TTIP und Verfassungsrecht
Endlich ein Forum! Die juristische Literatur zu den Investitionsschutzabkommen hat deren problematisches Verhältnis zum Verfassungsrecht bisher auffällig beschwiegen, aus der Außensicht liegen die Problemzonen aber klar vor Augen. Anstößig sind die Verpflichtung der Staaten zur „gerechten und billigen Behandlung“ der Investitionen aus dem Ausland und die Unterwerfung des Staates unter Schiedsgerichte, die von den Investoren selbst angerufen werden und den Staat zu Entschädigungen verurteilen können. Diese Regelungen widersprechen mehrfach dem deutschen Grundgesetz (GG). Sie bringen die demokratisch begründete Staatsgewalt unter Fremdbestimmung (1), verdrehen die Garantie des Rechtsweges (2), zwingen den Staat zur Ausländerprivilegierung und Inländerdiskriminierung (3) und enthalten eine Selbstermächtigung der Europäischen Union (EU), die dieser nach den EU-Verträgen nicht zusteht (4). Auch mit dem Verfassungsrecht anderer Staaten, namentlich dem der USA, dürften sie nicht vereinbar sein (5).
(1) Nach Art. 20 III GG sind die deutsche Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden, an mehr aber nicht! Vielmehr betont das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) immer wieder, besonders in den Urteilen zur europäischen Integration, dass die deutsche Staatsgewalt, die sich an das GG und die Gesetze hält, im übrigen ihre volle Handlungsfreiheit behalten muss. Das ist einerseits eine Sache der Souveränität. Das GG begründet die Bundesrepublik als unabhängigen Staat, also mit niemandem rechtlich über sich. Die deutschen Staatsorgane dürfen ihren Staat nur insoweit an fremden Willen rechtlich binden, als das GG es selbst vorsieht, so an die europäische Integration (Art. 23 GG), an „zwischenstaatliche Einrichtungen“, an kollektive Sicherheitssysteme und an Schiedsgerichte „zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten“ (Art. 24 GG). Die Freiheit von Fremdbestimmung wird aber auch durch das demokratische Prinzip gefordert (Art. 20 I und II GG), da der deutsche Staat seine Legitimität nur aus der Verfassung und vom Volk durch Wahlen und Abstimmungen erhält. Dagegen verstößt es, wenn der deutsche Staat an Rechtsregeln gebunden wird, die ohne Stütze im GG für ihn geschaffen wurden und die hinausgehen über das, was nach dem GG und den Parlamentsgesetzen für ihn verbindlich ist.
Eine ausdrückliche, gegen den Staat einklagbare Verpflichtung zur gerechten und billigen Behandlung der Bürger, die über die Beachtung der Grundrechte und die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats hinausgeht, kennt das GG nicht. Das TTIP soll sie aber zugunsten ausländischer Investoren ausdrücklich aufstellen; es soll ihnen ein vom deutschen und amerikanischen Staat unantastbares „Grundrecht auf ungestörte Investitionen“ (Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung) verschaffen. Jeder amerikanische Investor, dem ein neues deutsches Gesetz oder eine Behördenentscheidung, auf welchem Gebiet auch immer, unbequem wird, könnte der Bundesrepublik vorwerfen, sie behandele ihn ungerecht und schulde Entschädigung, selbst wenn der Gesetzgeber oder die Behörde alle nach dem GG und dem Verwaltungsrecht bestehenden Bindungen, auch die nach Art. 3 GG und Art. 14 GG, beachtet hat und deshalb nach dem bestehenden Recht vor deutschen Gerichten nicht angreifbar wäre. Was allein diese Drohung für die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers und der Behörden bedeuten kann, ist offensichtlich. Hinzu kommt die Auswirkung einer tatsächlichen Verurteilung des Staates zur Entschädigung. Sie schafft eine Verbindlichkeit des Staates ohne Zustimmung des Parlaments und verletzt damit dessen Haushaltshoheit. Der deutsche Staat wird durch die konturenlose Blankettklausel über „gerechte und Behandlung“ einer unberechenbaren, seinen Haushalt belastenden Fremdbestimmung ausgeliefert.
Die Fremdbestimmung wird vervollständigt durch die vorgesehene Schiedsgerichtsbarkeit. Ein Kernelement der Souveränität ist nach ganz herrschender Auffassung, dass der einzelne Staat sein hoheitliches Handeln nicht vor fremden Gerichten verantworten muss. Das GG (Art. 24) erlaubt der Bundesrepublik zwar die Unterwerfung unter internationale Schiedsgerichtsbarkeit, aber nur für Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten, nicht auch für Ansprüche von Personen und Unternehmen des Privatsektors gegen den deutschen Staat, und die Schiedsgerichtsbarkeit zwischen Staaten hat es meistens auch nicht mit Geldforderungen der Staaten untereinander, sondern mit der Klärung anderer Ansprüche und Streitfragen zu tun. Den deutschen Staat wegen seines hoheitlichen Handelns der Schiedsklage von Privaten auszusetzen, ist etwas ganz anderes. Staaten, die miteinander streiten, haben es jederzeit in der Hand, ob und mit welchem Ziel sie den Streit überhaupt gerichtlich führen oder lieber diplomatisch regeln und wie weit und wie lange sie das Gerichtsverfahren betreiben wollen, sie werden dabei auch ihr nach dem Streit weiterhin unverrückbares Nebeneinander im Blick haben. Private Kläger brauchen darauf keine Rücksicht zu nehmen, diplomatisch vorgehen müssen sie nicht und können sie oft auch nicht. Mit einer gesetzlich oder staatsvertraglich konzedierten Schiedsgerichtsbarkeit gegen sich für Private geben die Staaten ihren Vertrag und ihren möglichen Streit über seinen Inhalt aus der Hand. Dafür enthält das GG keine Ermächtigung.
(2) Nach Art. 19 IV GG steht jedem, der durch die deutsche öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Weg zu den deutschen Gerichten offen. Diese Rechtsweggarantie gilt auch für Ausländer. Sie gilt umgekehrt auch für den deutschen Staat. Er braucht sich nur vor seinen Gerichten, nicht auch vor anderen als seinen eigenen, für sein hoheitliches Handeln zu verantworten. Das folgt nicht nur aus seiner Souveränität, sondern eben auch aus seiner in Art. 19 IV GG festgelegten Stellung gegenüber der Einzelperson.
Der Gehalt von Art. 19 IV GG wird vom TTIP unzulässig verdreht. Die vorgesehenen Schiedsgerichte sollen für Klagen aus dem Abkommen allein zuständig sein. Ausländischen Investoren würde damit ihr Recht genommen, den deutschen Staat bei seinen Gerichten zu verklagen. Umgekehrt wird der deutsche Staat einer zusätzlichen Gerichtsbarkeit ausgesetzt, die Art. 19 IV GG nicht vorsieht. Es ist erstaunlich, dass diese sehr klare Regelung, die zentral ist für das deutsche Verständnis des Rechtsstaats, im Investitionsschutzrecht bisher nicht beachtet worden ist.
(3) Nach Art. 3 III GG darf niemand wegen seiner Heimat und Herkunft benachteiligt und bevorzugt werden. Das TTIP soll aber eben dies bewirken. Es soll die Europäer in den USA und die Amerikaner in der EU gegen dortige staatliche Wirtschaftshemmnisse schützen, für den Schutz der Europäer und Amerikaner in ihrem Heimatbereich ist es nicht da. Deutsche Bürger und Unternehmen können sich also gegen Deutschland nicht auf das Abkommen berufen, also etwa auf die Pflicht zur billigen und gerechten Behandlung ihrer Investition (unabhängig vom sonstigen deutschen Recht) und den Zugang zu einem Schiedsgericht (statt zu deutschen staatlichen Gerichten), wohl aber können es amerikanische Bürger und Unternehmen. Das ist klare Inländerdiskriminierung und Ausländerprivilegierung, unvereinbar mit Art. 3 GG.
(4) Das BVerfG hat es nun oft genug ausgesprochen: Die EU kann sich nicht selbst neue Kompetenzen schaffen. Eine Erweiterung ihrer Kompetenzen ist nur durch eine Änderung der Europäischen Verträge möglich. Hält die EU sich daran nicht, können ihre aus der gegebenen Kompetenzordnung „ausbrechenden“ Rechtsakte vom EuGH, und wenn dieser es nicht tut, vom BVerfG abgewehrt werden.
Das TTIP verspricht den Schutz gegen Handelshemmnisse für alle Politikbereiche, auf denen ein Staat durch seine Gesetze und Behörden den ausländischen Investoren Verdruss bereiten kann, sei es durch Steuern, Beihilfen an Konkurrenten oder an andere Wirtschaftszweige, Regelungen zu Sozialversicherung, Arbeitsrecht und Verbraucherschutz, durch Umweltauflagen, Energiepolitik, Sicherheitsstandards, Gewerbepolizei, Kapitalmarktregulierung bis hin zu Rechtsregeln im Schul-, Wissenschafts- und Kulturbereich. Die EU ist jedoch nur für einzelne Politikbereiche zuständig, etwa ganz klar nicht für Steuern und Kultur. Ein amerikanischer Investor, vielleicht auch die USA selbst, könnten aber mit TTIP die Bundesrepublik vor ein Schiedsgericht bringen mit der Behauptung, ein neues Steuergesetz oder der Unterricht in deutscher Sprache in Schulen mit Schulpflicht sei eine „ungerechte und unbillige Behandlung“ ihrer Investition oder ihres amerikanischen Personals in Deutschland, und die Bundesrepublik könnte dann von einem Schiedsgericht unter Umständen tatsächlich zur Entschädigung verurteilt werden. Die EU hat aber evident keine Kompetenz zur Besteuerung , weder zur Einführung eigener Steuern noch zur Bewertung der Steuern in Mitgliedstaaten, soweit diese nicht gegen sonstiges bestehendes EU-Recht verstoßen, noch zur Aufstellung eigener Kriterien für gerechte und billige Besteuerung. Und sie hat evident auch keine Kompetenz zur Regelung des allgemeinen Schulwesens in den Mitgliedstaaten. Das Abkommen der EU aber, das solche Kontrollmaßstäbe für das Steuerrecht und das Schulrecht vorsähe, wäre eine klare Überschreitung des der EU durch die EU-Verträge gesetzten Kompetenzrahmens, es wäre die Anmaßung einer Regelungskompetenz, welche, besonders im Steuerrecht, die Mitgliedstaaten ihr bewusst vorenthalten.
Die Anmaßung wird noch grundsätzlicher dadurch, dass die EU mit TTIP sich selbst und die Mitgliedstaaten vor internationale Schiedsgerichte bringen will. Für die Aushändigung der ihr übertragenen Hoheitsmacht an fremde Richter und für den Eingriff in den Kernbereich der mitgliedstaatlichen Souveränität fehlt der EU elementar die nötige Rechtsmacht. Ihre unbestrittene Außenkompetenz berechtigt sie zum Abschluss von Freihandels- und Investitionsschutzverträgen, jedoch nicht zur Auslieferung ihrer selbst und ihrer Mitgliedstaaten an internationale Gerichte, bei denen Personen und Unternehmen des Privatrechts gegen hoheitliches Handeln der EU und der Mitgliedstaaten klagen können. Diese Klagerechte sind für den Abschluss und die spätere Einhaltung solcher Abkommen nicht notwendig. Es geht auch anders – nämlich mit Schiedsgerichten nur zwischen den Parteien des völkerrechtlichen Vertrages selbst – wie das System der Streitbeilegung der WTO es zeigt, das vollkommen ohne private Klagerechte auskommt. Und auch die Schiedsgerichtsbarkeit über Investitionsstreitigkeiten bei der Weltbank (ICSID), die mit dem Abkommen von 1965 eingerichtet wurde, setzt nach Art. 25 des Abkommens für die Klage des privaten Investors jedenfalls das Einverständnis des dort angegriffenen Staates voraus.
Die genannte Bestimmung wird allerdings in der Praxis so ausgelegt, dass das Einverständnis des Staates schon in dem Investitionsschutzabkommen gesehen werden kann, mit welchem er ein Klagerecht für alle Investoren aus dem anderen Vertragsstaat begründet hat. Das ist aber eine für die Schiedsgerichtsbarkeit befremdliche Auslegung. Die Schiedsvereinbarung setzt in der Regel voraus, dass ein bestimmtes Rechtsverhältnis zwischen den Parteien schon besteht, aus dem schiedsfähige Ansprüche entstehen können, so etwa § 1029 ZPO, der internationalen Standard wiedergibt. Dass jemand einem noch ganz unbestimmten Personenkreis ein Schiedsangebot macht, das dann von jedem, der die Voraussetzungen erfüllt, angenommen werden kann (hier: von den Investoren aus dem anderen Vertragsstaat), passt nicht zu den Schutzvorkehrungen gegen unbedachte und grenzenlose Preisgabe von staatlichem Rechtsschutz, die das Schiedsrecht überall sonst aufstellt. Die dem widersprechende herrschende Auslegung des Abkommens ist offensichtlich interessengeleitet, denn nach Art. 41 des Abkommens entscheidet das angerufene Schiedsgericht selbst über seine Zuständigkeit. Die Schiedsrichter, einmal eingesetzt, und die juristischen Kreise, die das ICSID-System pflegen und stützen, werden nicht geneigt sein, den Anwendungsbereich des Systems zu schmälern. Wenn die Bundesrepublik sich gegen diese Auslegung aber nicht wehren kann, treffen das ICSID-Abkommen alle verfassungsrechtlichen Rügen, die man gegen das TTIP selbst erheben kann.
Es bleibt dabei: Die Gerichtspflichtigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten nach TTIP wäre ein klarer Eingriff der EU in die Souveränität der Mitgliedstaaten und eine unzulässige Abgabe von übertragener Hoheitsmacht, welche die EU nach den EU-Verträgen eigenverantwortlich auszuüben hat. Die Souveränitätsverhältnisse zwischen der EU und den Mitgliedstaaten würden auf den Kopf gestellt. Denn nicht die EU kann über die Souveränität der Mitgliedstaaten verfügen, sondern die Mitgliedstaaten haben ihr durch die Europäischen Verträge einzelne Hoheitsrechte übertragen, mehr aber nicht, auch nicht eine Kompetenz zur Weiterübertragung dieser Hoheitsrechte. Die EU-Kommission mag das anscheinend nicht vollkommen anerkennen. In ihrem Einleitungspapier zu dem jetzt laufenden Konsultationsverfahren schreibt sie, dass das TTIP ausdrücklich die Regelungsmacht der Staaten bestätigen solle, wenn sie legitime öffentliche Interessen verfolge. Im System der Europäischen Verträge bedarf es solcher Konzessionen nicht, und die EU hat auch nicht die Kompetenz, gegenüber einem Dritten, hier den USA, bindende Aussagen über die Regelungsmacht ihrer Mitgliedstaaten zu machen. Nach dieser Auffassung dürfte ein Investor immer noch vor das Schiedsgericht ziehen mit dem Vorwurf, der verklagte Staat habe mit seiner Regelung keine legitimen öffentlichen Interessen verfolgt. Der Eingriff in die Souveränität liegt aber schon darin, dass der Mitgliedstaat sich für sein hoheitliches Handeln überhaupt vor einem fremden Gericht gegenüber Privaten rechtfertigen muss.
Ein Abkommen der EU, das die EU und die Mitgliedstaaten zwingt, sich vor einem internationalen Schiedsgericht für ihr hoheitliches Handeln gegenüber privaten Personen und Unternehmen zu rechtfertigen, wäre ein klarer „Ausbruch“ der EU aus dem von den Europäischen Verträgen errichteten System und deshalb beim EuGH angreifbar. Zusätzlich bringt es dadurch nach seiner Rechtsprechung das BVerfG ins Spiel. Die Bundesrepublik dürfte dem Abkommen aber auch (im Rat der EU oder durch den Bundestag) nach ihrem eigenen Verfassungsrecht nicht zustimmen; dieser Souveränitätsverzicht wäre weder nach Art. 23 GG noch nach Art. 24 GG zulässig.
(5) Der Widerspruch zum Verfassungsrecht dürfte auch für viele der anderen Mitgliedstaaten und für die USA relevant werden, jedenfalls dort, wo Verfassungsgerichtsbarkeit besteht. Das trifft besonders für die USA zu. Die Stichworte liegen bereit: Es geht um Sovereignty, Powers of Congress, Regulatory (“Police”) Power, Rule of Law, Due Process, Equal Protection.
Si tacuisses… Nur ein Bemerkung: Natürlich kann sich der Staat des Grundgesetzes Bindungen unterwerfen, das ist “souveräne Freiheit zur Bindung” (der Zweite Senat hat auch nie a