Überwachen, Blocken, Delisten
Zur Reichweite der EU-Sanktionen gegen RT und Sputnik
Die Verordnung (EU) 2022/350 des Rates vom 1. März 2022, mit der Sanktionen betreffend Russia Today (RT) und Sputnik verhängt wurden, geht – anders als ersten Reaktionen zufolge – über ein Sendeverbot für diese Kanäle weit hinaus: Internetzugangsanbieter werden zu Websitesperren verpflichtet, und Social Media-Plattformen wird, abweichend von Art. 15 E-Commerce-Richtlinie, eine allgemeine Überwachungspflicht auferlegt.
Die restriktiven Maßnahmen bestehen aus (1) einem Verbot, von RT und Sputnik stammende Inhalte zu senden, (2) einem Verbot, das Senden dieser Inhalte zu ermöglichen, zu erleichtern oder sonst dazu beizutragen, (3) der Anordnung, dass Rundfunklizenzen und Genehmigungen ebenso wie Übertragungs- und Verbreitungsvereinbarungen ausgesetzt sind, und (4) einem Verbot, wissentlich und vorsätzlich an Aktivitäten zur Umgehung der Verbote teilzunehmen.
Das erste Verbot, Inhalte zu senden, die von RT und Sputnik stammen,1) richtet sich nicht allein gegen das technische Ausstrahlen2) der Rundfunkprogramme von RT und Sputnik, sondern untersagt auch, RT- und Sputnik-Inhalten in andere Rundfunkprogramme zu übernehmen. Dabei geht es selbstverständlich um Hörfunk- ebenso wie um TV-Inhalte; die von Baade aus der englischen Sprachfassung der AVMD-RL abgeleitete Einschränkung auf Fernsehinhalte überzeugt schon deshalb nicht, weil das Verbot dann im Hinblick auf das Hörfunkprogramm Sputnik ins Leere laufen würde: Es kann dem Rat aber nicht unterstellt werden, eine laut Anhang XV zur Verordnung ausdrücklich sanktionierte Einrichtung durch den Text der eigentlichen Sanktionsbestimmung wieder ausnehmen zu wollen. Zudem übergeht der – auch von Ferreau unternommene – Versuch, Begriffe der Verordnung anhand der AVMD-RL auszulegen, den völlig anderen systematischen Zusammenhang im Sanktionenrecht. Dort geht es darum, eine bestimmte ökonomische Aktivität möglichst lückenlos zu erfassen. Dass Rundfunklizenzen und -genehmigungen ausgesetzt werden, ist – entgegen der Ansicht Baades – auch kein Indiz dafür, dass nur Aktivitäten untersagt werden sollten, die derartige Lizenzen erfordern. Denn die Aussetzung betrifft Genehmigungen, die RT und Sputnik selbst innehaben, während sich das Verbot, RT- und Sputnik-Inhalte zu senden, an andere Rundfunkveranstalter und Netzbetreiber richtet.
Das Verbot kann viele treffen
Das zweite Verbot richtet sich gegen eine Art „Beitragstäterschaft“, die jenen vorzuwerfen ist, die das Senden ermöglichen oder erleichtern, oder die auf andere Weise dazu beitragen, dass die Inhalte „gesendet“ werden. Dabei stellt die Verordnung nicht bloß auf das Senden im engeren Sinne ab, sondern macht durch einen weiteren Halbsatz klar, dass auch „die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen“ verboten ist. Auch hier geht es nicht bloß um die (unveränderte) Verbreitung der RT- und Sputnik-Programme, sondern um alle Inhalte, die von RT und Sputnik stammen, egal ob in einem „Programm“ oder auf Abruf.
Die Verordnung nimmt allerdings nur „Betreiber“ in die Pflicht. Dieser – in der Verordnung nicht definierte – Begriff ist aus dem Zusammenhang des Sanktionenrechts und unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Verordnung auszulegen. Deren Zweck ist im Wesentlichen, die Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Union durch Propagandaaktionen der vom russischen Staat kontrollierten Medien abzuwenden (vgl. Erwägungsgrund 8 zur VO (EU) 2022/350). Es liegt daher nahe, „Betreiber“ (englisch: „operators“, frz. „opérateurs“) hier als Kurzform von „Wirtschaftsakteur“ (englisch: „economic operators“, frz. „opérateurs économiques“) zu verstehen. Wie beim Einsatz dieses Begriffs insbesondere im Produktrecht der Union geht es nämlich auch hier darum, möglichst alle Formen wirtschaftlicher Tätigkeit in Bezug auf die zu regelnde Materie zu erfassen – in Abgrenzung zu bloß privaten, nicht als Teilnahme am Wirtschaftsleben zu verstehenden Tätigkeiten.
Welche konkrete wirtschaftliche Tätigkeit ein „Betreiber“ ausübt, und wie diese Tätigkeit sonst regulatorisch einzustufen ist (etwa als Dienst der Informationsgesellschaft, Anbieten von Kommunikationsdiensten, audiovisueller Mediendienst, usw.), bleibt demnach unerheblich, solange er dadurch das Senden oder Verbreiten von RT- und Sputnik-Inhalten ermöglicht oder erleichtert, oder auf andere Weise dazu beiträgt. Neben den in der Verordnung ausdrücklich genannten „Internetdienstleistern“ oder Video-Sharing-Plattformen könnten das beispielsweise auch Hersteller von Mobiltelefonen sein, durch deren vorinstallierte Apps RT- oder Sputnik-Inhalte gestreamt werden können.
Allgemeine Überwachungspflicht auch für Intermediäre
Ein derart weites Verständnis des „Betreiber“-Begriffs liegt auch einem Mail aus der EU-Kommission zugrunde, das von Google in der Lumen-Datenbank veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich nicht um eine offizielle Position der Kommission, sondern um ein offenbar auf Beamtenebene verfasstes Schreiben, in dem Suchmaschinenbetreiber und Social Media-Plattformen als „operators“ (Betreiber) qualifiziert werden, die von der Verordnung umfasst sind. Dieses Schreiben unterlegt auch den Worten „ermöglichen, erleichtern und auf andere Weise beitragen“ – meines Erachtens zutreffend abgeleitet aus dem Zweck der Sanktionsregeln – ein sehr weites Begriffsverständnis. Suchmaschinen spielten eine entscheidende Rolle in der Verbreitung von Inhalten, so die (auf das EuGH-Urteil Google Spain gestützte) Argumentation. Wenn sie RT und Sputnik nicht „delisten“, d.h. aus Suchergebnissen entfernen, würden die Suchmaschinenbetreiber daher den Zugang der Öffentlichkeit zu deren Inhalten erleichtern.
Ähnliches gelte für Social Media: Auch diese seien „Betreiber“ im Sinne der Verordnung und müssten verhindern, dass User – egal ob private User oder RT und Sputnik selbst – Inhalte von RT und Sputnik verbreiten. Accounts von RT und Sputnik müssten schon deshalb suspendiert werden, da es sich dabei um Verbreitungsvereinbarungen im Sinne von Art. 2f Abs. 2 der Verordnung handle. Auch Postings privater User mit Inhalten von RT und Sputnik dürften nicht veröffentlicht werden; bereits veröffentlichte Beiträge seien zu löschen.
Das Mail aus der Kommission bringt auch zum Ausdruck, dass die Anforderungen an Social Media-Betreiber in einem Spannungsverhältnis zu Art. 15 der E-Commerce-RL stehen, aber das Abweichen von dieser Bestimmung eine bewusste Entscheidung gewesen sei. Die Kommission dürfte also die Verordnung so auslegen, dass damit eine aktive Überwachungspflicht auch für Hosting-Anbieter verbunden ist – eine Verpflichtung, wie sie die Mitgliedstaaten nach Art. 15 der E-Commerce-RL den Anbietern nicht auferlegen dürfte.
Aus dem Blickwinkel des Sanktionenrechts ist all das folgerichtig: Wenn es Unternehmern verboten ist, eine bestimmte Tätigkeit zu ermöglichen, zu erleichtern oder zu ihr beizutragen, dann ist selbstverständlich jeder Unternehmer auch dazu verpflichtet sicherzustellen, dass dies nicht durch seine geschäftlichen Aktivitäten bewirkt wird. Im Außenwirtschaftsrecht ist es anerkannt, dass Unternehmen dazu angehalten sind, „ein innerbetriebliches Compliance-Programm zur Einhaltung der Vorschriften des Außenwirtschaftsrechts zu implementieren“ (vgl. etwa das BAFA-Merkblatt Firmeninterne Exportkontrolle). In ähnlicher Weise obliegt es daher z.B. den Suchmaschinen und Social Media-Plattformen, ihre Risiken im Hinblick auf die Verbreitung sanktionierter Inhalte zu analysieren und interne Prozesse aufzusetzen, um im Rahmen des Möglichen diese Risiken zu minimieren und so im Streitfall den Nachweis mangelnden Verschuldens für eine Übertretung der Sanktionsbestimmungen führen zu können.
Websperren
Bei den in der Verordnung ausdrücklich erwähnten „Internetdienstleistern“ muss man hingegen differenzieren: Jene, die in direkten Vertragsbeziehungen zu RT und Sputnik stehen, weil sie etwa deren Angebote hosten oder die nötige Anbindung herstellen, sind jedenfalls Betreiber im Sinne der Verordnung, die eine Verbreitung ermöglichen. Internetzugangsanbieter, die keinen Vertrag mit RT oder Sputnik haben, stellen anderen Personen Zugang zum Internet bereit und tragen damit dazu bei, dass diese gegebenenfalls Inhalte von RT und Sputnik erreichen können. Auch diese reinen Access Provider müssen daher Maßnahmen ergreifen, um die Erreichbarkeit der RT- und Sputnik-Inhalte möglichst zu verhindern. Dazu ist es erforderlich, den Zugang zu den bekannten Websites dieser Angebote (bzw. zu Websites, auf die RT und Sputnik allenfalls ausweichen) zu sperren. Eine Beeinträchtigung der Netzneutralität im Sinne der Verordnung (EU) 2015/2120 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet ist damit nicht verbunden, denn Art. 3 Abs 3. Buchstabe a. dieser Verordnung erlaubt es, bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste zu blockieren, soweit und solange es dafür erforderlich ist, den Gesetzgebungsakten der Union zu entsprechen (siehe in diesem Sinne auch eine Stellungnahme von BEREC).
Und die Grundrechte?
Vorweg: Die Verordnung wurde auf der Grundlage eines vorangegangenen Beschlusses im Rahmen der GASP auf der Kompetenzgrundlage des Art. 215 AEUV erlassen und ist ein Instrument der Außenwirtschaftspolitik, nicht der Medienregulierung. Die Stammfassung der Verordnung aus dem Jahr 2014 war bereits Gegenstand mehrerer EuGH-Urteile (28.3.2017, C-72/15 Rosneft; 25.6.2020, C‑731/18 P, Vnesheconombank/Rat; 25.6.2020, C-729/18 P, VTB Bank/Rat; 17.9.2020, C‑732/18 P Rosneft/Rat). Im Urteil Rosneft betonte der EuGH, dass die geltend gemachten Grundrechte (unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC, Eigentumsrecht nach Art. 17 GRC) nicht uneingeschränkt gelten und ihre Ausübung Beschränkungen unterworfen werden kann, die durch im Allgemeininteresse liegende Ziele der Union gerechtfertigt sind – sofern die Beschränkungen tatsächlich diesen im Allgemeininteresse liegenden Zielen entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung führte in diesen Fällen zum Ergebnis, dass die Sanktionen rechtmäßig waren. Hervorzuheben ist, dass der EuGH dem Rat einen großen Spielraum einräumt, den Gegenstand der restriktiven Maßnahmen festzulegen. Eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme ist nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist. Vor diesem Hintergrund haben auch die gegen RT und Sputnik verhängten Maßnahmen eine gute Chance, die Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem EuGH jedenfalls im Hinblick auf Art. 16 und 17 GRC zu bestehen.
Ähnliches gilt auch für die sekundär betroffenen Dienstleister wie Netzbetreiber, Suchmaschinen, „Internetdienstleister“ oder Kommunikationsplattformen: Dass restriktive Maßnahmen definitionsgemäß Auswirkungen haben, die die Eigentumsrechte und die freie Berufsausübung beeinträchtigen, und dadurch Parteien schädigen, die für die Situation, die zum Erlass der Sanktionen geführt hat, nicht verantwortlich sind, hat der EuGH schon in seinem Urteil vom 30.7.1996, C-84/95, Bosphorus ausgesprochen und darauf im Urteil Rosneft wieder verwiesen. Dieser Umstand allein führt also nicht dazu, dass der Eingriff unverhältnismäßig ist.
Worin sich die hier zu behandelnde restriktive Maßnahme allerdings von klassischen Wirtschaftssanktionen unterscheidet, ist der Umstand, dass Medieninhalte betroffen sind und damit die durch Art. 11 GRC gewährleistete Freiheit, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Ob tatsächlich ein Eingriff vorliegt, ist aber bei RT und Sputnik keineswegs gewiss: Folgt man den Erwägungsgründen der Verordnung, läge es nahe, die Frage des möglichen Missbrauchs der Rechte nach Art. 54 GRC zu prüfen (vgl. zur parallelen Bestimmung des Art. 17 EMRK die Zurückweisungsentscheidung des EGMR vom 17.4.2018, Roj TV A/S, 24683/14).
Netzsperren oder die Verhinderung des Zugangs zu bestimmten Inhalten greifen aber jedenfalls in die durch Art. 11 GRC geschützte Rechtsstellung der Nutzer ein, denen der Zugang verwehrt wird (vgl. zu einer gerichtlich angeordneten Website-Sperre: EuGH 27.3.2014, C-314/12, UPC Telekabel Wien). Diese grundrechtlich geschützte Position der Nutzer hätte der EuGH daher in die Abwägung miteinzubeziehen, wenn er die Gültigkeit der Verordnung prüft.3)
Ausblick
Sanktionen sind ein scharfes Schwert. Sie müssen es auch sein, um die gewünschte Wirkung zu zeigen. Als Maßnahme der Außen- und Sicherheitspolitik liegen der Verhängung von Sanktionen politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen zu Grunde, bei denen der Rat komplexe Würdigungen vornehmen muss und daher über einen großen Wertungsspielraum verfügt (vgl. EuGH 1.3. 2016, C‑440/14 P, National Iranian Oil Company/Rat, Rn. 77). Dass im Fall der Maßnahmen gegen RT und Sputnik Medieninhalte betroffen sind, bringt eine neue Dimension ins Spiel – auch weil damit viele Unternehmen in der EU, die sonst kaum mit außenwirtschaftlichen Problemstellungen konfrontiert sind, plötzlich Vorkehrungen treffen müssen, um die restriktiven Maßnahmen umzusetzen und Verstöße in Zukunft zu vermeiden.
Prämisse der verhängten restriktiven Maßnahmen ist, dass RT und Sputnik als staatlich kontrollierte Medien Teil einer Kampagne der Medienmanipulation und Faktenverfälschung sind, mit der die russische Strategie der Destabilisierung der Union und ihrer Mitgliedstaaten intensiviert wurde. Dies stellt eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit der Union dar (Erwägungsgründe 6 bis 8 der VO 2022/350). Hält diese Prämisse der Prüfung durch den EuGH stand, wird wohl auch der Aspekt, dass nun auch Medienangebote betroffen sind, nichts an der (grundsätzlichen) Zulässigkeit der Sanktionen ändern.
Eine andere Frage ist, ob diese Sanktionen politisch klug sind. Dass mit diesen Maßnahmen kurz vor der umfassenden Neuregelung der Verantwortung von Intermediären und Plattformen mit dem Digital Services Act sozusagen im Vorbeigehen – wenn auch sachlich und zeitlich begrenzt – auch noch Art. 15 E-Commerce-RL faktisch ausgehebelt wird, macht die Sache in der rechtspolitischen Würdigung nicht besser.
References
↑1 | In der deutschen Sprachfassung ist vom Senden von Inhalten „durch“ RT und Sputnik die Rede; aus dem Vergleich mit anderen Sprachfassungen wird deutlich, dass es um das Senden von Inhalten geht, die von RT und Sputnik stammen (z.B. in der französischen Sprachfassung: „Il est interdit aux opérateurs de diffuser … de contenus provenant des personnes morales, entités ou organismes énumérés à l’annexe XV“, ähnlich eindeutig auch etwa die englische oder italienische Sprachfassung). |
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↑2 | Das Wort „senden“ (in der englischen Sprachfassung „to broadcast“, frz. „diffuser“) könnte man hier im engeren Sinne verstehen, als „Verbreitung […] unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen“ wie z.B. nach der deutschen Rundfunkdefinition in § 2 Abs. 1 RStV. Letztlich kommt es auf ein genaues Begriffsverständnis des Sendens aber schon deshalb nicht an, weil in der zweiten Verbotsvariante auch andere Verbreitungsformen für Inhalte, insbesondere über Plattformen und Apps, ausdrücklich angesprochen und verboten werden. |
↑3 | RT France hat bereits Nichtigkeitsklage (verbunden mit einem Antrag auf einstweilige Maßnahmen) beim EuG erhoben (T-125/22); die Gültigkeit der Verordnung könnte auch im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren geprüft werden. |