Urwahl? Ausgeschlossen!
Warum das Parteienrecht ein Update braucht
Es steht schlecht um die SPD im Bund. Nach dem katastrophalen Abschneiden bei der Europawahl und dem Rücktritt von Andrea Nahles als Partei- und Fraktionschefin bemüht sich ein kommissarisches Vorstandstrio aus Malu Dreyer, Thorsten Schäfer-Gümbel und Manuela Schwesig um einen Neuanfang, oder besser: um einen einigermaßen geordneten Übergang dorthin. Ideen gibt es zahlreiche, sogar über 23.000. So viele Vorschläge haben den Parteivorstand auf einen entsprechenden Aufruf hin von den Mitgliedern erreicht. Was damit passiert und wie genau die Partei ihren neuen Vorsitzenden, ggf. auch eine Doppelspitze, bestimmt, will der Parteivorstand am kommenden Montag entscheiden. Dabei ist die Kernbotschaft der Mitglieder klar: sie wünschen sich eine verbindliche Beteiligung.
Einfachrechtliche Hürden
Dem aber steht das geltende Parteienrecht entgegen. § 9 Abs. 4 PartG bestimmt, dass der oder die Vorsitzende durch den Parteitag bestimmt werden. Dieser Parteitagsvorbehalt schließt zwar nicht aus, dass die Entscheidung unmittelbar durch die Mitglieder getroffen wird, denn Parteitag ist nicht nur die Vertreter-, sondern auch die Mitgliederversammlung – letztere ist gar der gesetzliche Regelfall (§ 8 Abs. 1 PartG). Eine Verpflichtung auf rein repräsentative Formen der innerparteilichen Demokratie kennt das Parteiengesetz folglich nicht, auch wenn die Parteitage in der Realität spätestens auf Landesebene Delegiertenparteitage sind und Vieles dafür spricht, dass eine effektive Mitgliederpartizipation (sofern sie nicht digital organisiert ist) auf Repräsentation zurückgreifen muss, sobald ein Gebietsverband eine gewisse Größe und Ausdehnung erreicht.
Auch ist § 9 Abs. 4 PartG nicht zwingend als Präsenzvorbehalt zu verstehen. Zwar war die Präsenzversammlung zweifellos Leitbild des historischen Gesetzgebers, dem bei Erlass des Parteiengesetzes 1967 schlicht die Phantasie gefehlt haben dürfte, sich innerparteiliche Willensbildung anders vorzustellen als in Form eines Zusammenkommens der Mitglieder an einem gemeinsamen Ort. Mittlerweile stehen aber die technischen Möglichkeiten bereit, die Willensbildung einer großen Zahl von Mitgliedern auch über weite Distanzen hinweg effektiv zu ermöglichen.
§ 9 Abs. 4 PartG stellt aber einen Versammlungsvorbehalt auf und verlangt folglich, dass die Vorstandswahl in einem Verfahren erfolgt, das es den Mitgliedern ermöglicht, ihre versammlungsbezogenen Rechte auszuüben. Dazu gehört nicht nur die Stimmabgabe, sondern auch die Möglichkeit, eigene Vorschläge einzubringen, sowie das Recht, die konkurrierenden Angebote in Rede und Gegenrede zu diskutieren – das Parteiengesetz spricht ausdrücklich von Erörterung (§ 15 Abs. 3 S. 1 PartG). Das Verfahren darf folglich nicht allein auf den Abstimmungsvorgang reduziert werden, welche Form dieser auch immer annehmen mag (etwa Briefwahl oder Online-Wahl). Dass für die Bestimmung von Spitzenkandidatinnen zur Bundestagswahl ebenso wie für die Entscheidung über den Abschluss eines Koalitionsvertrags etwas Anderes gilt, mag zunächst verwundern, liegt aber schlicht daran, dass weder für das eine noch für das andere ein Parteitagsvorbehalt gilt – genau genommen kennt das Recht weder die Position einer bundesweiten Spitzenkandidatin noch das Institut des Koalitionsvertrages, sie sind ein rechtliches Nullum.
Anders die Wahl des Parteivorsitzenden. Neben dem klassischen Parteitag wäre einzig ein Online-Parteitag geeignet, dem Versammlungsvorbehalt zu entsprechen, ein solcher ist seinerseits aber sehr voraussetzungsvoll.
Verfassungsrechtliche Freiheit
Soweit das ernüchternde Ergebnis, wenn man das geltende Parteienrecht befragt. Kann das richtig sein? Zweifel sind angebracht. Denn das Grundgesetz bestimmt in Art. 21 Abs. 1 S. 2, dass die Gründung der Parteien frei ist. Mit Blick auf ihren Sinn und Zweck schützt die Verfassung damit nicht nur die freie Gründung politischer Parteien, sondern auch ihre freie Betätigung nach außen und die Freiheit ihrer Organisation nach innen. Zwar beschränkt sie diese Organisationsfreiheit sogleich wieder: nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG muss die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen. Dieses Gebot innerparteilicher Demokratie aber darf nicht überstrapaziert werden – dies gilt schon mit Blick auf seinen Wortlaut, erst recht aber auf seinen Regelungszweck. Der besteht darin, die Freiheit der Willensbildung im Binnenraum der Parteien zu sichern, damit die Parteien ihrer verfassungsrechtlichen Funktion, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, gerecht werden können (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG). Das Gebot innerparteilicher Demokratie ist daher im Sinne eines Mindeststandards zu verstehen: es verlangt die Bestimmungshoheit der Mitglieder und dass diese innerparteilich einen Status gleicher Freiheit genießen. Dieser setzt effektive Mitbestimmungsrechte, Chancengleichheit , Entscheidungen per Mehrheitsprinzip und den Schutz von Minderheitenrechten voraus. Das Gebot innerparteilicher Demokratie verpflichtet die innerparteiliche Willensbildung aber weder auf eine bestimmte Demokratietheorie, noch verlangt es, die Wahl der Parteivorsitzenden einer Parteiversammlung vorzubehalten. Auch ihre Urwahl durch die Parteimitglieder entspricht demokratischen Grundsätzen! Martin Morlok hat in einem Gutachten für die Partei DIE LINKE, die ihre Vorsitzenden ebenfalls per Urwahl bestimmen wollte, daher schon 2012 gefragt, ob der Parteitagsvorbehalt des § 9 Abs. 4 PartG nicht verfassungswidrig sei, da er die Parteienfreiheit übermäßig einenge. Es darauf ankommen zu lassen, wollte er der Partei freilich nicht empfehlen. Die LINKE verzichtete daraufhin auf eine Urwahl ihres Vorstands.
Dieser Befund ist einer lebendigen, mitgliederorientierten und experimentierfreudigen Parteiendemokratie kaum zuträglich.
Ausweg Mitgliederbefragung?
Einstweilen aber ist die Rechtslage, wie sie ist. Und das weiß selbstverständlich auch die kommissarische SPD-Führung. Sie verspricht daher, andere Wege als den der Urwahl zu finden, um dem Beteiligungswunsch der Mitglieder zu entsprechen. Dies deutet auf eine Mitgliederbefragung hin, bei der die Meinung der Mitglieder zwar parteiamtlich eingeholt wird, das Ergebnis aber keine Bindungswirkung entfaltet. Die endgültige Wahl der Parteivorsitzenden bliebe folglich einem Parteitag vorbehalten. Neuland wäre das nicht, zumal nicht für die SPD. Bereits 1993, nachdem Björn Engholm, damals Ministerpräsident von Schleswig-Holstein und Bundesvorsitzender der SPD, im Zuge der Barschel-Affäre zurückgetreten war, wählte die Partei diesen Weg. In einer Mitgliederbefragung setzte sich Rudolf Scharping als neuer Parteivorsitzender durch, anschließend bestätigte ein Sonderparteitag in Essen das Ergebnis. Die Euphorie über das geglückte Beteiligungsexperiment war groß, insbesondere mit Blick auf die hohe Mobilisierung der Mitglieder. Sie änderte indes nichts daran, dass Rudolf Scharping nur zwei Jahre später durch Oskar Lafontaine im Parteivorsitz abgelöst wurde – ganz ohne Mitgliederbefragung, durch eine Entscheidung des Parteitags.
Rechtlich spricht indes nichts dagegen, das Experiment von 1993 zu wiederholen. Zwar schweigt das Parteiengesetz zu Formen der konsultativen Mitgliederpartizipation. Dass die Parteien diesen Weg grundsätzlich beschreiten dürfen, folgt aber aus der verfassungsrechtlich geschützten Parteienfreiheit, die eben auch die Freiheit garantiert, die innerparteiliche Willensbildung zu gestalten.
Die rechtliche Unverbindlichkeit von Mitgliederbefragungen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie erhebliche faktische Bindungswirkung entfalten. Dies gilt zumal dann, wenn im Vorfeld öffentlichkeitswirksame Selbstverpflichtungen abgegeben werden, das Ergebnis der Mitgliederkonsultation als bindend zu betrachten (wie etwa die Bremer Parteiführung 1995 vor der Mitgliederbefragung zur Nachfolge im Amt des Senatspräsidenten und Bürgermeisters, die Henning Scherf ins Amt brachte). Aber auch ohne derartige Bekenntnisse kommen die satzungsmäßig zur Entscheidung berufenen Organe kaum darum herum, das Ergebnis der Mitgliederbefragung umzusetzen. Welcher Parteitagsdelegierter wird denn, geheime Wahl hin oder her, gegen den Kandidaten stimmen, für den sich gerade eine (zumindest relative) Mitgliedermehrheit ausgesprochen hat? Es dürften wenige sein. Und welcher (ggf. im Vorfeld unterlegene) Gegenkandidat wird sich überhaupt zur Wahl stellen?
Satzungsvorbehalt
Die formale Unverbindlichkeit einer Mitgliederbefragung darf daher nicht zu rechtlicher Beliebigkeit führen. Sie muss die Chancengleichheit aller Mitglieder gewährleisten. Dies setzt voraus, dass die Befragung transparenten Regeln folgt, die schriftlich fixiert sind. Nur so können sich die Mitglieder im Vorfeld auf das Verfahren einstellen – Strategien entwickeln, Mehrheiten organisieren – und Manipulationsversuche erkennen, benennen und überprüfen lassen. Das ist Sinn und Zweck des Satzungsvorbehalts des § 6 PartG, der über seinen Wortlaut hinaus für alle Formen parteiamtlich organisierter Mitgliederpartizipation gelten muss – unverbindlich oder verbindlich. Dies ist, um es mit den Worten von Martin Morlok zu sagen, die rechtsstaatliche Komponente des Gebots innerparteilicher Demokratie.
Dabei verlangt der Satzungsvorbehalt nicht zwingend die Regelung in einem einzigen Dokument, er verlangt aber zwingend den Beschluss durch einen Parteitag (§ 9 Abs. 3 PartG). Denn es ist der Parteitag, der – entsprechend dem verfassungsrechtlichen Gebot innerparteilicher Demokratie – oberstes Organ des jeweiligen Gebietsverbandes ist (§ 9 Abs. 1 S. 1 PartG). Das Organisationsstatut der SPD sieht Mitgliederentscheide in § 13 vor. Zwar können Gegenstand eines solchen Entscheids nicht Beschlüsse sein, die – wie die Wahl der Vorsitzenden – durch das Parteiengesetz ausschließlich dem Parteitag vorbehalten sind (§ 13 (2)). § 14 (11) sieht aber ausdrücklich Mitgliederbefragungen im Vorfeld von Vorstandswahlen vor. Eine satzungsrechtliche Grundlage für das Ob der Mitgliederbefragung ist also gegeben. Im Hinblick auf das Wie heißt es dort weiter: Der Parteivorstand beschließt eine Verfahrensrichtlinie. Eine solche Verfahrensrichtlinie genügt dem Satzungsvorbehalt aber nicht. Denn sie ermöglich dem Parteivorstand, das Verfahren ad hoc zu regeln und so auf die (erwartete) Kandidatenlage einzustellen. Das zu verhindern, ist aber gerade Sinn und Zweck des Satzungsvorbehalts. Und das praktische Regelungsbedürfnis ist groß: Wie viele Positionen sind zu besetzen? Bei mehreren: treten die Kandidaten einzeln an oder als Team? Gibt es eine Geschlechterquote? Wer darf kandidieren? Wer nominiert die Kandidatinnen? Welche Fristen gelten dafür? In welchem Zeitraum wird die Befragung durchgeführt? Wer darf an ihr teilnehmen? Wie wird abgestimmt: geheim, per Brief? Wie viele Stimmen dürfen abgegeben werden? Wie wird die Siegerin bestimmt? Gibt es ein Mindestbeteiligungsquorum für die Gültigkeit der Befragung? All diese Fragen mögen technisch anmuten, sie betreffen aber unmittelbar Machtfragen. Sie zu beantworten, darf daher nicht Sache des Parteivorstands im Einzelfall sein. Auch bis zu einer Mitgliederbefragung über den neuen Parteivorsitz liegt also noch ein gutes Stück Arbeit vor der SPD – davon, dass es bisher an Kandidatinnen für das Amt zu mangeln scheint, einmal ganz zu schweigen.
Parteienrecht en marche!
Es ist höchste Zeit: das Parteiengesetz bedarf einer Entschlackungs- und Verjüngungskur. Nicht nur, um die Urwahl der Parteivorsitzenden zu ermöglichen, gilt: Parteienrecht en marche – und zwar vite! Wer, wenn nicht die politischen Parteien, sollten Orte der demokratischen Experimentierfreude sein? Das Grundgesetz steht dem nicht entgegen – ganz im Gegenteil, es will genau diese Offenheit im Interesse eines lebendigen Wettbewerbs der politischen Parteien. Vielleicht kann die SPD Initiator einer solchen Verjüngungskur des Parteienrechts sein. Es wäre ein Zeichen dafür, dass sie noch munter ist. Jedenfalls die Parteimitglieder in diesem Land würden es unmittelbar zu spüren bekommen. Von denen sollte es gerade jetzt, da der Maschinenraum unserer Demokratie von rechts bedroht wird, ohnehin mehr geben.
Mit dem Instruktionsgehalt des Gebots innerparteilicher Demokratie hat sich die Autorin auch in ihrer Doktorarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin beschäftigt (Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M.). Sie trägt den Titel „Liquid Democracy: Internet-basierte Stimmendelegationen in der innerparteilichen Willensbildung“ und wird in Kürze erscheinen.
Hallo Frau von Notz,
mit Freude habe ich Ihren Artikel zur Urwahl des SPD-Vorsitzes gelesen. Als noch recht junges SPD-Mitglied kämpfe ich derzeit mit einigen anderen darum, die von Ihnen aufgeworfenen Fragen in Absatz 2 des Abschnittes “Satzungsvorbehalt” in einer eigenen Ortsvereinssatzung in Sinne von mehr Transparenz und Durchläss