Eine Verfassungsreform in Italien zulasten systemischen Gleichgewichts
Italien diskutiert gerade eine wichtige Reform seiner Verfassung: die Einführung der Direktwahl des Regierungsoberhaupts. Sie soll zusammen mit der Wahl beiden Parlamentskammern stattfinden. Zusätzlich soll die Zusammensetzung der beiden Kammern mit einem in der Verfassung neu zu verankernden „Mehrheitsbonus“ maßgeblich beeinflusst werden.
Der Gesetzesentwurf aus den Federn der amtierenden Regierung unter Giorgia Meloni hat eine sechsmonatige Prüfung im Verfassungsausschuss des Senats mit einigen Änderungen überstanden. Über ihn stimmt nun in diesen Stunden das Plenum des italienischen Oberhauses ab. Obschon weitere Modifizierungen hier sowie in der anderen Parlamentskammer, der Camera dei deputati, nicht gänzlich ausgeschlossen sind, steht das Ziel der Reform nicht in Frage: das Schlagwort eines „Premierato“, also eines eigens auf den Premierminister zugeschnittenen Regierungssystems, trifft in der Sache durchweg zu.
Da aber auch in Verfassungssystemen der Lavoisier’sche Grundsatz der Chemie gilt, wonach vor und nach jeder Operation die gleiche Quantität Materie (beziehungsweise Macht) existiert (il y a une égale quantité de matière avant et après l’opération), stellt sich die Frage, welche Organe, Institute und Zusammenhänge im italienischen Verfassungsstaat an Macht verlieren sollen, will man dem Regierungsoberhaupt spürbar mehr Macht zuweisen. Mit anderen Worten: die Reform nutzt offensichtlich und vorranging der Stellung des Regierungschefs, sodass eine Antwort auf die Sinnfrage „cui prodest?“ – Zu wessen Gunsten? – schnell geliefert ist. Zu thematisieren bleibt aber die verbundene und spiegelbildliche Sinnfrage „cui obest?“: zu wessen Lasten?
Das Staatsoberhaupt als Garant des systemischen Gleichgewichts
Mit der Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten knüpft der Reformtext eine weitreichende Schwächung des Staatsoberhauptes, des Presidente della Repubblica, welcher nun deutlich an Befugnissen verlieren soll. Abtreten würde er vor allem seine Kompetenzen bei Regierungsbildung und Parlamentsauflösung, die das italienische Staatsoberhaupt zu einem Moderator der Machtübergänge und einem Garanten des systemischen Gleichgewichts machen. Der einstige Verfassungsgerichtspräsident Giuliano Amato prägte dafür den Begriff eines Akkordeons in den Händen des Staatspräsidenten. Sind die Abläufe und Kräfteverhältnisse im parlamentarischen System klar, bleiben die Befugnisse des Staatschefs klein und ihm verbleibt eine eher notarielle Rolle. Verfährt sich aber die Parteienpolitik in eine Krise, werden seine Möglichkeiten zur Krisenlösung groß. Von klein bis groß mit unterschiedlichen Tonklängen, wie ein Akkordeon eben. Der amtierende Staatschef Sergio Mattarella, seines Zeichens ehemaliger Ordinarius für Staats- und Parlamentsrecht sowie selbst einstiger Verfassungsrichter, hat häufig für sein Amt die Metapher eines Schiedsrichters verwendet, der nur einschreitet, wenn das Spiel nicht regelgemäß läuft. Gleich ob Musik oder Sport, durch diese Gleichnisse werden Rolle und Stellung des Hausherrn auf dem Quirinalpalast, des Staatspräsidenten also, klar.
Entscheidend für diese Rolle sind die Bedingungen, an die die Kompetenzen des Staatsoberhaupts geknüpft sind. Die Verfassung von 1947 nennt keine Vorbedingungen für die Ausübung der präsidentiellen Befugnisse in den Momenten von Regierungsbildung, Regierungskrise und in der Entscheidung über eine Parlamentsauflösung. Ergänzt wird jedoch das geschriebene Verfassungsrecht durch ungeschriebene, aber nichtsdestominder eingehaltene Verfassungspraxen, die die Spielräume des Präsidenten dichter bestimmen und prägen. Neben prozeduralen Bestimmungen, zum Beispiel zur Anhörung aller parlamentarischen Kräfte, die berühmten consultazioni, verpflichtet das ungeschriebene Verfassungsrecht den Staatspräsidenten dem Ziel der größtmöglichen Stabilität und der Aufrechterhaltung der gewählten Volksvertretung. Gibt es im gegenwärtigen Parlament eine mögliche Mehrheit für eine (gegebenenfalls neue) Regierung, wird der Quirinal immer diese Möglichkeit gegenüber vorgezogenen Neuwahlen bevorzugen müssen. Dies verringert den Raum für taktisch einseitig terminierte Urnengänge und politische Wetten mit der Wählergunst, schützt arbeitsfähige Parlamente vom Willen einzelner Akteure und gibt dem Prinzip der Parlamentsstabilität Vorrang. Auch so erklärt sich, dass trotz der bekannten Vielzahl und (besonders vor 1996) Kurzlebigkeit italienischer Kabinette, vorgezogene Parlamentswahlen in Italien eher die Ausnahme als die Regel bleiben.
Dieses Zusammenspiel aus geschriebenem Verfassungsrecht und ungeschriebenen Verfassungspraxen, das dem Staatsoberhaupt gewichtige Steuerungsmöglichkeiten in der Krise gibt und es gleichzeitig dem Vorrang der Parlamentsstabilität verpflichtet, stellt freilich eine erhebliche Einschränkung der Gestaltungslust parteipolitisch motivierter Akteure, allen voran der Ministerpräsidenten, die ihre Regierungskoalition bzw. -mehrheit nicht mit der Drohung eines Schlusspfiffs disziplinieren können. Bisher sitzt der Schiedsrichter in der Krise und Hüter der Verfassungspraxen nicht in der Parteienpolitik, sondern auf dem hohen Quirinalpalast.
Diese Rolle des Präsidenten über Regierungskrisen und Neuwahlen in der Konzeption der Verfassung von 1947 und in der ratio der gelebten Verfassungspraxis reimt sich mit den weiteren verfassungsmäßigen Befugnissen des Quirinals – von der ebenfalls von Bedingungen und Empfehlungen freien Ernennung eines Drittels der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs bis zum Vorsitz im höchsten Selbstverwaltungsgremium der Richter. Daraus resultiert kein monarque républicain, aber wohl ein kompetenzstarker pouvoir neutre, der ein möglichst geordnetes Zusammenspiel aller staatlichen Gewalten in ihren unterschiedlichen Kompetenzen moderiert und das systemische Gleichgewicht im Verfassungsstaat bei Not auch garantiert.
Die erstrebte Wandlung hin zu einem one-(wo)man-System
Gegen diese verfassungsstaatliche Konstruktion richtet sich eindeutig die gegenwärtige Verfassungsreform. Sie will ein künftig direkt zu wählender Ministerpräsident zum Herrn (oder Herrin) über Leben und Tod des Parlamentes machen, indem die Befugnisse des Staatspräsidenten über Parlamentsauflösung und Regierungsbildung dem Regierungschef übergingen und ganz verschwänden. Dem Staatspräsidenten wären seine Ermessenspielräume und Garantiefunktionen entzogen, und das Parlament stünde in einem nackten Abhängigkeitsverhältnis zum Ministerpräsidenten. Selbst bei vorzeitigem Tode des Regierungschefs wäre das Staatsoberhaupt an den Willen des Verstorbenen gebunden und dürfte zum dessen Nachfolger ausschließlich ein Parlamentsmitglied ernennen, das aus des Toten Parlamentsmehrheit stammt und sein Regierungsprogramm auch formell fortführt. Auch die Einführung – im novellierten Art. 94 der Verfassung – eines angeblich vom bundesdeutschen konstruktiven Misstrauensvotum inspirierten Instituts beweist sich bei genauerem Hinschauen als eine schlechtgemeinte Parodie des Art. 67 GG, da es einer parlamentarischen Mehrheit verwehrt bliebe, ein alternatives Regierungsoberhaupt zu wählen außer den Fällen unfreiwilliger Beendigung der Amtszeit des bisherigen Ministerpräsidenten. Für den Erhalt gewählter Volksvertretungen, in denen eine (gegebenenfalls neue oder neu geführte) Regierungsmehrheit noch möglich wäre, gäbe es im System der gegenwärtigen Verfassungsreform keine Chance: Vom Willen des direktgewählten Regierungschefs hingen Legislative und Exekutive vollumfänglich ab.
Die ratio der Verfassungsreform des Kabinetts Meloni ist also klar. Sie verfolgt eine tiefgehende Systemtransformation, mit der das auf systemisches Gleichgewicht bedachte und mit dem Staatspräsidenten als dessen Garant eingesetztes parlamentarisches Regierungssystem zu einem verwandelt würde, in dem ein einziger Mensch vom Volk gewählt und er (oder sie) eine Legislaturperiode lang über zwei Staatsgewalten, Exekutive und Legislative, frei verfügen würde. Dieser Konzeption nach müssen die schiedsrichterlichen Aufgaben des Staatsoberhaupts dem mächtigsten Spieler im Politikbetrieb übergehen, damit dieser gänzlich nach ihm und seinem direkten Verhältnis zum Wahlvolk gerichtet werden kann. Mit all dem kohärent ist die zusätzliche vorgesehene Neuerung des Art. 89 der Verfassung, wonach außer wenigen Ausnahmen alle Amtshandlungen des Staatspräsidenten in die Verantwortung der Regierung gezogen würden und nur auf deren Vorschlag vorgenommen werden dürften. Dies schließt den Kreis einer weitreichenden Entmachtung des Presidente della Repubblica und seiner Wandlung vom Garanten und Hüter der verfassungsstaatlichen Abläufe zu einem bloßen Staatsnotar. Das staatsoberhäuptliche Akkordeon wäre damit endgültig ausgespielt.
(Ge)wichtige Kontinuitäten in der Rechten Verfassungspolitik
Dass solche Vorschläge aus dem gegenwärtig in Italien regierenden Lager kommen, kann angesichts der verfassungspolitischen Geschichte des Landes nicht überraschen. Schon die 2006 dem Wahlvolk unterbreitete und bei diesem letztendlich gescheiterte Verfassungsreform der von Silvio Berlusconi geführten Koalition verfolgte eine signifikante Stärkung der Stellung und Befugnisse des Ministerpräsidenten, der auch formell in „Premierminister“ hätte umbenannt werden sollen, zulasten von Parlament und Staatsoberhaupt. Außerdem befürworteten die Vorgängerparteien von Melonis Fratelli d’Italia (MSI, AN) jahrzehntelang die Umkrempelung des parlamentarischen in ein präsidentielles Regierungssystem, mit einem starken Mann – oder einer starken Frau – im Zentrum anstatt eines Gleichgewichts zwischen staatlichen Gewalten und eines Präsidenten als Schiedsrichter, der dieses garantiert. Schon in den frühen Jahren der Republik, nach Verabschiedung der Verfassung von 1947, war die damals unmittelbar postfaschistische Partei MSI mit der Wahl für das parlamentarische System nicht einverstanden. Die Ablehnung der Kräfte der italienischen Rechten für staatsoberhäuptliche Garantiefunktionen geht jedoch geschichtlich noch weiter zurück: Wiederholt äußerte Benito Mussolini in den Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren auch gegenüber Vertretern der damaligen deutschen Reichsregierung seine Frustration für die trotz Diktatur noch existierende Rolle des italienischen Königshauses und beklagte sich über dessen Loyalität – zu ihm selbst freilich. Davon zeugen reihenweise die Überlieferungen aus jenen Jahren, die die Geschichtswissenschaft uns sorgfältig erschließt.
Obwohl Vergleiche zwischen fundamental unterschiedlichen Systemen und Epochen in der Regel nicht viel weiter helfen, sind hier signifikante Kontinuitätslinien erkennbar. Einerseits ist die Verfassungspraxis, die die Rolle des italienischen Staatspräsidenten bis heute formt, zum Teil eine Fortentwicklung des ungeschriebenen Verfassungsrechts aus der monarchischen Zeit vor der faschistischen Machtübernahme. Auch damals prägte ein Zusammenspiel zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Verfassungsrecht die Rolle des Staatsoberhaupts im politischen System, was – zumindest für die liberale Ära bis 1922 – eher eine Begrenzung der Macht der Exekutiven zugunsten der Parlamente zur Folge hatte als eine Übermacht des Königs. Wohl auch aus Konsensgründen wagte sich die Gesetzgebung der faschistischen Diktatur (1922-1943) nur in begrenztem Ausmaß an die Rolle und Befugnisse des Königs, sodass genau auf Kompetenzen des Monarchen bei einer Regierungsumbildung zurückgegriffen werden konnte, um 1943 Mussolini in legaler Weise zu stürzen. Ist also die heutige Rolle des italienischen Staatspräsidenten zum Teil eine Fortentwicklung derer, die schon zur Zeit des Königtums galt, so scheint der Argwohn der italienischen Rechten für staatsoberhäuptliche systemische Garantiefunktionen seinen Ursprung einer weit zurückgehenden Frustration zu verdanken für alles im Staate, was einem vertikal aufgebauten Verhältnis zwischen politischem Chef und Volk entgegensteht. An dem harten Kern dieses Disputs scheinen bisherige Systemwechsel und Generationennachfolgen wenig geändert zu haben.
Die falschen Schlüsse aus der chronischen Regierungsinstabilität
Dass Italiens Exekutiven unter chronischer Instabilität leiden, ist weltweit bekannt und in der italienischen Politik ein dauernd präsentes Thema, wofür seit Jahrzehnten um angemessene Lösungen gerungen wird. Ob das Verfassungsrecht das primäre Feld ist, auf dem durch Reformen eine größere Beständigkeit der Regierungen erreicht werden kann, ist jedoch eine offene Frage. Festgehalten kann jedenfalls daran, dass auch bei geltendem Recht durchaus stabile Regierungen möglich sind – erwähnt hierfür seien nur Europas und des republikanischen Italien Gründungsvater Alcide Degasperi, ununterbrochen Ministerpräsident von 1945 bis 1953, und der kürzlich verstorbene Silvio Berlusconi, im Amt mit unbezweifelter Stabilität 2001 bis 2006 sowie 2008 bis 2011. Und auch derzeit scheinen Legislaturperiode und Regierung unter Giorgia Meloni dank der klaren Kräfteverhältnisse in Zeichen der Beständigkeit zu laufen.
Bei allen möglichen Meinungsverschiedenheiten über Diagnose und Therapie für die italienische Regierungsinstabilität können jedoch die Befugnisse des Staatspräsidenten schwer als ursächlich für Vielzahl und Kurzlebigkeit der römischen Exekutiven gelten. Das Zusammenspiel aus Verfassungstext und Verfassungspraxen verpflichtet das Staatsoberhaupt zu mehr, nicht weniger Stabilität, und außerdem kommen seine Kompetenzen nur dann in Frage, wenn Regierungen bereits in der Krise sind und die Parteienpolitik dafür keine Lösung finden kann. Nun den Staatspräsidenten der des Landes Instabilität zu bezichtigen, erinnert an diejenigen Sportfans, die aus vollem Halse der schlechten Leistung der spielenden Mannschaften immer nur den Schiedsrichter beschuldigen. Konstruktive und tragfähige Verfassungspolitik erwächst daraus nicht.
Vielmehr tritt mit diesem Reformvorhaben des Kabinetts Meloni eine alte Leitvorstellung zutage, die dem parlamentarischen System eine vertikale Demokratie, ein one-(wo)man-System präferiert. Dass ein Staatsoberhaupt mit den Kompetenzen des geltenden Verfassungsrechts einer solchen Machtkonstellation und -konzentration im Wege stünde, ist nicht nur ein analytisch richtiger Schluss, sondern auch genau der Grund, weswegen Verfassungsväter, -mütter und fast acht Jahrzehnte republikanische Staatspolitik die Rolle des Präsidenten so geprägt haben, wie sie ist. Mit einer Stärkung der Macht des Ministerpräsidenten zulasten staatsoberhäuptlicher Garantiefunktionen würde Italien also nichts an demokratischer Stabilität gewinnen, dafür aber vieles an Ausgewogenheit und checks and balances im politischen System verlieren.
Der Beitrag ist auch auf Englisch erschienen.