30 July 2024

Verfassungskonsenskultur in Gefahr

Das Erfolgsmodell der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland beruht – aus dem Ausland mit gleichbleibend großer Verwunderung zur Kenntnis genommen –, auf einer bekennend politischen Auswahl der Richterinnen und Richter. Dabei gibt es, anders als in den USA beim Supreme Court, kein Schaulaufen. Es werden Hinterzimmergespräche geführt; ein kleiner Ausschuss bestimmt „die Richtigen“, und dies in aller Regel als Paket; dass die Abspracheketten weit in die Zukunft reichen, ist kein Geheimnis. Die Rolle der Medien beim Auswahlprozess ist detektivisch und gleicht derjenigen bei der Papstwahl – wenn der weiße Rauch aufsteigt, darf man loben.

So sehr man all dies kritisieren mag (und in einer Endlosschleife kritisiert hat), so wenig lässt sich leugnen, dass das Karlsruher System nicht nur gut, sondern besser als die meisten anderen Systeme funktioniert. Misst man Autorität, Durchsetzungskraft gerade auch gegenüber der Exekutive und Legislative sowie Einfluss auf die Verfassungsrechtsentwicklung weltweit, wird „Karlsruhe“ immer (mit) auf dem Podest stehen (dazu z.B. Kommers/Miller, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany; Masing, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 15, Rn. 70 ff.).

Das Erfolgsrezept lässt sich mit drei Stichworten umreißen: Mix, Mitte, Milieu. Ziel der Auswahl ist nicht, Menschen ohne Meinung zu berufen; vielmehr soll der Meinungsmix in beiden Senaten ausgewogen sein. Bei dem Mix darf es aber keine zu großen Ausschläge nach „links“ oder „rechts“ geben; wer in Karlsruhe judiziert, muss für unterschiedliche Meinungen offen, der Mitte zugewandt sein. Wer verbohrt, ideologisch oder aktivistisch nur die eigene Position sieht, ist in Karlsruhe nicht willkommen. Und, woher auch immer man kommt, was auch immer man zuvor gedacht und getan haben mag, das Karlsruher Milieu bindet ein in einen nunmehr schon auf lange Tradition gegründeten offenen Dialog (so auch Lübbe-Wolff, Beratungskulturen, S. 30 ff.).

Dass über dem bekennend politischen und auf Hinterzimmerdiplomatie beruhenden Auswahlprozess die Maxime des Kölner Grundgesetzes „Et hätt noch immer jot jejange“ steht, beruht auf zwei Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, § 6 Abs. 1 S 2 BVerfGG – „Zum Richter ist gewählt, wer eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt“ und § 7 BVerfGG – „Die vom Bundesrat zu berufenden Richter werden mit zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates gewählt.“ Da man aufgrund der hohen Hürde der Zweidrittelmehrheit zur Wahl die Stimmen der jeweiligen Opposition braucht, sind nur jene Kandidatinnen und Kandidaten durchzusetzen, die sich in die Karlsruher Dialogkultur einpassen.

Der Zankapfel in einer sonst konsensualen Reformdebatte

Nach dem gegenwärtig auf dem Tisch liegenden – noch unveröffentlichten – Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes sollen gerade diese einfachgesetzlichen Regelungen nicht im Grundgesetz abgesichert werden – anders als jene zur Zahl der Richter, Zahl der Senate, hälftigen Wahl durch Bundestag und Bundesrat, Amtszeit, Altersgrenze, Ausschluss der Wiederwahl, vorläufigen Fortführung der Amtsgeschäfte, Geschäftsordnungsautonomie und Bindungswirkung der Entscheidungen. Dies ist der wohl strittigste Punkt in einer im Übrigen konsensualen Reformdebatte. Zwar bestreitet niemand die Bedeutung der Zweidrittelmehrheit für den bisherigen Erfolg. Nur droht der bisher solide und gut gesicherten politischen Mitte eben jene Zweidrittelmehrheit zu verlieren; der gesellschaftliche Konsens für ihre Politik bröckelt. Sichert man die Zweidrittelmehrheit, die nicht mehr auf alle Zeit hin garantiert ist, normativ im Grundgesetz ab und errichtet dauerhaft unüberwindbare Hürden, hat man ein Problem. Sichert man die Zweidrittelmehrheit nicht ab, kann die einfache Mehrheit sie ganz abschaffen. Dann hat man auch ein Problem. Was tun?

Die politische Debatte zur Zementierung der Zweidrittelmehrheit auf der Ebene des Grundgesetzes hat sich offensichtlich zwischen Scylla und Charybdis bewegt. Verlieren diejenigen Parteien, die jetzt die Reform tragen, SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU, die Zweidrittelmehrheit etwa im Bundestag, müssen sie in die Hinterzimmerdiplomatie auch die AfD und – möglicherweise – das BSW einbeziehen; diese werden im Gegenzug für ihre Zustimmung eigene Kandidaten und Kandidatinnen durchsetzen wollen. Nach gegenwärtiger Reformlage würde dann, wenn kein Kompromiss erreicht werden kann, der Bundesrat als Wahlgremium einspringen. Ginge auch im Bundesrat die Zweidrittelmehrheit verloren, würde auch die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts unausweichlich diese geänderten Mehrheitsverhältnisse spiegeln; einem auf der Ebene des Grundgesetzes zementierten Zwang zum Kompromiss mit jenen, die nicht dieselben Werte teilen, ließe sich dann nicht mehr ausweichen. Dies wäre bei einer derartigen Verschiebung der Machtverhältnisse aber wohl auch dem demokratischen Wählerwillen geschuldet. Wird die Zweidrittelmehrheit aber nicht auf der Ebene des Grundgesetzes festgelegt, könnte, wer auch immer die einfache Mehrheit innehat, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ändern und dann mit eben jener einfachen Mehrheit die je eigenen Kandidatinnen und Kandidaten durchsetzen. Da es dann keine Sperrminorität mehr gäbe, wären auch keine Kompromisse mehr nötig; im schlimmsten Fall könnte das Bundesverfassungsgericht „einseitig“ besetzt werden. Dass das polnische und das ungarische Verfassungsgericht warnende Beispiele sind und dass ein derartiger Prozess nicht lange dauern muss, ist oft genug betont worden.

Die weniger schlechte Option

Was tun? Ist es besser für die Parteien der Mitte, die Zweidrittelmehrheit auf verfassungsrechtlicher Ebene abzusichern, solange sie sie noch haben? Dann wären sie bei entsprechenden Wahlergebnissen zur Kompromisssuche auch mit „den anderen“ verdammt. Oder ist es besser, auf das freie Spiel der Kräfte zu setzen und in Kauf zu nehmen, dass die „falsche“ Mehrheit die Zweidrittelmehrheit abschaffen könnte und dann bei Neubesetzungen kaum mehr zu bremsen ist?

Klar ist, dass es nicht um die Wahl der „besseren“, sondern der „weniger schlechten“ Alternative geht. Deutschland kann hier vom Ausland lernen. In vielen Ländern ist nach der Verfassungsgerichtseuphorie der 1990er Jahre eine allgemeine Katerstimmung zu beobachten – umso gespaltener eine Gesellschaft, umso brüchiger der Grundkonsens, umso gefährlicher ein politisch besetztes Verfassungsgericht. Bei der Ausarbeitung von Gegenrezepten gibt es unterschiedliche Erfahrungen und eine lebhafte Diskussion (hier, Abschnitt 4.3, oder hier und hier auf dem Verfassungsblog).

Vor diesem Hintergrund hätte man sich, so sehr die bisherigen Reformvorschläge als notwendig, gelungen und hilfreich zu begrüßen sind, gewünscht, dass auch die Zweidrittelmehrheit auf Verfassungsebene abgesichert würde. Im Augenblick ist dies (noch) eine Frage des politischen Optimismus oder Pessimismus. Bleibt man Optimist und hofft darauf, dass die Berliner Verfassungskonsenskultur erhalten bleibt, ist auch die Karlsruher Verfassungskonsenskultur nicht in Gefahr. Aber: Institutional design matters – und das schon jetzt!


SUGGESTED CITATION  Nußberger, Angelika: Verfassungskonsenskultur in Gefahr, VerfBlog, 2024/7/30, https://verfassungsblog.de/verfassungskonsenskultur-in-gefahr/, DOI: 10.59704/f11007fd116a2da1.

5 Comments

  1. Thorsten Kingreen Wed 31 Jul 2024 at 16:53 - Reply

    Liebe Frau Nußberger,

    vielen Dank.

    Hinter der Diskussion über die Konstitutionalisierung der 2/3-Mehrheit steht letztlich die alte Frage nach der richtigen Strategie im Umgang mit Irrationalität.

    Derzeit beobachten wir eine dramatische und widerliche Radikalisierung der AfD auf der einen Seite und eine immer hilfloser wirkende Auschließungs-Rhetorik auf der anderen Seite nach dem Motto: Wenn wir sie überall raushalten, wird schon alles wieder gut. Sogar aus der Fußballmannschaft FC Bundestag hat man die AfD-Angeordneten kürzlich rausgeschmissen. Keine gute Idee. Leider muss man nämlich davon ausgehen, dass die zunehmende Radikalisierung auf der einen Seite durch die zunehmende Ausgrenzung und Dämonisierung auf der anderen Seite eher befördert wird. Man kann da aus dem Fußball lernen: Schönspielerei vor dem Strafraum bringt nichts, man muss auch dahin gehen, wo es weh tut. Ausschließen ist einfach, aber auch feige, denn man meidet das Gespräch und bleibt unter sich. Natürlich ist es nicht einfach, auf Menschen zuzugehen, die unsere Werte nicht teilen. Man lernt dann aber auch, warum das so ist; häufig ist es das Gefühl, nicht dazuzugehören.

    Selbstverständlich ist es wichtig, die Institutionen des Verfassungsstaats vor ihren Feinden zu schützen. Aber die Verfassungsreform wird nach hinten losgehen, wenn ihre Regeln so gestrickt werden, dass der Eindruck enstehen muss, man wolle vor allem eine Partei aus allen Entscheidungsprozessen heraushalten. Damit macht man sie nach allen Erfahrungen der vergangenen Jahre nur größer und widerlicher.

    Deshalb überzeugt mich Ihre Argumentation, die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz aufzunehmen. Denn sie ist Ausdruck einer notwendigen politischen Konsenskultur in den großen verfassungspolitischen Fragen, die so gut und stark ist, dass sie sich mit Selbstbewusstsein auch denen gegenüber öffnen kann, die noch nicht von ihr überzeugt sind.

    Beste Grüße

    Thorsten Kingreen

  2. Pyrrhon von Elis Wed 31 Jul 2024 at 17:57 - Reply

    Aus diesem Artikel spricht ziemlich viel institutioneller Protektionismus heraus, der enorm unangenehm zu lesen ist. Insbesondere die anfänglichen Ausführungen zum Thema Kritik an der Wahl der Verfassungsrichter, die etwaige Kritikpunkte einfach nach dem Schema “nun ja, dann sind die’s halt geworden” wegwischt.

    Man erinnere sich nur, wie damals Andreas Voßkuhle ins Amt kam, weil es eine Schmierkampagne gegen Horst Dreier gab. Ein sehr ironischer Fall früher Cancel Culture, die seitens der CDU betrieben wurde. Dieser Umstand wurde jedoch ebenfalls mit dem Sand der Geschichte weggewischt.

  3. Ulrich Karpenstein Thu 1 Aug 2024 at 17:53 - Reply

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag. Nur zwei Punkte bedürfen der Ergänzung:
    1. Die Forderung, auch das Wahlverfahren zum BVerfG (2/3-Mehrheit) zu konstitutionalisieren, hat mit dem Erstarken der AfD ebenso wenig zu tun wie die übrigen Vorschläge: CDU/CSU hatten entsprechende Vorschläge schon 1973 (!) in den Bundestag eingebracht und die nun von den BT-Fraktionen aufgegriffene Forderung nach einer Absicherung des BVerfG ist ziemlich genau vor 8 Jahren im Angesicht der polnischen Erfahrungen erhoben worden. Es geht auch in keinem der Vorschläge darum, das BVerfG vor AfD- (oder BSW-)nahen Richterinnen und Richtern zu bewahren, sondern darum, den Einigungsdruck in den Wahlorganen zu erhöhen und obstruktive Blockaden (von wem auch immer!) lösen zu können.
    2. Anstelle einer starren Konstitutionalisierung des Wahlverfahrens sollte dieses (und andere funktionsrelevante Regelungen des BVerfGG) fortan der Zustimmung des Bundesrates bedürfen: Nicht nur, weil sich der Bundesrat wegen Art. 51 GG als weitaus resilienter als der Bundestag erweist. Sondern auch deshalb, weil der nun vorgeschlagene Ersatzwahl-Mechanismus die Versuchung birgt, kurzerhand per einfachem BT-Gesetz das 2/3-Quorum an die jeweilige Regierungsmehrheit anzupassen. Hier besteht noch Nachbesserungsbedarf.

    • Thorsten Kingreen Fri 2 Aug 2024 at 16:19