29 October 2020

Ungleicher Schutz für Whistleblower

Zu drohenden verfassungswidrigen Ungleich­behandlungen durch die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie

Bis zum 17. Dezember 2021 hat die Bundesrepublik Deutschland Zeit, die europäische Whistleblowing-Richtlinie (2019/1937) in deutsches Recht umzusetzen. Diese Richtlinie könnte Whistleblowern endlich den rechtlichen Schutz bieten, der ihnen in Deutschland aktuell fehlt. Allerdings strebt das Bundeswirtschaftsministerium eine auf europarechtliche Sachverhalte beschränkte „1:1-Umsetzung“ an. In der Praxis würde das zu unionsrechtlich induzierten, verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen führen und damit den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzen. Ein bloßer Verweis auf die Kompetenzordnung zwischen der EU und dem deutschen Gesetzgeber ändert hieran nichts, denn nationale Souveränität vermittelt kein Recht auf legislative Willkür.

Die “1:1-Umsetzung” der Whistleblowing-Richtlinie und die durch sie verursachten Ungleichbehandlungen

Die europäische Whistleblowing-Richtlinie (WBRL) vermittelt Whistleblowern innerhalb ihres Anwendungsbereichs einen weitreichenden Rechtsschutz: Sie verbietet jegliche Form von Vergeltungsmaßnahmen wie etwa Kündigungen, Disziplinarmaßnahmen oder strafrechtliche Verfolgung (Art. 19 WBRL). Im Gegensatz zur bisherigen deutschen Einzelfallrechtsprechung ist klar geregelt, dass Whistleblower in der Richtlinie aufgezählte Unionsrechtsverstöße entweder intern oder unmittelbar extern gegenüber einer Behörde melden können (Art. 10 WBRL). Erleiden Whistleblower im Anschluss an eine Meldung oder Offenlegung Repressalien, stehen ihnen speziell auf Whistleblowing-Situationen zugeschnittene Abwehrrechte zu. Außerdem gilt eine Beweislastumkehr zu ihren Gunsten (Art. 21 Abs. 5 WBRL).

Im Vergleich dazu gewährt das bislang geltende deutsche Recht Whistleblowern einen nur fragmentarischen und rechtsunsicheren Schutz. Es besteht weitgehend aus einer richterrechtlichen Einzelfall-Rechtsprechung, die von Ausnahmen und Gegenausnahmen durchzogen ist. So geht beispielsweise das Bundesarbeitsgericht (BAG, 2 AZR 42/16) davon aus, dass Arbeitnehmer auf Basis ihrer allgemeinen Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht prinzipiell zur Geheimhaltung von Straftaten und anderen Rechtsverstößen verpflichtet sind (§ 241 Abs. 2 BGB). Eine wahrheitsgemäße Strafanzeige sei zwar als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte kein tragfähiger Kündigungsgrund. Dies steht jedoch unter dem Vorbehalt eines undurchsichtigen Kriterienkatalogs, zu dem unter anderem die gerichtliche Billigung der individuellen Motive des Whistleblowers zählt. Spezielle Abwehrrechte für Whistleblower sind dem deutschen Recht bislang fremd.

Die Whistleblowing-Richtlinie könnte Whistleblowern den Schutz bieten, der ihnen in Deutschland bislang fehlt. Allerdings ist der Anwendungsbereich der Richtlinie auf eine im Anhang aufgeführte Liste aus primärem und sekundärem EU-Recht beschränkt. Bei einer 1:1-Umsetzung würde der neue Schutz für Whistleblower in Deutschland also nur gelten, wenn sie einen Verstoß gegen einen in der Richtlinie aufgezählten Rechtsakt aufdecken. Soweit es um nationales Recht geht, würde hingegen weiterhin kein besserer Schutz bestehen – und das würde zu massiven Ungleichbehandlungen führen. Manche Whistleblower würden bei Meldung bestimmter geringfügiger Verstöße besser geschützt als andere bei der Aufdeckung schwerer Straftaten.

Würde der deutsche Gesetzgeber auf eigene Initiative ein Gesetz schaffen, das so inkonsistent zwischen einzelnen Whistleblowing-Situationen differenziert, würde es einer Überprüfung am allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht standhalten. Weil die im Whistleblowing-Recht drohende Ungleichbehandlung jedoch durch die Umsetzung einer EU-Richtlinie bedingt wäre, könnte eine verfassungsrechtlich bislang kaum diskutierte Frage bald rechtspolitische Relevanz erlangen: Ist der deutsche Gesetzgeber im Falle unionsrechtlich induzierter Ungleichbehandlungen an den allgemeinen Gleichheitssatz gebunden?

Der Stand der Rechtsprechung zu unionsrechtlich induzierten Ungleichbehandlungen

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nur einmal und auch nur beiläufig zu dieser Thematik geäußert. Hinsichtlich einer Ungleichbehandlung von „Grenzgängern“ zwischen Deutschland und der Schweiz auf der einen sowie Deutschland und EU-Mitgliedsstaaten auf der anderen Seite hat es im Hinblick auf die Gewährung von Differenz-Kindergeld im Jahre 2004 lakonisch festgestellt: „Zur Beseitigung dieser Ungleichbehandlung durch zwei unterschiedliche Normgeber ist der deutsche Gesetzgeber gem. Art. 3 Abs. 1 GG nicht verpflichtet.“ (BVerfG, 2 BvL 5/00, Rn. 83).

Im Gegensatz dazu halten das Bundesarbeitsgericht, das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof Art. 3 Abs. 1 GG in Fällen einer unionsrechtlich induzierten Ungleichbehandlung sehr wohl für anwendbar. Inhaltlich ging es in den einschlägigen Entscheidungen um Fälle der „Inländerdiskriminierung“, also um das Phänomen, dass Inländer sich bei rein inländischen Sachverhalten im Gegensatz zu EU-Ausländern bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht auf unionsrechtliche Privilegien berufen können. Das ist nichts anderes als ein Unterfall unionsrechtlich induzierter Ungleichbehandlungen.

Während die Gerichte in diesen Konstellationen zwar unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet haben, herrscht Einigkeit hinsichtlich der prinzipiellen Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes. Allerdings findet sich in keiner der genannten Entscheidungen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der oben erwähnten Bemerkung des BVerfG aus dem Jahre 2004.

Deutlich ausdifferenzierter ist in dieser Frage die österreichische Verfassungsrechtsprechung: Dort wurde in Gestalt des „Grundsatzes der doppelten Bindung“ schon in den 1990ern eine ständige Rechtsprechung und Verfassungsdogmatik entwickelt. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass der nationale Gesetzgeber auch auf unionsrechtlich geprägten Regelungsgebieten an die Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts gebunden ist, soweit der nationale (Umsetzungs-)Rechtsakt nicht vollständig durch das Unionsrecht determiniert ist. Der österreichische Verfassungsgerichtshof hat diese Rechtsprechung (VfGH, VfSlg 14.963/1997) explizit auch auf das Gleichbehandlungsgebot der österreichischen Verfassung (Art. 7 Abs. 1 B-VG) erstreckt. Demnach führen unionsrechtlich induzierte Ungleichbehandlungen dazu, dass der Gesetzgeber sich voll vor der österreichischen Verfassung verantworten muss, unabhängig davon, ob sie aus einer gleichheitswidrigen Umsetzung eines Rechtsakts oder aus einer direkten Anwendung des EU-Primärrechts resultieren. Denn: „Der Umstand, dass mit einer gesetzlichen Regelung gemeinschaftsrechtliches Richtlinienrecht umgesetzt werden soll, bildet für sich allein […] keinesfalls einen ausreichenden Rechtfertigungsgrund für eine durch die Art der Umsetzung bewirkte Differenzierung.“ (VfGH 09.12.1999 – VfSlg 15.683/1999).

Die unionsrechtlich induzierte Ungleichbehandlung nach deutschem Verfassungsrecht

Höchste Zeit also, auch für Deutschland konsistente Maßstäbe für die verfassungsrechtliche Behandlung unionsrechtlich induzierter Ungleichbehandlungen zu entwickeln.

Hierbei ist zunächst festzustellen, dass der deutsche Gesetzgeber sich auch bei unionsrechtlich induzierten Ungleichbehandlungen vor dem Grundgesetz zu verantworten hat. Daran ändert auch das Argument der unterschiedlichen Gesetzgeber nichts. EU und Mitgliedsstaaten sind legitimatorisch miteinander verstrickt; unabhängig von der konkreten Handlungsform der EU sind die generierten Normen den Mitgliedsstaaten zurechenbar. Die innerstaatliche Geltung des Unionsrechts ist dem deutschen Gesetzgeber als seine eigene Entscheidung zurechenbar, denn er trägt eine aus Art. 23 Abs. 1 abgeleitete Integrationsverantwortung (BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, Az. BvE 2/08 u.a.). Die BRD wirkt als Völkerrechtssubjekt und Mitgliedstaat sowohl bei der Entstehung von Primär- als auch Sekundärrecht über den Rat unmittelbar mit. Gerade Richtlinien sind darauf angelegt, dass sich der europäische und die nationalen Gesetzgeber die Verantwortung für die legislativen “Endprodukte” teilen.

In seiner Rechtsprechung hat sich das Bundesverfassungsgericht der österreichischen Figur der doppelten Bindung bereits angenähert, zuletzt in seiner Entscheidung „Recht auf Vergessen I“. Hierin prüfte es unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht ausdrücklich am Maßstab der deutschen Grundrechte (BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 16/13). Dass dies nur für die Freiheits- und nicht für die Gleichheitsrechte der Verfassung gelten soll, lässt sich aus der Entscheidung an keiner Stelle ableiten. Liegt ein nationaler Regelungssachverhalt nicht nur im nicht vollständig determinierten Anwendungsbereich, sondern gänzlich außerhalb des Anwendungsbereichs einer Richtlinie, ist der Gesetzgeber erst recht an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Andernfalls würde ein grundrechtsloses „schwarzes Loch“ zwischen nationalem und Unionsrecht entstehen.

Die gleichheitsrechtlichen Maßstäbe für unionsrechtlich induzierte Ungleichbehandlungen

Doch welcher gleichheitsrechtliche Maßstab muss in solchen Fällen nun gelten? Eine unmodifizierte Übertragung üblicher gleichheitsrechtlicher Standards würde übersehen, dass hier – anders als in typischen gleichheitsrechtlichen Fällen – zwei Verfassungsprinzipien kollidieren: Art. 3 Abs. 1 GG als zentrale grundrechtliche Garantie der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz auf der einen und Art. 23 Abs. 1 GG als staatsorganisationsrechtliches Fundament des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und damit letztlich der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite.

Diese Kollision lässt sich unter Rückgriff auf das Prinzip der praktischen Konkordanz auflösen, das vom BVerfG seit langem zum Ausgleich konkurrierender (Grund-)Rechtspositionen herangezogen wird. Hierbei verbieten sich beide Extrempositionen: Sowohl die Degradierung des nationalen Gesetzgebers zum gleichheitsrechtlich rechenschaftsbefreiten Vollzugshelfer der EU als auch die faktische Pflicht zur Vollharmonisierung durch die Hintertür als Konsequenz einer strengen gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Besser ist: Man gesteht dem nationalen Gesetzgeber in Anerkennung seiner legislativen Souveränität die Einschätzungsspielräume zu, die er auch bei anderen Gesetzen hätte. Gleichzeitig spricht man ihm das ab, was einem Rechtsstaat – ob supranational eingebunden oder nicht – ohnehin nie zustehen darf: das Recht auf Willkür. In Anlehnung an die „Willkürformel“ des BVerfG ist in einer unionsrechtlich induzierten Ungleichbehandlung immer dann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen, wenn für die Ungleichbehandlung keinerlei sachliche Differenzierungsgründe erkennbar sind, die Differenzierung also materiell unverständlich ist und nur über sachfremde Erwägungen begründbar wäre (vgl. BVerfG, 1 BvR 361/52).

Die begrenzte EU-Regelungskompetenz ist für sich genommen kein sachlicher Differenzierungsgrund. Vielmehr bedarf es eines materiellen Grundes dafür, dass ein unionsrechtlich erfasster Sachverhalt anders zu behandeln wäre als ein rein nationaler. Insbesondere wenn das Unionsrecht spezifische Probleme des Binnenmarkts behandelt, um grenzüberschreitendes Wirtschaften zu ermöglichen, wird ein solcher materieller Differenzierungsgrund allerdings häufig vorliegen: Während beispielsweise deutsche Brauereien ihr Bier in der Regel in Kenntnis des deutschen Reinheitsgebots entwickelt haben, kann dies etwa belgische Brauereien vor potenziell prohibitive Herausforderungen stellen (EuGH, Urteil vom 12. März 1987, Kommission/Deutschland, Rs. 178/84).

Anders liegen die Dinge jedoch bei Regelungssachverhalten, die unabhängig von grenzüberschreitenden Aspekten universelle Rechtsprobleme aufwerfen, die die Union aber aus rein formellen Gründen nur begrenzt regeln kann.

Keine sachlichen Differenzierungsgründe für eine 1:1-Umsetzung der WBRL

In diese Kategorie fällt die Umsetzung der WBRL: Whistleblower angemessen zu schützen ist nicht nur eine Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt. Dass Hinweisgeber für ihren Beitrag zur Aufklärung von Missständen nicht sanktioniert werden, ist ein übergreifendes rechtsstaatliches und demokratisches Gebot. Auch deshalb regt die WBLR Mitgliedstaaten dazu an, die Regeln der Richtlinie auf weitere Sachverhalte auszuweiten (Erwägungsgrund 5 Satz 2).

Mit einer 1:1-Umsetzung der WBRL würde der deutsche Gesetzgeber zwei auseinanderklaffende Whistleblower-Schutzregime schaffen und für alle Whistleblower massive Rechtsunsicherheit produzieren. Hierfür gibt es keinen plausiblen Grund. Sofern man das Schutzniveau je nach Art des Rechtsverstoßes unterschiedlich regelt, wäre die einzig plausible Differenzierungsweise, einen umso stärkeren Schutz vorzusehen, je schwerwiegender der durch den Whistleblower aufgedeckte Verstoß und damit das rechtsstaatliche Aufklärungsinteresse ist. Eine 1:1-Umsetzung der WBRL täte häufig das genaue Gegenteil. Während ein Whistleblower, der beispielsweise einen geringfügigen Verstoß gegen die europäische Datenschutz-Grundverordnung meldet, von den Schutzstandards der WBRL profitierte, wäre ein Whistleblower, wenn er Verstöße gegen rein national bedingte Straftatbestände aufdeckte (etwa selbst schwere Fälle von Wirtschafts- oder Gewaltkriminalität) auf die rechtsunsicheren, lückenhaften deutschen Schutzstandards zurückgeworfen. Zu behaupten, dass an der Aufklärung unionsrechtlicher Verstöße ein höheres rechtsstaatliches Interesse bestehe als an der Aufklärung nationaler Verstöße lässt sich kaum ernsthaft vertreten. Gleichwohl wäre Whistleblowing paradoxerweise häufig umso schlechter geschützt, je größer sein rechtsstaatlicher Nutzen ist.

Eine 1:1-Umsetzung der WBRL würde daher gegen das für unionsrechtlich induzierte Ungleichbehandlungen geltende Willkürverbot des allgemeinen Gleichheitssatzes verstoßen. Sollte der Gesetzgeber den Wünschen des Bundeswirtschaftsministeriums nach einer solchen Minimalumsetzung nachgeben, befände er sich auf direktem Kurs in die Verfassungswidrigkeit.