Täglich grüßt das Murmeltier: Rechtmäßigkeit von Grenzschließungen aus Regierungssicht
Manchmal ist das Leben wie ein Spielfilm. So erinnert die Debatte über die Rechtmäßigkeit von Grenzschließungen inzwischen an die Hollywood-Komödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“, die 1993 einen TV-Moderator denselben Tag dutzendfach durchleben ließ. Auch die vermeintliche „Grenzöffnung“ zur Hochzeit der Flüchtlingskrise wird immer wieder betrachtet. Die neueste Wendung liefert eine Recherche von Manuel Bewarder zur „Verschlusssache Grenze“ für die Welt am Sonntag, die auf einem internen Regierungspapier beruht, wonach die Grenze im Herbst 2015 hätte geschlossen werden können. Das Papier stellte die Welt online verfügbar.
Intuitiv dürften sich all diejenigen bestätigt fühlen, die schon immer der Meinung waren, dass die Regierungspolitik falsch und rechtswidrig war. Doch was gibt das Papier wirklich her? Eine sorgsame Lektüre erlaubt nicht nur Einblick in den juristischen Maschinenraum der damaligen Entscheidungen, sondern zeigt auch manch überraschendes Ergebnis.
Grenzschließung als rechtliche Option
Kritiker der Regierungspolitik dürften sich vor allem durch das Ergebnis bestärkt fühlen, wenn das Papier scheinbar eindeutig formuliert, dass eine „rechtliche Möglichkeit“ aufgezeigt wurde, Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen, sodass nun „politisch zu entscheiden“ sei, ob man die Option nutzen wolle. Hier wird für rechtlich möglich gehalten, was viele Kritiker damals gefordert hatten. Dies ist zweifellos ein Neuigkeitswert und dennoch ist das Papier kein Beleg für die verbreitete These, dass die Bundesregierung einen Rechtsbruch begangen habe. Die Beamten sagen nur, dass man die Grenze rechtmäßig hätte schließen können, nicht jedoch, dass diese geschlossen werden musste. Eine rechtliche Option aus politischen Gründen nicht zu nutzen, ist für sich genommen kein Rechtsbruch.
Regierungsintern: Mythos von der Ministeranordnung
In der Sache ist das Papier verständlich formuliert und zeugt dennoch von einer gründlichen Aufarbeitung einer komplexen Rechtslage, die ganz nebenbei mit einigen Mythen aufräumt, auf die Kritiker der Regierungspolitik häufig verweisen. So beginnen die Überlegungen zur Zurückweisung von Asylsuchenden mit dem in den sozialen Netzwerken gerne zitierten deutschen Asylgesetz. Nach dem Wortlaut von § 18 Absatz 2 ist nämlich jedem Asylbewerber die Einreise zu verweigern, der aus einem sicheren Drittstaat nach deutschem Recht einreist, also etwa aus Österreich. Da eine Ausnahme eine Ministeranordnung verlangt (§ 18 Abs. 4 S. 2), hält sich bis heute hartnäckig der Vorwurf, dass ein „Geheimerlass“ existiere. Das klingt nach einem guten Thriller und nährt Verschwörungstheorien.
Ganz anders jedoch das Hintergrundpapier. Es begnügt sich mit einer knappen Schilderung des nationalen Rechts und beendet diese mit einem Satz, der Kritiker der Regierungspolitik ärgern dürfte. Im Papier, das die Welt am Sonntag veröffentlichte, steht schwarz auf weiß: „Allerdings hat die Dublin-Verordnung grds. Anwendungsvorrang vor nationalem Recht.“ Als ich dasselbe in meiner Debatte mit Thilo Sarrazin schrieb, musste ich in den Kommentarspalten heftige Kritik einstecken. Nun unterstützen die Beamten der Berliner Ministerien diese Sicht. Dies wiederum ist kein Zufall, denn in juristischen Fachkreisen ist es heute ein Allgemeinplatz, dass das nationale Recht im Konfliktfall hinter EU-Vorgaben zurücksteht.
Für unsere Zwecke folgt hieraus, dass die regierungsinterne Analyse gerade nicht davon ausgeht, dass eine Ministeranordnung nach deutschem Recht existiere, weil die Dublin-Verordnung nämlich verlangt, dass ein Staat alle Asylanträge prüft, die „an der Grenze oder in Transitzonen“ gestellt werden. Im Papier steht dies unverblümt – und man hätte sich gewünscht, dass öffentliche Stellungnahmen gegenüber dem Bundestag dies ähnlich klar ausdrücken. Dort wurde der Wortlaut des deutschen Rechts nämlich häufiger wiederholt, ohne klar zu formulieren, dass das EU-Recht vorgeht. Stattdessen wurde allgemein auf die mündliche Anordnung des Innenministers verwiesen, mit der dieser am 13. September 2015 die Grenzkontrollen ohne eine Zurückweisung von Asylbewerbern anordnete (hier, S. 3), die Rechtsgrundlage für die Ministeranordnung erwähnt (hier, Vorbemerkung) oder betont offen formuliert, dass „im Kontext des europarechtlichen Regelungsgefüges“ auch Zurückweisungen an der Grenze „im Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung und des § 18 AsylG zulässig“ seien (hier, S. 29).
Mit dieser nebulösen Kommunikationspolitik nährte die Bundesregierung indirekt den Eindruck, wonach das deutsche Recht die Richtschnur für eventuelle Grenzschließungen sei. Ganz anders jedoch das interne Dokument. Es beendet nach dem Verweis auf den Anwendungsvorrang der Dublin-Regeln die nationalrechtliche Analyse und fragt im Weiteren nach europarechtlichen Argumenten, ob und wann man zurückweisen dürfe. Das wird all jene enttäuschen, die im Hintergrundpapier den Rechtsbruchmythos bestätigt zu sehen hofften. § 18 AsylG ist für die Antwort ebenso nicht maßgeblich. Maßgeblich sind heute die Dublin-Regeln nicht mehr die innerdeutsche Drittstaatsklausel des Asylkompromisses von 1992.
Österreich als sicherer Drittstaat?
Im internen Papier heißt es ganz offen, dass auch Asylanträge „an der Grenze oder in Transitzonen“ von Deutschland zu prüfen sind. Dies ergebe sich aus Artikel 3 Absatz 1 der Dublin III-Verordnung. Das klingt unscheinbar, bedeutet aber nicht anderes, als dass es im Herbst 2015 gerade nicht darum ging, rechtliche Argumente zu finden, die eine „Grenzöffnung“ rechtfertigen. Stattdessen sollte der rechtliche Normalfall überwunden werden, um eine „Grenzschließung“ rechtlich zu ermöglichen, die keine Asylgesuche an den Grenzen mehr zulässt. Aus Sicht des Ministeriums lag die rechtliche Begründungslast also bei denjenigen, die für eine Grenzschließung plädierten. Wegen des Vorrangs des EU-Rechts mussten diese Argumente für eine strengere Gangart europarechtliche sein.
Eine „primäre“ Begründungsstrategie versucht die Logik des § 18 AsylG auf die vorrangigen EU-Regeln zu übertragen, indem Österreich zum sicheren Drittstaat im Sinn des Europarechts erklärt wird. Bereits sprachlich wird deutlich, dass hier die Beamten juristisch kalte Füße hatten. Es wird nicht im Indikativ Präsens ein Ergebnis formuliert, sondern eine „Frage“, deren positive Beantwortung im Sinn einer Grenzschließung betont vorsichtig als „vertretbar“ und „mit rechtlichen Risiken behaftet“ präsentiert wird. Derartige Begriffe verwenden Juristen, wenn sie unsicher sind – und gerade der Kontrast zur ansonsten selbstbewussten Sprache des internen Papiers macht deutlich, wie unsicher die Verfasser hier waren.
In der Sache waren die Zweifel berechtigt und werden durch zwei Entscheidungen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs gestärkt, die im Herbst 2015 noch unbekannt waren. Die These, dass Österreich ein Drittstaat im Sinn der Dublin-Regeln sei, lässt sich heute kaum noch halten. Warum?
Dem Wortlaut nach erlaubt Artikel 3 Absatz 3 der Dublin III-Verordnung eine Zurückweisung in sichere Drittstaaten nur „nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU“, die im Papier auch genannt wird. In der Richtlinie meint der Begriff „Drittstaat“ im Einklang mit der ständigen EU-Terminologie jedoch Länder, die nicht der EU angehören und damit kein „Mitgliedstaat“ sind. Ausdrücklich heißt es in der einschlägigen Verfahrensvorschrift, dass es bei einem Drittstaat um einen „Staat (geht), der kein Mitgliedstaat ist“ (Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe c der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU). Das scheint klar zu sein und dennoch möchte das Regierungspapier dies „in einer Gesamtbetrachtung“ anders sehen und verweist ergänzend auf §§ 26a, 18 des deutschen Asylgesetzes.
Zu diesen Vorschriften äußerte sich inzwischen jedoch das höchste deutsche Verwaltungsgericht, das im Zweifel auch über die Rechtmäßigkeit einer Regierungsanordnung zur Grenzschließung zu entscheiden hätte. In einem Beschluss von März 2017, der durch ein weiteres Urteil bestätigt wurde, befanden die Leipziger Richterinnen und Richter, dass die deutsche Drittstaatsklausel nicht auf Bulgarien anzuwenden sei: „Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, weil sicherer Drittstaat … bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nur ein Staat sein kann, der nicht Mitgliedstaat der EU ist“ (Rn. 12).
Verfahrenskautelen im Fall einer Zurückweisung
Doch selbst wenn man die Drittstaatsklausel auf Österreich anwenden hätte können, wäre die Aktivierung viel komplizierter als mancher denken mag. Man hätte Asylbewerber nämlich nicht einfach zurückweisen können, sondern hätte all die „Bestimmungen und Schutzgarantien“ der Verfahrens-Richtlinie anwenden müssen, auf die Artikel 3 Absatz 3 der Dublin III-Verordnung verweist. Hierbei geht es, wie ein EuGH-Urteil zu ungarischen Transitzonen vom März 2016 bestätigte, um ein Asylverfahren nebst Anhörung und Rechtsschutz (Rn. 62). Es ist dasselbe Verfahren, das in den griechischen Hotspots viele Monate dauert. Gewiss könnte Deutschland schneller sein, aber einige Tage dauert es.
Wer auf die „Drittstaatslösung“ nach dem Regierungspapier setzt, dürfte also schnell enttäuscht werden, denn dieses wäre schwer umzusetzen. Das gilt für den Herbst 2015 ebenso wie für die Gegenwart. Unabhängig hiervon dürfte das interne Papier den Beamten im Innenministerium noch Kopfzerbrechen bereiten. Es geht nämlich von einer anderen Rechtslage aus als die bilateralen Vereinbarungen mit Griechenland und Spanien, mittels derer die Große Koalition aktuell die Dublin-Rückführungen beschleunigen möchte. Ein Dublin-Verfahren ist dort ebenso wenig vorgehen wir ein Drittstaatsverfahren nach EU-Regeln. Den Beamten könnte nun auf die Füße fallen, was Sie den Politikern im Herbst 2015 aufschrieben.
Ausnahme in Krisensituationen
Der „sekundäre“ Begründungsstrang betrifft eine Norm, die nicht nur die Regierung als Stellschraube für krisenbedingte Ausnahmen diskutiert: Artikel 72 des EU-Arbeitsweisevertrags, der die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ betrifft. Dass man diese Klausel nutzen könnte, um den Europäischen Gerichtshof (EuGH) davon zu überzeugen, dass die normalen Dublin-Regeln in Krisenzeiten nicht gelten, argumentierte auch die österreichische Bundesregierung, als diese eine Obergrenze nebst Zurückweisungen einführte, die bisher freilich noch nie aktiviert wurde.
Dass man hiernach eine härtere Gangart hätte rechtfertigen können, sagte ich selbst im Februar 2016 in einem Spiegel-Interview. Ausführlicher präsentierte ich die juristischen Argumente gemeinsam mit Kay Hailbronner in der Juristenzeitung. Allerdings ging es dabei nur um die rechtliche Möglichkeit von punktuellen Grenzschließungen. Eine Rechtswidrigkeit der damaligen Politik behauptete ich ebenso wenig wie das interne Papier. Auch bei Artikel 72 gilt: rechtliche Optionen und politische Entscheidungen sind zwei paar Stiefel.
Nun hatte der EuGH zum Zeitpunkt all dieser Stellungnahmen noch nicht entschieden, dass die Dublin-Verordnung auch während der Flüchtlingskrise anzuwenden war. Dies stellte erst das Jafari-Urteil im Juli 2017 fest. In dem Urteil betonte der Gerichtshof nachdrücklich, dass die Dublin-Regeln auch in der Krise anzuwenden waren. Artikel 72 erwähnen die Richter nicht. Dies erhöht die Argumentationslast erheblich, in künftigen Verfahren auf die Ausnahmeklausel zu verweisen, widerlegt den Gedanken aber nicht definitiv. Bisher war der EuGH nämlich überhaupt nicht mit der Situation konfrontiert, dass ein Mitgliedstaat unter Verweis auf die Ausnahmeklausel die Dublin-Regeln punktuell außer Kraft setzte.
2015 ist nicht 2018
Für unsere Zwecke wichtiger ist die Einsicht, dass die Ausnahmeklausel immer nur akute Notlagen betrifft. Im Winter 2015/16 mag eine akute Krise im Sinn des Artikels 72 bestanden haben, die es aktuell an der deutschen Binnengrenze jedoch nicht mehr gibt. Im gesamten September 2018 wurden in Deutschland „nur“ 11.239 Asylerstanträge gestellt; so viele Personen reisten im Herbst 2015 beinahe pro Tag ein. Aus dem Krisenargument kann also kein Nektar saugen, wer aktuell die Grenzen schließen möchte. Außerhalb von Notsituationen gilt nämlich der rechtliche Normalfall der Dublin-Verordnung, die im Einklang mit dem internen Papier keine direkte Zurückweisung von Schutzsuchenden ermöglicht.
Doch selbst wenn man damals unter Verweis auf die Ausnahmeklausel die Grenze geschlossen hätte, hätte dies juristische Nebenwirkungen haben können. Ganz ähnlich wie bei der oben diskutierten Drittstaatsklausel unterliegt nämlich auch jede sonstige Grenzschließung prozeduralen Kautelen, die die praktische Umsetzung erheblich komplizieren. Diese werden im Papier versteckt unter der Überschrift „Auswirkungen“ behandelt. Spätestens vor den Gerichten hätte sich die Regierung mit komplexen Rechtsfragen wie dem genannten Kollektivausweisungsverbot oder den Schutznormen für unbegleitete Minderjährige befassen müssen. Für ein einfaches „Grenze zu“ plädierten die Beamten also nicht.
Nun wäre die Strategie im Herbst 2015 wohl ohnehin eine andere gewesen. Bis Gerichte reagieren, dauert es einige Tage. Viel länger hätte die Grenzschließung aber ohnehin nicht gedauert. Laut Welt am Sonntag ging die Bundespolizei davon aus, logistisch ungefähr eine Woche durchzuhalten. Man hätte also auf symbolische Abschreckung gesetzt und darauf spekuliert, dass die Balkanroute im Sinn eines Dominoeffekts schnell geschlossen würde. Das bekräftigt ein zweites Hintergrundpapier, das die Welt veröffentlichte.
Fazit: Politik statt Recht
Für Juristen wie mich bleibt nach der Lektüre des Papiers ein ambivalenter Eindruck zurück. Es freut mich, dass die regierungsinternen Überlegungen differenzierter waren als manch öffentliche Debatte. Wenig überraschend ist auch, dass das Papier rechtliche Handlungsräume offen diskutierte, sich also nicht darauf zurückzog, dass dieses und jenes rechtlich schwierig sei. Gerade in Krisen ist die Suche nach Spielräumen legitim.
Dass die Beamten hierbei, ähnlich wie ein Anwalt, bis an die Grenze des Vertretbaren gehen, kann ich nachvollziehen. Ob die Gerichte den juristischen Konstruktionen gefolgt wären, steht naturgemäß auf einem anderen Blatt. Im Lichte jüngerer Urteile wissen wir jedenfalls, dass einiges noch komplizierter ist als die Regierung annahm. Vermutlich ahnte mancher dies schon damals, allein die Strategie war eine andere: Man nutzte die Spielräume und hoffte, dass die faktische Wirkung eintritt, bevor die Gerichte entscheiden.
Dies hätte im Herbst 2015 vielleicht funktioniert, scheidet in der Gegenwart jedoch aus. Wer aktuell die Grenzen schließen möchte, muss auch juristisch nachhaltiger argumentieren. Kurzfristige Maßnahmen, die von den Gerichten kassiert werden, würden die Bürger nur noch mehr frustrieren. Insofern schwächt das Papier die juristische Position derjenigen, die aktuell für Grenzschließungen plädieren oder sogar die Annahme eines Rechtsbruchs nähren. Speziell für die letzte Behauptung gibt das Dokument nichts her.
Es bleibt die Frage nach dem Murmeltier. Die Lektion des Hollywood-Spielfilms war, dass der Hauptdarsteller in der Endlosschleife des immer gleichen Tagesablaufs schrittweise sein Leben verändert und am Ende sogar die Frau gewinnt, die ihn zuvor dutzendfach abgewiesen hatte. Man kann nur hoffen, dass auch die Welt-Recherche die öffentliche Diskussion zu läutern hilft. Manch juristischer Mythos wird durch das Dokument zerstört. Die Kernaussage ist eindeutig: Über das Ob und gegebenenfalls den Umfang einer Grenzschließung „ist politisch zu entscheiden.“ Demgemäß sollte auch die Aufarbeitung primär eine politische sein.