Verfolgung Strafunmündiger als Erziehungskonzept?
Zur Vorladung eines sechsjährigen „Tatverdächtigen" durch die Berliner Polizei
Vor kurzer Zeit erlangte ein skurriler Fall öffentliche Bekanntheit, der sich in einer Berliner Bildungseinrichtung ereignete. Ein Sechsjähriger geriet in Streit mit anderen Kindern. Als eine möglicherweise überforderte Erzieherin, die den Streit nicht zu schlichten vermochte, den Kindesvater anrufen wollte, um das Kind vorzeitig abholen zu lassen, soll der Erstklässler angeblich der Erzieherin auf die Hand geschlagen haben. Die Geschädigte muss von diesem Kraftakt überwältigt gewesen sein und begnügte sich nicht mit einer Entschuldigung des Kindes. Die Schulleitung erstattete vielmehr gegenüber der Polizei Strafanzeige wegen Körperverletzung.
Über die erziehungsberechtigten Eltern erhielt das Kind daraufhin vom Polizeipräsidenten Berlins eine „Vorladung von Kindern“. „In einer Ermittlungssache“ solle der Betroffene „gehört werden“. Beigefügt war ein „Merkblatt für junge Tatverdächtige und ihre Eltern“, das über die „Möglichkeit der Verfahrenseinstellung durch eine erzieherische Maßnahme (Diversionsverfahren)“ informierte. Unter der fettgesetzten Überschrift „Wie geht es weiter?“ findet sich der Hinweis, dass der „Beschuldigte“ eine Telefonnummer erhalte, unter der er sich an das Berliner Büro für Diversionsberatung und -vermittlung wenden könne. Die zuständige Senatsverwaltung sah nach Konfrontation mit dem Vorgang offenbar keine Anhaltspunkte für ein grobes Fehlverhalten. Dies ebenso wie sich anscheinend häufende Beschwerden über ein vergleichbares Vorgehen deuten darauf hin, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine allgemeine Praxis handeln könnte, Strafverfolgungsbehörden zu erzieherischen Zwecken auch dort einzuschalten, wo es um Handlungen Strafunmündiger geht.
Auf den ersten Blick mag dies nur wie eine erneute groteske Fehlleistung der Behörden eines Landes wirken, das mit der Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben im Schlendrian administrativer Desorganisation immer wieder überfordert ist. Genauer besehen geht es hier aber um den Anfangsverdacht von schwerwiegenden Straftaten im Amt.
Strafunmündigkeit
Das behördliche Vorgehen ist an strafrechtlichen Ermächtigungen zu messen. Es handelt sich bei der „Vorladung“ unzweideutig um ein strafprozessuales Vorgehen, nicht um eine etwaige Präventionsmaßnahme. Die Polizei verfügt weder im Bereich der Schulverwaltung noch der Jugendhilfe über eigene Aufgaben. Zudem fehlt es an einer Ermächtigung für eine Vorladung, die – schon aufgrund der imperativen Formulierung – kraft Vorbehalts des Gesetzes erforderlich wäre. Zu einem – hier offenkundig nicht veranlassten – Beratungsgespräch im Bereich der Gewaltprävention könnte der Polizeipräsident allenfalls unverbindlich im Sinne eines Hilfsangebots einladen. Vor allem ist der Kontext im Fall unmissverständlich: Eine „Ermittlungssache“ ist ein Strafverfahren; der Hinweisbogen bezieht sich explizit auf Beschuldigte, die es nur im Strafverfahren gibt; ein Diversionsverfahren ist allein im Jugendstrafrecht vorgesehen (§ 45 JGG). Aus dem Gesamtkontext ergibt sich also, dass die Polizei den Sechsjährigen als Beschuldigten in einem Strafverfahren adressierte.
Schuldprinzip
Strafrecht ist in diesem Fall aber offenkundig nicht anwendbar. Nach § 19 StGB ist schuldunfähig, wer bei der Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Auch der Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts greift nach § 1 Abs. 2 JGG nur bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Jugendlicher ist hiernach, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist. Ein Sechsjähriger ist also strafunmündig. Das hierin konkretisierte Schuldprinzip wurzelt nach dem BVerfG in der Menschenwürde (etwa BVerfGE 133, 168, 197 f.), die materiale Vorwerfbarkeit voraussetzt, wenn ein hoheitlicher Vorwurf durch Pönalisierung erfolgen soll. Schuldbegründende Zurechnungskriterien lassen sich nicht beliebig verfassungskonform ausgestalten, sondern müssen den realen Kontexten von Handlung und Einsichtsfähigkeit Rechnung tragen. Auch wenn sich das konkrete Alter der Strafmündigkeit nicht verfassungsunmittelbar exakt deduzieren lässt, ist § 19 StGB doch jedenfalls eine einfachgesetzliche Schutzvorkehrung dagegen, nicht hinreichend eigenverantwortliche Minderjährige zu bloßen Objekten öffentlicher Normstabilisation zu degradieren. Die absolute Strafunmündigkeit soll insoweit genau gegen ein Vorgehen wie im vorliegenden Fall beschützen, in dem die äußeren Formen des Schuldstrafrechts zu einem Stigmatisierungsmittel pervertiert werden.
Strafprozessrecht
Das Strafprozessrecht bietet konsequenterweise keine Ermächtigungsgrundlage, Minderjährige als Beschuldigte vorzuladen. Nach allgemeiner Ansicht (z. B. Fischer, StGB, § 19 Rn. 2) bildet die absolute Strafunmündigkeit nach § 19 StGB ein Prozesshindernis. Ein Strafverfahren darf insoweit mangels Anfangsverdachts nach § 152 Abs. 2 StPO schon nicht eingeleitet werden. Stellt sich das Verfahrenshindernis erst nachträglich heraus, etwa weil das Alter eines Beschuldigten anfänglich unbekannt war, ist das Verfahren umgehend einzustellen. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 199 Abs. 1 StPO) erfolgt die Einstellung durch Beschluss des Gerichts (§ 206a Abs. 1 bzw. § 260 Abs. 3 StPO).
Ein strafunmündiges Kind kann natürlich Zeuge im Strafprozess sein. Davon abgesehen, dass die Polizei keine Zeugen verbindlich vorladen kann (zur Anordnung ist nach §§ 161a Abs. 1 Satz 1, 163 Abs. 3 Satz 1 StPO nur die Staatsanwaltschaft befugt), liegt eine Zeugensituation aber ersichtlich nicht vor. Ist Anlass der Maßnahme eine mutmaßliche Tat des Kindes, ist dieses von vornherein nicht Zeuge, jedenfalls solange gegen eine andere Person (wie die Lehrkraft) kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Zeuge der eigenen Straftat kann man nicht sein, schon weil dies die qualifiziert schützenden Beschuldigtenrechte unterlaufen würde. Auch der Hinweis in der Anlage zur Vorladung auf die Handlungsmöglichkeiten Beschuldigter im Jugendstrafverfahren verdeutlicht, dass es nicht um eine etwaige Zeugenstellung gehen sollte.
Nun könnte eine tatbestandliche Straftat Strafunmündiger eine Gefährdung des Kindeswohls indizieren (ein Zehnjähriger, der immer den geladenen Revolver des Vaters mit ins Klassenzimmer nimmt, um Schutzgeld zu erpressen, mag in seiner sozialen Entwicklung gefährdet sein), aber um dies zu prüfen, enthält das Strafprozessrecht keine Eingriffsinstrumente. Das einschlägige Jugendhilferecht (SGB VIII) ermächtigt zum einen keine Strafverfolgungsbehörden und enthält zum anderen für verwaltungsrechtliche Maßnahmen der Jugendämter, für die hier offenkundig keinerlei Anlass bestand, aus gutem Grund hohe Eingriffshürden. Im Übrigen ist es im Einklang mit Art. 6 Abs. 2 GG spezifisch auf die Unterstützung der Eltern bei der Erziehung ausgerichtet.
Strafbarkeit der beteiligten Polizeibeamtinnen und -beamten
Das damit strafprozessual rechtswidrige Vorgehen der Polizei kann für die tätig gewordenen Ermittlungsbeamtinnen und -beamten zugleich empfindliche strafrechtliche Konsequenzen zeitigen. Nahe liegt hier vor allem der Straftatbestand der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 Abs. 1 Satz 1 StGB). Wer hiernach als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren berufen ist, absichtlich oder wissentlich einen Unschuldigen oder jemanden, der sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Das ist ein von Amts wegen zu verfolgender Verbrechenstatbestand (§ 12 Abs. 1 StGB) mit einem Strafrahmen, der dem der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB), des Menschenraubs (§ 234 StGB) oder der Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) entspricht. Eine vergleichbare Bestimmung enthielt bereits § 344 Reichsstrafgesetzbuch von 1871, dessen drakonischer Strafrahmen vor allem den rechtsstaatlichen Zeitgeist der Reichsjustizgesetzgebung spiegelte, die dem Missbrauch der staatlichen Strafgewalt einen sichtbaren Riegel vorschieben wollte. Obgleich die Bestimmung des § 344 StGB statistisch eine eher zu vernachlässigende Rolle spielt, zeigt der vorliegende Fall, dass diese rechtsstaatliche Schutzfunktion auch gegenüber einer demokratischen Verwaltung keineswegs obsolet geworden ist.
Täter des § 344 Abs. 1 StGB kann nur ein Amtsträger sein, der zur Mitwirkung an der Strafverfolgung berufen ist, also zu dessen Aufgabenkreis prozessuale Strafverfolgungshandlungen gehören. Das sind neben Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten auch Hilfspersonen der Strafverfolgung wie zuständige Polizistinnen und Polizisten (vgl. BGHSt 1, 255 ff.). Unschuldig ist, wer nach materiellem Strafrecht wegen einer Tat, die zur Last gelegt wird, nicht strafbar ist (Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], NK-StGB, Bd. 3, § 344 Rn. 9, 13). Ein nach § 19 StGB Strafunmündiger ist hiernach immer unschuldig, seine Verfolgung also objektiv tatbestandsmäßig.
Mit der Vorladung als Beschuldigten nahmen die Polizeibeamtinnen und -beamten auch eine Verfolgungshandlung vor. Verfolgung ist eine dienstliche Handlung in einem Strafverfahren, die „auf einen positiven Ausgang des Verfahrens“ (sprich: die Bestrafung) „abzielt oder nur getroffen werden dürfte, wenn ein solcher Ausgang in Betracht käme“ (Fischer, a.a.O., § 344 Rn. 3). Die Vorladung als Beschuldigter ist zweifellos eine Verfahrenshandlung, die ausschließlich gegen Personen getroffenen werden darf, die überhaupt erst einmal beschuldigt werden können (§ 163a StPO). Als Beispiel für eine strafbare Verfolgung Unschuldiger wird daher auch die Übersendung eines Vernehmungsbogens an eine bekanntermaßen nicht schuldige Person genannt (Fischer, a.a.O., § 344 Rn. 3). Da § 344 StGB kein Erfolgs-, sondern ein reines Tätigkeitsdelikt ist, muss es nicht zu einer Verurteilung kommen (Kuhlen, a.a.O., § 344 Rn. 6). Der Straftatbestand ist vielmehr bereits mit der Vornahme der Verfolgungshandlung vollendet, d. h. bereits die Versendung der Vorladung an einen Unschuldigen verwirklicht den Tatbestand, ein Rücktritt vom Versuch nach § 24 StGB ist danach ausgeschlossen.
Als subjektives Tatbestandsmerkmal verlangt § 344 Abs. 1 Satz 1 StGB qualifizierten Vorsatz, nämlich Absicht oder Wissentlichkeit. Wussten also die betrauten Polizistinnen und Polizisten als Hilfspersonen der Staatsanwaltschaft, dass der Adressat, der vorgeladen wurde, nur sechs Jahre alt und damit nach § 19 StGB strafunmündig ist, wäre auch der subjektive Tatbestand der Verfolgung Unschuldiger verwirklicht. Vom positiven Wissen um die Strafunmündigkeit ist hier ersichtlich auszugehen, weil die Anzeige von der Schulbehörde kam, die die Polizei über Hergang, Kontext und Alter informiert hatte. Damit war klar, dass der Betroffene zum einen kein bloßer Zeuge einer möglichen Straftat Dritter war und dass er selbst für eine etwaige Verletzungshandlung nicht strafrechtlich belangt werden konnte.
Die Versendung der Vorladung zur Vernehmung des Kindes als Beschuldiger verwirklicht damit im Ergebnis den Straftatbestand des § 344 Abs. 1 StGB. Im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung wäre, sofern das Gericht die Tathandlung nicht als minderschweren Fall bewertet, allein aufgrund der Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr das Beamtenverhältnis der tatbeteiligten Polizistinnen und Polizisten von Gesetzes wegen beendet (§ 24 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG), ohne dass es auf weitere disziplinarische Maßnahmen ankäme.
Strafbarkeit des Schulpersonals
Was das Schulpersonal betrifft, das an der Erstattung der Anzeige mitgewirkt hat, kommt eine Täterschaft nicht in Betracht. Zwar kann bereits eine Anzeige, die eine Verfolgung durch die zuständigen Organe in Gang setzt, taugliche Tathandlung im Sinne des § 344 Abs. 1 StGB sein. Lehrerinnen und Lehrer sind aber grundsätzlich – auch abstrakt – innerhalb ihres Aufgabenkreises nicht zur Mitwirkung an Maßnahmen der Strafverfolgung berufen. Die Strafanzeige kann allerdings Anstiftung (§ 26 StGB) oder Beihilfe (§ 27 StGB) zur Verfolgung Unschuldiger sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Anzeige in der Kenntnis vorgenommen wird, dass die Polizei – etwa nach einer etablierten Praxis oder einer konkreten Absprache im Fall – zur Beschuldigtenvernehmung lädt und durch die Anzeige ein Tatentschluss geweckt bzw. die Verfolgungshandlung durch Zurverfügungstellung des Fallmaterials gefördert wird. Das darf man jedenfalls vermuten, denn anderenfalls wäre eine Strafanzeige der Schulbehörde bei der Polizei schlicht sinnlos.
Sollte eine entsprechende Praxis sogar mit Rückendeckung der Schulaufsichtsbehörden etabliert worden sein oder aufrechterhalten werden – etwa in der Absicht, strafrechtliche Ermittlungsverfahren zu missbrauchen, in dem gegen Strafunmündige eingeschritten wird, um die expressive Wirkung der Beschuldigtenvernehmung erzieherisch einzusetzen – dann läge auch insoweit eine Teilnehmerstrafbarkeit jedenfalls wegen psychischer Beihilfe durch Bestärken des strafbaren Vorgehens nahe. Ob sich die Handelnden der Unzulässigkeit ihres Verhaltens bewusst waren oder nicht, ist hierbei unerheblich, weil es ggf. um einen vermeidbaren Verbotsirrtum ginge, der nach § 17 StGB nicht entlastet.
Disziplinarische Verantwortung des Schulpersonals
Unabhängig von der Strafbarkeit ist das missbräuchliche Stellen einer Strafanzeige gegen einen Strafunmündigen durch eine staatliche Behörde in jedem Fall ein schwerwiegendes Dienstvergehen. Private können zwar grundsätzlich jederzeit eine Strafanzeige wegen jedweden Vorkommnisses stellen, weil es sich bei einer Anzeige nicht um eine rollenspezifische Prozesshandlung, sondern um eine reine Wissensbekundung handelt. Was mit einer privaten Anzeige geschieht, muss dann die zuständige Behörde verantworten. Man kann auch das übermäßige Gießen des Hochbeets beim Nachbarn anzeigen, nur ergeben sich hieraus eben keine rechtlichen Konsequenzen.
Anderes gilt für staatliche Behörden wie die Leitung einer staatlichen Schule oder die Schulaufsichtsbehörde. Diese üben grundrechtsgebundene Gewalt aus (Art. 1 Abs. 3 GG) und sind der Gesetzlichkeit der Verwaltung unterworfen (Art. 20 Abs. 3 GG), was nicht immer mit der gebotenen Festigkeit im Bewusstsein erziehungsberuflicher Milieus verankert sein mag. Eine Anzeige durch eine Behörde ist eine Übermittlung personenbezogener Daten, für die eine Ermächtigungsgrundlage vorhanden sein und die der Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe durch die empfangene Behörde dienen muss. Beides ist hier nicht der Fall. Der missbräuchliche Einsatz einer Strafanzeige, um erzieherische Konflikte innerhalb der Schule zu lösen, verletzt damit geltendes Recht, führt zu einer Stigmatisierung des Kindes zum Straftäter und verstärkt möglicherweise anderweitige Diskriminierungserfahrungen. Machtmissbrauch erfolgt typischerweise gerade gegenüber denjenigen, bei denen man Widerstand nicht erwartet: bei (scheinbar) sozial Benachteiligten. Es würde daher kaum überraschen, wenn eine möglicherweise bestehende kohärente Praxis der Schulbehörden statistisch auch spezifischen Betroffenenmustern folgt, also etwa Kinder mit (scheinbar) migrantischen Namen statistisch besonders häufig von Anzeigen aus Schulen betroffen sind.
Unabhängig von der Strafbarkeit wäre daher das Schulpersonal mit den Mitteln des Arbeits- oder Beamtendisziplinarrechts nachhaltig an die Unverbrüchlichkeit administrativer Gesetzesbindung zu erinnern, um solche bizarren Praktiken wirksam abzustellen.
Einzeltäter oder organisierter Machtmissbrauch?
Der Beispielsfall verdeutlicht einmal mehr, dass die amtsbezogenen Straftatbestände des StGB ein filigraner Baustein in der Architektur der Gesamtrechtsordnung zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit sind. Amtsstraftatbestände richten sich gegen Machtmissbrauch und sind Korrelat der besonderen Hoheitsrechte, die Amtsträgerinnen und Amtsträgern durch demokratisches Recht übertragen wurden, um ihre Ämter verantwortungsvoll, neutral, ohne Ansehung der Person und nach geltendem Recht zu verwalten. Der Fall zeigt aber auch, welche Probleme es bereitet, wenn der Staat soziale Konflikte, die in Schulen allgegenwärtig sind, zu einem ganzheitlichen Problem aufbläht, zu dessen Lösung dann alle möglichen Behörden irgendwie aufgerufen sein sollen. Ein diffuses Kindeswohl wirkt dann eher als semantischer Brandbeschleuniger. Dies unterläuft die freiheitsschützende Aufgabendifferenzierung der öffentlichen Gewalt (hier zwischen Schul-, Jugendhilfe- und Strafverfolgungsbehörden) und durchbricht die Grenzen rechtsstaatlicher Eingriffsverwaltung. Am allerwenigsten gedient ist damit den Kindern, um die es eigentlich gehen sollte.
Schöner Beitrag, allerdings eine kleine Ungenauigkeit:
“Davon abgesehen, dass die Polizei keine Zeugen verbindlich vorladen kann (zur Anordnung ist nach §§ 161a Abs. 1 Satz 1, 163 Abs. 3 Satz 1 StPO nur die Staatsanwaltschaft befugt)”
Die Polizei darf Zeugen schon verbindlich vorladen, nur bedarf es dafür eines Antrags der StA. Das klingt zwar ähnlich, ist aber nicht exakt dasselbe. Die StA muss die Zeugenladung nicht anordnen, sondern nur bei der Polizei beantragen. Dann lädt die Polizei (nicht die StA) die Zeugen.
Man kann die Passage auch so verstehen, dass die Polizei nicht aus eigenem Antrieb Zeugen vorladen kann. Aber wenn es deinem Ego guttut, einen vermeintlichen Fehler gefunden zu haben, und Du nun meinst schlauer zu sein: bitte.
Außerordentlich gut formulierter Beitrag, der es an der gebotenen Schärfe bei der Verurteilung machtmissbräuchlicher Praktiken von Amtsträgern nicht fehlen lässt.
Gehört in jeder Amtsstube ausgehängt.
Chapeau!
Einfach Dankeschön!
Danke, dass der Vorgang publik gemacht wurde.
Wenn in den USA soetwas passiert, ist die Empörung groß auch von staatlichen Stellen. Statt mit Mitteln des Kinder-und Jugendhilferechts zu reagieren, falls überhaupt erfoderlich, wird mit autoritärem Machtgehabe einem Kind begegnet. Erziehungspolitisches Versagen auf ganzer Linie und Machtmißbrauch. Interessant wäre zu erurieren, ob die soziale Herkunft der Kinder eine derartige Praxis begünstigt haben. Der Verdacht liegt sehr nahe, dass es sich um kein Kind aus einer “gutbürgerlichen” Familie handelt. Das Polizeipräsidium muss sich hier erklären, und offenlegen, in welchen Fällen dies praktiziert wurde. Und die Schulbehörde müsste überlegen, ob ein diskriminierunsgfreier Erziehungskonzept nur ein Lippenbekenntnis bleiben soll.
Hier ein Beispiel aus Wien (Österreich):
Zwei fünfjährige Buben streiten in der Sandkiste um ein Spielzeug. Der eine Bub schubst den anderen. Der andere schubst zurück. Schließlich stößt sich einer den Kopf an der Kante der Sandkiste. Kann passieren, bei Kindern in diesem Alter – sollte man meinen. Dieser Fall allerdings landete auf dem Schreibtisch von Familienrichterin Doris Täubel-Weinreich. Die Eltern der beiden Kinder riefen nach dem Vorfall in der Sandkiste die Polizei, die musste die Anzeige gegen einen der Fünfjährigen dann aufnehmen.
Das ist der skurrilste in einer Reihe von Fällen, in denen strafunmündige Kinder (also jene unter 14 Jahren) bei der Polizei gemeldet werden. „Es ist zu beobachten, dass vermehrt Unfälle angezeigt werden, die eigentlich zum Erwachsenwerden dazugehören“, sagt die Familienrichterin.
Wenn ein Schulkamerad dem anderen den Sessel wegzieht, und der sich einen Zahn ausschlägt, sei das vor einigen Jahren noch nicht angezeigt worden, in letzter Zeit zunehmend schon. „Wenn man die alle in eine Strafkartei aufnimmt, wäre das aber auch nicht Sinn der Sache“, sagt Täubel-Weinreich.
5907 Fälle
Grundsätzlich landen die Anzeigen gegen Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, vor dem Pflegschaftsgericht. 2015 waren das 5907 Fälle. Der jüngste ereignete sich am Montag im Wiener Stadtpark. Vier Burschen nahmen einem Zwölfjährigen, der auf Pokémonjagd war, das Handy ab. Drei von ihnen waren unter 14 Jahren alt.
Die Staatsanwaltschaften reichen solche Akten umgehend an die Familiengerichte weiter.
Die Richter dort entscheiden dann, was getan werden muss. Bei kleineren Delikten wird der Akt „eingelegt“, also einfach ignoriert. Bei größeren Delikten wird das Jugendamt informiert, um zu überprüfen, ob ein Erziehungsproblem vorliegt. Oft seien die Eltern aber überfordert. „Da gehört mehr gemacht“, sagt Täubel-Weinreich. Etwa mit aufsuchender Sozialarbeit. „Die Probleme beginnen oft schon bei Kindern im Alter von acht oder neun Jahren.“
Wer 14 oder älter ist, der bekommt – wenn er vorher unauffällig war – eine Belehrung vom Staatsanwalt. Nach dem Motto: „Wenn du das noch einmal machst, wirst du bestraft“. Von einer strafrechtlichen Verfolgung wird dann abgesehen. Ansonsten kommt es zu einer Diversion oder – im strengsten Fall – zu einem Strafprozess.
Nikolaus Tsekas vom Bewährungshilfeverein Neustart berichtet von Erfolgen durch die Sozialnetzkonferenz für jugendliche Straftäter: Ein soziales privates Netzwerk aus Familie, Freunden, Lehrern schmiedet gemeinsam mit Sozialarbeitern einen Zukunftsplan für den Delinquenten und erspart ihm (und – finanziell gesehen – dem Staat) das Gefängnis. Tsekas schlägt vor (siehe auch Interview rechts), das Modell auf Zehn- bis 14-Jährige auszuweiten: „Es ist das ideale Instrument dafür.“
Familienrat
In Deutschland wurde die Methode bereits von der Jugendwohlfahrt übernommen. Man hält eine sogenannte Family Group Conference, einen Familienrat, ab, wenn ein Kind strafrechtlich verhaltensauffällig wird und diskutiert Maßnahmen zur Unterstützung.
Sozialarbeiter Tsekas meint, dass das Ausloten von Grenzen – „die klassische Mutprobe“ – aber zum Erwachsenwerden dazu gehört und nicht immer gleich nach dem Strafrichter schreit.
In Sachen Sandkiste sah das Pflegschaftsgericht übrigens keinen Handlungsbedarf. „Ein Streit um ein Spielzeug ist keine kriminelle Tat“, sagt Richterin Doris Täubel-Weinreich.
„Nicht abwarten, bis er 14 ist, und dann eintunken“
KURIER: Werden die Kids immer krimineller?
Nikolaus Tsekas: Nein, bei Verurteilungen von Jugendlichen gibt es einen Rückgang. Aber das Anzeigeverhalten hat zugenommen, der Ruf nach der Verantwortung des Staates. Früher wurde vieles ohne Polizei geregelt. Wenn wir in unserer Jugend beim Greißler was gefladert haben und erwischt wurden, mussten wir Regale schlichten und damit war es erledigt.
Und was passiert mit Unmündigen, wenn sie schlimmere Delikte setzen, zum Beispiel ein Handy rauben?
Unter 14 Jahren gibt es keine Angebote. Wenn die Familie des Jugendlichen nicht schon auffällig war, wird das ignoriert. Es wird aber dann miteinbezogen, wenn der knapp nach dem 14. Geburtstag vor Gericht kommt. Wurde er als 13-Jähriger schon ein paar Mal erwischt, bekommt er dann gleich eine relativ strenge Strafe.
Aber das darf der Richter doch gar nicht werten, weil der Jugendliche mit 13 ja noch gar nicht strafmündig war?
Das wird dann mit Spezialprävention begründet, dass hier höhere Strafen nötig sind.
Was ist der Ausweg?
Nicht abwarten, bis der 14 ist, und ihn dann eintunken. Es muss zwischen zehn und 14 vernünftige Reaktionen geben.
Gesetzeslage: Bis 14 Jahre, ab 14 Jahren
Bis 14 Jahre
Kriminelles Verhalten von Strafunmündigen wird in den sogenannten Jugenderhebungen festgehalten. Die Familienrichter können das Jugendamt einschalten und die Eltern zu Erziehungsschulungen schicken bzw. ihnen im Ernstfall das Sorgerecht entziehen.
Ab 14
Die strafrechtliche Reaktion beginnt bei der Diversion, die nicht im Strafregister (Leumund) aufscheint. Unterste Stufe ist die Festsetzung einer Probezeit (in Verbindung mit der Weisung zu einer Therapie) von ein bis zwei Jahren, in denen der Jugendliche unter Beobachtung steht. Daneben gibt es Tatausgleich mit dem Opfer, gemeinnützige Leistungen, Geldbuße. Dann folgen Geld- und Haftstrafe.
weiß man wie das Verfahren ausgegangen ist?