oder außerhalb der Mehrheitsgesellschaft stehende Gruppen besonders. Die Funktion der Polizei besteht schließlich darin, eine bestimmte Ordnung aufrechtzuerhalten und durchzusetzen. Polizieren ist deshalb in erster Linie das Polizieren der Anderen, derjenigen, die im Widerspruch zu dieser Ordnung oder an ihrem Rand zu stehen scheinen. Mit Blick auf die Zusammensetzung der Proteste der Corona-Leugner:innen hat sich die polizeiliche Gewalt in diesen Fällen nun auch gegen Bevölkerungsgruppen gerichtet, die damit ansonsten selten oder gar nicht konfrontiert sind. Ein eher ungewohntes Bild, das in anderer Weise Aufsehen erregt – obwohl problematische polizeiliche Gewaltausübungen in anderen Kontexten oft eine ganz andere Dimension erreichen.
Diskurs, Dominanz und Kontrolle
Die Polizei übt Gewalt nicht als Selbstzweck aus, sondern im Namen der Gesellschaft. Ihre Gewaltlizenz leitet sich aus dem Auftrag ab, den diese ihr erteilt. Damit kommt der Polizei eine große Verantwortung zu. Zum einen setzt sie mit der Entscheidung darüber, wo, wann und gegen wen sie Gewalt anwendet, gewichtige Signale. Sie definiert, wo eigeschritten werden muss, wer die gesellschaftliche Ordnung stört und gefährdet. Auch das Verhältnis von Polizei und Bevölkerung zueinander hat viel damit zu tun, wie die Polizei gegenüber den Bürger:innen auftritt.
Innenpolitik und Polizei betonen seit einigen Jahren verstärkt Aspekte wie Eigensicherung und „Gewaltfähigkeit“ und betreiben eine teils militärisch anmutende Aufrüstung der Organisation. Das Bild der freundlichen Bürger:innenpolizei, die Probleme lösen und Hilfe leisten soll, verliert so an Bedeutung; die Rolle als Gewaltarbeiter:innen und Konfliktpartei in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen tritt stärker hervor. Eine solche Entwicklung begründet die Gefahr einer Eskalationsspirale, in der die Polizei Teile der Bevölkerung als Gegner betrachtet und von diesen entsprechend wahrgenommen wird.
In solchen Konstellationen ist die Polizei darauf bedacht, Dominanz zu vermitteln, und diese auch in der nachträglichen Auseinandersetzung über die Deutung der Ereignisse zu behalten. Kritik wird oft reflexhaft abgewehrt oder aber mit dem Verweis auf angeblich steigende Gewalt gegen die Polizei, einem Evergreen des Whataboutism, gekontert. Die Politik, die eigentlich dafür zuständig ist, Aufsicht und Kontrolle über die Polizei auszuüben, ist aus Sorge vor dem unweigerlichen Backlash, um ihren Rückhalt in der Behörde und vor einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung oft nur bedingt dazu bereit – eine problematische Diskurslage. Wenn die Minimalforderungen nach einer effektiven Kennzeichnungspflicht und unabhängigen Beschwerdestellen als Generalverdacht gegen die Polizei verschrien werden und es zum guten politischen Ton gehört, trotz offenkundiger Gewaltexzesse zu behaupten, Polizeigewalt habe es nicht gegeben, steht die Debatte gewissermaßen Kopf.
Abgesehen davon, dass es sich bei Kontrolle und rechtsstaatlicher Einhegung der Polizei um demokratische Selbstverständlichkeiten handeln sollte, würde gerade die Polizei von einem offenen Umgang mit Fehlern und Kritik profitieren.
Schluss
Der UN-Sonderberichterstatter hat mit seinem Blick von außen den Finger in eine Wunde gelegt, die von den Institutionen in Deutschland immer noch viel zu wenig beachtet wird: Staat und Politik, aber auch die Gesellschaft insgesamt tun sich schwer damit, Vertreter:innen einer Organisation, der man vertrauen können will und auf deren Tätigkeit man angewiesen ist, als fehlerbehaftet zu sehen und entsprechend zur Verantwortung zu ziehen. Als Folge dessen werden in Deutschland – wie auch in anderen Ländern – Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung oft nicht konsequent aufgearbeitet. Die Zahlen dazu sprechen eine klare Sprache. Was Nils Melzer zu Recht zum Thema gemacht hat ist nichts weniger als ein strukturelles Defizit bei der rechtsstaatlichen Kontrolle exekutiven Handelns, das nach einem entsprechenden Ausgleich verlangt. Kennzeichnungspflicht sowie mehr Unabhängigkeit und Spezialisierung bei der Aufarbeitung mutmaßlichen Fehlverhaltens – etwa in Form angemessen ausgestatteter unabhängiger Beschwerdestellen – könnten erste Schritte sein, dieser Schieflage zu begegnen.
Von Benjamin Derin und Tobias Singelnstein ist im März 2022 das Buch „Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation“ bei Ullstein / Econ erschienen.
References
↑1 | Der gesamte Vorgang ist unter https://spcommreports.ohchr.org/Tmsearch/TMDocuments in der Communications Database der UN verfügbar. Deutsche Zitate von Melzer stammen aus seinem Interview mit der WELT: B. Stibi, 19.04.2022, „Andernfalls ist man bloß eine Schönwetter-Demokratie“ (https://www.welt.de/politik/deutschland/plus238239153/Polizeigewalt-auf-Corona-Demos-Andernfalls-ist-man-bloss-eine-Schoenwetter-Demokratie.html). |
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↑2 | Singelnstein NK 2014, 15 ff. |
↑3 | EGMR NJW 2018, 3763. |
↑4 | Abdul-Rahman/Espín Grau/Singelnstein: Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol), https://kviapol.rub.de, Bochum 2020, S. 73 f. |
↑5 | Theune, Polizeibeamte als Berufszeugen im Strafverfahren, Baden-Baden 2020. |
↑6 | Abdul-Rahman, Laila; Espín Grau, Hannah; Singelnstein, Tobias: Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol), https://kviapol.rub.de, Bochum 2020, S. 63 ff. |