08 July 2022

Die AfD als Verdachtsfall

Offene Fragen der nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten

Nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz (BVerfG, Urt. v. 26.4.2022, 1 BvR 1619/17) werden aktuell Gesetzesnovellen der Verfassungsschutzgesetze des Bundes und der Länder vorbereitet. Die Reformen werden voraussichtlich auch die Regelungen über die heimlichen Beobachtungsmethoden des Verfassungsschutzes, wie etwa den Einsatz von V-Leuten, betreffen. Adressaten der heimlichen beziehungsweise nachrichtendienstlichen Methoden können auch Parteien und ihre Mitglieder sein. Die Thematik der nachrichtendienstlichen Beobachtung erhält zusätzliche Relevanz, nachdem das Verwaltungsgericht Köln in seinem Urteil vom 8. März dieses Jahres (13 K 326/21) entschieden hat, dass die AfD vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft werden könne. Es lägen, so das Verwaltungsgericht, tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung vor. Seit der Einstufung der AfD als Verdachtsfall ist auch die Beobachtung der AfD-Abgeordneten, gegebenenfalls unter Anwendung der Methoden heimlicher Informationsbeschaffung, ein für die Verfassungsschutzbehörden wichtiges Thema. Die Einstufung der AfD als Verdachtsfall wirft verschiedene Fragen auf, die über den konkreten Fall hinausgehen. Es geht insbesondere um die höchstrichterlich bislang nicht geklärte Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Abgeordneten einer potentiell verfassungsfeindlichen Partei nachrichtendienstlich beobachtet werden können.

Regelungen über heimliche Beobachtungsmethoden

Die Regelungen über die Methoden heimlicher Informationsbeschaffung finden sich im Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG), soweit diese Methoden durch das Bundesamt für Verfassungsschutz angewandt werden. Grundlegende Voraussetzung für die Informationssammlung ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte über verfassungsfeindliche Bestrebungen (s. § 4 Abs. 1 S. 5 BVerfSchG). Demnach müssen „konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis für den Verdacht“ verfassungsfeindlicher Bestrebungen vorliegen (BVerwGE 137, 275 Rn. 30). § 4 Abs. 1 S. 1 lit. c) BVerfSchG definiert als Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss mit verfassungsfeindlicher Ausrichtung. Personenzusammenschlüsse im Sinne dieser Vorschrift sind namentlich politische Parteien. Eine verfassungsschutzrelevante Verhaltensweise ist auch die Mitgliedschaft in einem Personenzusammenschluss, also etwa eine Parteimitgliedschaft (vgl. BVerwGE 137, 275 Rn. 66). Soweit tatsächliche Verdachtsmomente vorliegen, kann das Bundesamt prinzipiell Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen oder mit heimlichen Methoden erheben (§ 8 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 BVerfSchG).

Rechtssache „Bodo Ramelow“

Ungeachtet dieser einfachgesetzlichen Vorgaben ist klärungsbedürftig, welche weiteren verfassungsrechtlichen Direktiven zu beachten sind, wenn solche Parteimitglieder ins Visier des Verfassungsschutzes geraten, die Abgeordnete sind. Parlamentarier können sich bekanntlich auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG berufen, der die Freiheit der Abgeordneten gegen all diejenigen staatlichen Maßnahmen schützt, die die Mandatsausübung beeinträchtigen. In der Rechtssache „Bodo Ramelow“, in der es um die Beobachtung des Abgeordneten Ramelow durch den Verfassungsschutz aus öffentlich zugänglichen Quellen ging, bejahte das Bundesverfassungsgericht eine Beeinträchtigung des freien Mandats. Bereits durch die systematische Sammlung und Auswertung öffentlich zugänglicher Informationen werde die Kommunikationsbeziehung zwischen den Abgeordneten und den Wählern nachteilig beeinflusst (BVerfGE 134, 141 Rn. 107 f.). Der Eingriff in das freie Mandat könne aber „im Einzelfall im Interesse des Schutzes der demokratischen Grundordnung gerechtfertigt sein“. Die Beobachtung unterliege dabei „strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen“ (Rn. 110).

Prinzipielle Zulässigkeit der heimlichen Beobachtung von Abgeordneten

Im „Ramelow“-Beschluss hatte das Bundesverfassungsgericht keine Veranlassung, sich mit der Thematik der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der heimlichen Beobachtung von Abgeordneten zu beschäftigen. In den Verfassungsschutzgesetzen der Länder gibt es allerdings einige Vorschriften, die davon ausgehen, dass (Landtags-)Abgeordnete auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden können, und in solchen Fällen Unterrichtungspflichten etwa gegenüber dem Landtagspräsidenten vorsehen (vgl. zB § 29 Abs. 1 VerfSchG-LSA; § 28 S. 1 LVerfSchG SH).

Bei näherem Hinsehen schließt das Grundgesetz eine nachrichtendienstliche Beobachtung von Abgeordneten einer verfassungsfeindlicher Aktivitäten verdächtigen Partei nicht aus. Hierfür sprechen nicht nur das Prinzip der streitbaren Demokratie, sondern auch der Öffentlichkeitsstatus der Abgeordneten. Abgeordnete üben ein öffentliches Amt aus und unterliegen der demokratischen Kontrolle durch den Wähler. Verfolgt der Abgeordnete verfassungsfeindliche Bestrebungen, obwohl er vorgibt, sich politisch auf dem Boden des Grundgesetzes zu bewegen, ist es legitim, wenn der Verfassungsschutz ihn – unter Einhaltung rechtsstaatlicher Vorgaben – auch mit heimlichen Methoden beobachtet, um die Öffentlichkeit über die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu informieren.

Verfassungsrechtliche Anforderungen an die heimlichen Beobachtung von Abgeordneten

Die genaueren verfassungsrechtlichen Anforderungen an die heimliche Beobachtung eines Abgeordneten ergeben sich dabei zunächst aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über heimliche Überwachungsmaßnahmen der Verfassungsschutzbehörden, die das Gericht in seinem Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz formuliert hat (BVerfG, Urt. v. 26.4.2022, 1 BvR 1619/17). Das Urteil trifft generelle Aussagen über die Verhältnismäßigkeit heimlicher Überwachungsmaßnahmen der Verfassungsschutzbehörden (Rn. 174 ff.) und dürfte in seinen wesentlichen Rechtsgedanken auch auf die nachrichtendienstliche Beobachtung von Abgeordneten anwendbar sein. Demnach muss grundsätzlich ein „hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf bestehen“ (Rn. 181). Das bedeutet, dass „die Überwachungsmaßnahme […] zur Aufklärung einer bestimmten, nachrichtendienstlich beobachtungsbedürftigen Aktion oder Gruppierung im Einzelfall geboten sein und auf hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen“ muss (Rn. 181). Hierbei gilt die Leitlinie, dass die überwachte Aktion oder Gruppierung umso beobachtungsbedürftiger sein muss, je schwerer der Eingriff ist (Rn. 183). Das Gericht nennt in diesem Zusammenhang verschiedene Kriterien für die Beobachtungsbedürftigkeit einer Bestrebung. Ein Kriterium ist etwa der gesellschaftliche Einfluss einer Bestrebung, zum Beispiel ihre Vertretung in Ämtern und Mandaten, die eine Umsetzung der Ziele der Bestrebung möglich erscheinen lässt (Rn. 195). Ein Abgeordnetenmandat kann demnach ein Indiz für die erhöhte Beobachtungsbedürftigkeit einer potentiell verfassungsfeindlichen Partei sein und den Abgeordneten ins Visier des Verfassungsschutzes rücken. Die Beobachtungsbedürftigkeit kann allerdings sinken, je länger die Beobachtung andauert, ohne dass Indizien dafür vorliegen, dass das verfassungsfeindliche Verhalten erfolgreich sein könnte (Rn. 198).

Neben den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien setzen weitere Verhältnismäßigkeitsaspekte der nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten Grenzen: Dabei gilt erstens der prinzipielle Vorrang der offenen Beobachtung gegenüber der heimlichen Beobachtung. Denn der Eingriff in das freie Mandat des Abgeordneten ist in der Regel schonender, wenn Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen erhoben werden. Zweitens würde ein grundsätzlich unverhältnismäßiger Eingriff in das freie Mandat vorliegen, wenn der Abgeordnete in seiner Arbeit im Abgeordnetenbüro fortwährend heimlich beobachtet würde. Das wäre etwa der Fall, wenn im Abgeordnetenbüro eine Vertrauensperson des Bundesamtes für Verfassungsschutz tätig wäre und Informationen an das Bundesamt weitergäbe. Das würde zu einer permanenten Überwachung eines wesentlichen Teils der Abgeordnetentätigkeit führen. Eine weitere Grenze folgt aus Art. 47 S. 1 GG, der die Abgeordneten insbesondere berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Die Vorschrift schützt die vertrauliche Kommunikation zwischen dem Abgeordneten und dem Bürger (BVerfGE 134, 141 Rn. 97). Das Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 S. 1 GG darf nicht dadurch umgangen werden, dass der Verfassungsschutz durch heimliche Beobachtungsmethoden die vertrauliche Kommunikation des Abgeordneten mit einem Bürger abhört und Informationen sammelt.

Unabhängige Vorabkontrolle

Die Beantwortung der Frage, ob eine nachrichtendienstliche Beobachtung eines Abgeordneten verhältnismäßig ist, hängt im Übrigen vom Einzelfall ab. Entscheidungsrelevant sind dabei neben der Eingriffsintensität auch die konkrete Beobachtungsmethode. So ist eine kurzfristige heimliche Observation außerhalb der Wohnung im Vergleich zu einem längeren Einsatz einer Vertrauensperson eingriffsschonender. Je nach Eingriffsintensität der Maßnahme kann sich zudem die Notwendigkeit ergeben, die Maßnahme einer unabhängigen Vorabkontrolle durch eine externe Stelle zuzuführen (BVerfG, Urt. v. 26.4.2022, 1 BvR 1619/17, Rn. 213). Das Bundesverfassungsgericht hat die Notwendigkeit der Vorabkontrolle etwa beim Einsatz von Verdeckten Mitarbeitern und V-Leuten bejaht (Rn. 337 ff., 349 ff.). Die einschlägigen Bestimmungen im BVerfSchG (§§ 9a und 9b), die eine derartige Kontrolle nicht vorsehen, müssen vom Gesetzgeber diesbezüglich ergänzt werden.

Will man ein vorläufiges Resümee ziehen, kann man festhalten, dass die Einstufung der AfD als Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz auch die Thematik der nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten ins Blickfeld der juristischen Debatte gerückt hat. Die Verfassungsschutzbehörden werden genau zu prüfen haben, ob und unter welchen Bedingungen sie die Abgeordneten einer potentiell verfassungsfeindlichen Partei mit nachrichtendienstlichen Mittel beobachten. Es ist zudem nicht unwahrscheinlich, dass sich auch die Gerichte mit dem Themenkomplex auseinandersetzen werden.


SUGGESTED CITATION  Shirvani, Foroud: Die AfD als Verdachtsfall: Offene Fragen der nachrichtendienstlichen Beobachtung von Abgeordneten, VerfBlog, 2022/7/08, https://verfassungsblog.de/verdachtsfall/, DOI: 10.17176/20220708-113633-0.

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