Verfahren eingestellt, Problem gelöst?
Die EU-Kommission und das Bundesverfassungsgericht
Am 2. Dezember 2021 hat die EU-Kommission das Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des PSPP-Urteils des BVerfG vom 5. Mai 2020 eingestellt. Dieser Einstellungsentscheidung ist mit Erleichterung zu begegnen. Die Gründe gegen ein solches Vertragsverletzungsverfahren sind vielfach vorgebracht worden. Zentrales Argument ist die Bedeutung der institutionellen Unabhängigkeit des BVerfG im Europäischen Verfassungsverbund auch gegenüber den anderen Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland. Die mögliche Verurteilung Deutschlands, vertreten durch die Bundesregierung (Exekutive), aufgrund der Klage der Europäischen Kommission (Exekutive) hätte sich nur schwer in ihren Auswirkungen auf die Verfassungsrechtsprechung beziehen lassen können. Nicht auszudenken, welche „Maßnahmen … die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben“ in Deutschland gegen das BVerfG hätten ergriffen werden sollen (s. Art. 260 AEUV).
Rechtlich ist die Einstellung für sich genommen unproblematisch. Bei Art. 258 AEUV entspricht es der seit Jahrzehnten geübten Praxis, dass keine Pflicht der Kommission zur Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens besteht. Kritische Stimmen heben die Diskrepanz dieser Praxis zum Wortlaut hervor, aber angesichts des „kann“ in Art. 258 Abs. 2 AEUV wird nicht gefordert, daß die Kommission tatsächlich Klage erhebt. Dementsprechend bleibt es auch in den allermeisten Fällen beim Vorverfahren.
Die Verfahrenseinstellung ist an die Bundesrepublik Deutschland adressiert (s. Art. 297 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV) und dementsprechend ihr gegenüber begründet (s. Art. 296 Abs. 2 AEUV). Dieser Begründungstext ist ebensowenig öffentlich wie das Mahnschreiben der Kommission an die Bundesregierung und deren Antwort. Allerdings beschreibt die Kommission ihre Gründe in einer Pressemitteilung, wie dies bei Vertragsverletzungsverfahren üblich ist. Hinzu tritt eine entsprechende Pressemitteilung der Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union. Drei Gründe werden für die Einstellung vorgetragen:
Deutschland – (k)ein Rechtsstaat?
(1) Deutschland habe in seiner Antwort auf das Mahnschreiben klare Zusagen gemacht und förmlich erklärt, „dass es die Grundsätze der Autonomie, des Vorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sowie die in Artikel 2 EUV verankerten Werte, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, bekräftigt und anerkennt.“ Diese Selbstverständlichkeiten zeigen zunächst, wie überflüssig das Vertragsverletzungsverfahren war. Ein generelles Infragestellen der aufgezählten Grundsätze stand nicht in Rede; die förmliche Anerkennung durch die Bundesrepublik ist angesichts der vorhandenen vertraglichen Verpflichtungen redundant. Dass in Deutschland der Rechtsstaat missachtet würde, ist hoffentlich im Mahnschreiben nicht ernsthaft behauptet worden. Der Verweis auf Art. 2 EUV ist denn wohl auch eher als Signal gen (Süd-)Osten zu lesen. Das PSPP-Urteil und die bewusste Aushebelung des Rechtsstaats in Polen und Ungarn sind letztlich unvergleichbare Sachverhalte.
Das letzte Wort
(2) Außerdem habe Deutschland ausdrücklich Autorität und Bindungswirkung der Entscheidungen des EuGH anerkannt. „Das Land ist ferner der Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane nicht von der Prüfung von Verfassungsbeschwerden vor deutschen Gerichten abhängig gemacht, sondern nur vom Gerichtshof der Europäischen Union überprüft werden kann.“ Verfassungsjuristisch ist das keine Neuigkeit. Nach anfänglichen Unsicherheiten hat das BVerfG im OMT-Endurteil klargestellt, dass Rechtsakte der EU kein tauglicher Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG sind, sondern dass es im Rahmen der Ultra-vires- wie der Identitätskontrolle lediglich die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch die Organe und Institutionen des deutschen Verfassungsstaates kontrolliert.
Diese Argumentation mag beckmesserisch erscheinen, denn der Kontrolle der Wahrnehmung der Integrationsverantwortung ist ja die Frage vorgeschaltet, ob eine EU-Handlung in strukturell bedeutsamer Weise den unionalen Kompetenzrahmen des Unionsrechts oder die Verfassungsidentität der Bundesrepublik verletzt. Zudem lesen sich derartige Prüfungen – gerade im PSPP-Fall – wie eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe der EU. Gleichwohl ist es etwas anderes, ob jedes EuGH-Urteil noch einmal den Filter der Verfassungsbeschwerde durchläuft oder ob es eben darum geht, wie die deutsche Staatsgewalt mit als schwerwiegend und evidenten erachteten Kompetenzverstößen durch EU-Institutionen umgeht. Hier ist der Befund ambivalent: Einerseits ist die Konstruktion eines Quasi-Popularanspruchs zur Aktivierung der Integrationsverantwortung („Anspruch auf Demokratie“) überkreativ aus Art. 38 GG hergeleitet worden. Andererseits fehlt es aber im Verfassungsverbund an einer Balance zwischen dem Gestaltungsanspruch der politisch agierenden Organe und ihrer judikativen Kontrolle, sofern letztere ganz auf den EuGH setzt und ohne das verfassungsgerichtliche Reservoir in den Mitgliedstaaten auskäme. Quis custodiet ipsos custodes? ist eine Frage, die in jeder Rechtsordnung aufgeworfen wird, die rechtsstaatlichen Prinzipien folgt. Das Ringen um die richtige Antwort auf diese Frage läßt sich nur dann durch eine politische Zusage beenden, wenn diese inhaltlich auch wirklich trägt.
Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit
(3) Das leitet über zur letzten in den Pressemitteilungen referierten Zusage der Bundesregierung: „Drittens verpflichtet sich die deutsche Regierung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf ihre in den Verträgen verankerte Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires–Feststellung aktiv zu vermeiden.“ Wie in einem Brennglas bündeln sich in diesem Satz alle Probleme der Fallkonstellation. Die Bundesregierung kann schon im Vorfeld auf die Einhaltung der Unionskompetenzen drängen, so daß es gar nicht erst zu ernstzunehmenden verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfen kommt. Sie kann vor dem BVerfG Rechtsauffassungen formulieren, die sowohl unionsverfassungsrechtlich vertretbare als auch grundgesetzkonforme Lösungen anbieten. Sie kann aber auch in Zukunft nicht verhindern, daß das institutionell unabhängige BVerfG bei der Ultra-vires- oder Identitätskontrolle zu anderen Ergebnissen kommt. Hierzu stehen im Wortsinn keine Mittel zur Verfügung. Der im Verfassungsverbund angelegte Schwebezustand läßt sich jedenfalls nicht mit Regierungsanordnungen gegenüber dem Verfassungsgericht beenden.
In der Tat eine neue Begründungslinie der Kommission. Ende Juli hatte sie noch ausschließlich auf die von dem PSPP-Urteil ausgehende Wirkung abgestellt, also nicht auf Zusagen der BReg:
“Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021, mit dem ein Antrag auf Vollstreckung des Urteils für unzulässig erklärt wurde, ändert nichts an der durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffenen Rechtslage, insbesondere in Bezug auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.”
https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/2021_rolr_country_chapter_germany_de.pdf , S. 19
Lieber Freund und Kollege Ruffert,
danke für die Erklärungen. As aus meiner sicht wichtig war, ist dass siche die Bundesregierung als Vörlkerrechtlicher Vertreter der Bundesrepublik deutlich zur Frage des Vorrangs und des letzten Wortes äusserte, wie es eben die Kommission als Vertreter der EU gemacht hatte. Ob und wie der “Streit” weitergeht ist natürliche eine ganz andere Frage.