10 May 2019

VG München zu Seehofer-Präzedenzfall: Kein Schutz des Eilrechtsschutzes?

Der unionsinterne Asylstreit um die von Innenminister Seehofer geforderte Zurückweisung Schutzsuchender an der österreichisch-bayrischen Grenze hatte letzten Sommer die Stabilität der Bundesregierung gefährdet. Die schließlich vereinbarten, bilateralen Rücknahmeabkommen mit einzelnen Dublin-Staaten präsentierte Seehofer als Lösung, mit der er sich durchgesetzt habe. Auf der Basis des deutsch-griechischen Abkommens sollen Asylsuchende, die bereits in Griechenland einen Asylantrag gestellt hatten, an der bayrisch-österreichischen Grenze zurückgewiesen und innerhalb von 48 Stunden nach Griechenland zurückgeführt werden. Darf das Dublin-Verfahren mit solchen bilateralen Absprachen verkürzt werden? In einem Präzedenzfall hat nun die 5. Kammer des VG München eine Eilentscheidung (Az. M 5 E 19.50027) getroffen.

Der Asylsuchende war im Zug aus Österreich kommend aufgegriffen und in Gewahrsam genommen worden. Nachdem ein Eurodac-Eintrag für Griechenland festgestellt worden war, erhielt er einen Einreiseverweigerungsbescheid. Er solle nach Griechenland zurückgeführt werden. Der Bescheid enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung ohne Information über Eilrechtsschutzmöglichkeiten. Am 6. Oktober 2018, fünf Tage nach der (fiktiven nicht-) Einreise und nach einem ersten, wegen des prekären Zustands des ersichtlich vulnerablen Betroffenen erfolglosen Rückführungsversuch wurde er vom Flughafen München aus nach Griechenland abgeschoben. 

Versäumt wird bei einem solchem Vorgehen, um nur eine Auswahl zu nennen: ordnungsgemäße Information und Anhörung zum Dublin-Verfahren, einzelfallbezogene Abklärung der Zumutbarkeit der prekären Verhältnisse in Griechenland, Überstellungsbescheid entsprechend Art. 26 VO Dublin III mit Setzung einer angemessenen Eilrechtsschutzfrist, Abwarten der Eilentscheidung bzw. mindestens der Eilrechtsschutzfrist vor Abschiebung…, kurz: es werden klare Vorgaben insbesondere des Dublin-Rechts missachtet. Das Rechtsschutzverfahren dagegen musste der Betroffene vom Ausland aus betreiben. Seine Anwältin forderte mit Eilantrag vom 7. November 2018, er müsse unverzüglich nach Deutschland zurückgeholt werden. Das lehnte das Verwaltungsgericht ab. Der Betroffene werde in der Hauptsache voraussichtlich unterliegen. Griechenland sei hier der zuständige Mitgliedstaat, insbesondere befinde sich der Betroffene in Griechenland nicht in einer Art. 4 GRCh verletzenden Situation.

Also alles gut? Nein. Selbst wenn Art. 4 GRCh tatsächlich nicht verletzt wurde: Verletzt wurde jedenfalls das aus Art. 27 III c VO Dublin III, § 34a II 2 AsylG sich ergebende Recht des Asylsuchenden darauf, dass vor der Abschiebung über deren einstweilige Zulässigkeit auf Antrag, zu dem Gelegenheit bestehen muss, ein Gericht entscheidet. Was ist zu tun, wenn die Behörden das bis dahin bzw. mindestens bis zum Ablauf der Eilrechtsschutzfrist bestehende gesetzliche Bleiberecht schlicht ignorieren? 

Üblicherweise stellen sich solche Fragen nicht, vor Seehofer pflegte die Exekutive den effektiven Rechtsschutz zu respektieren. Nicht nur in Dublin-Fällen, sondern auch bei Asylsuchenden, die nach negativ ausgegangenem Asylverfahren in den Herkunftsstaat abzuschieben waren. Bereits der im Sommer 2018 durch die Medien gegangene Fall Sami A. hat gezeigt, dass man sich darauf nicht mehr verlassen kann: Die Behörden hatten die Abschiebung nach Tunesien fortgesetzt, obwohl ihnen eine Abschiebestopp-Entscheidung des VG Gelsenkirchen zugegangen war. Die dritte Gewalt reagierte noch am selben Tag: Der Betroffene sei umgehend nach Deutschland zurückzuholen.

Einer solchen Rückholverfügung liegt ein Folgenbeseitigungsanspruch zugrunde: Die rechtswidrige Abschiebung verletzt den Betroffenen in seinen Rechten, und solange die Ungefährlichkeit der zielstaatlichen Situation nicht (eil)gerichtlich geklärt ist, besteht Anspruch darauf, dass die noch andauernde Folge des rechtswidrigen Behördenhandelns beseitigt wird. Für rechtswidrige Dublin-Überstellungen ist eine Wiederaufnahmepflicht ausdrücklich in Art. 29 III VO Dublin III geregelt. Indem das Gericht nach Feststellung einer rechtswidrigen Abschiebung unverzüglich die Wiederaufnahme verfügt, schützt es den Betroffenen, besteht darauf, dass die Behörden das geltende Recht respektieren, und stellt die Kontrollfunktion der dritten Gewalt wieder her: Es ist auf Antrag – zu dem Gelegenheit bestehen muss – Sache der Gerichte zu entscheiden, in welchen Einzelfällen der Eintritt gravierender Rechtsverletzungen so unwahrscheinlich ist, dass die Abschiebung einstweilen vollzogen werden darf.

Offenbar reagieren die Gerichte empfindlicher, wenn, wie im Fall Sami A., ein gerichtlich verfügter Abschiebestopp ignoriert wird, und nicht, wie im vorliegenden Fall, ein gesetzlicher. Das VG München jedenfalls hat keine sofortige Rückholung des Asylsuchenden angeordnet. Obwohl es sich um ein Eilverfahren handelte und eine Verletzung des Art. 4 GRCh geltend gemacht war – ein Vorbringen, das bei einem vulnerablen Asylsuchenden und Griechenland als Zielstaat alles andere als fernliegend ist –, hat das Gericht erst sechs Monate später überhaupt etwas entschieden. Und es hat neben der rasch und eindeutig beantwortbaren Frage, ob die Abschiebung rechtswidrig war, erst untersucht, in welcher Situation sich der Betroffene in Griechenland befand. Mit der Entscheidung, dass seine Situation nicht hinreichend menschenrechtsverletzend sei, war dem Gebot der gerichtlichen Abklärung dann Genüge getan und hatte sich der Folgenbeseitigungsanspruch im Nachhinein erledigt.

Mit einem solchen Vorgehen lässt die Judikative die von der rechtswidrigen Behördenpraxis unter dem Abkommen betroffenen Personen eilrechtsschutzlos und hebelt ihre eigene Kontrollfunktion aus: Bei „Seehofer-Zurückweisungen“ entscheiden derzeit, auch in strittigen Fällen, die Behörden, wer gleich wieder abgeschoben wird. Auf die Gefahr hin, dass die Abgeschobenen im Zielstaat in eine Situation geraten, in der sie schwer und irreversibel in ihren Rechten verletzt werden. Und in der es ihnen evtl. gar nicht mehr möglich ist, die Abschiebung vom Ausland aus überhaupt noch vor die Gerichte zu bringen. Nicht jeder Betroffene findet die nötige zivilgesellschaftliche Unterstützung. Effektiver Rechtsschutz sieht anders aus. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit sollte die rechtsstaatswidrige Behördenpraxis unter den Seehofer-Abkommen durch umgehende Rückholverfügungen sofort und konsequent stoppen.


SUGGESTED CITATION  Lübbe, Anna: VG München zu Seehofer-Präzedenzfall: Kein Schutz des Eilrechtsschutzes?, VerfBlog, 2019/5/10, https://verfassungsblog.de/vg-muenchen-zu-seehofer-praezedenzfall-kein-schutz-des-eilrechtsschutzes/, DOI: 10.17176/20190517-143941-0.

5 Comments

  1. Christian Borschberg Mon 13 May 2019 at 09:38 - Reply

    Gibt’s ein Aktenzeichen oder eine Fundstelle?

  2. Isabell Schwiering Mon 13 May 2019 at 15:44 - Reply

    Noch so Urteil aus diesem Bundesland, dass mich sprachlos und zutiefst besorgt zurücklässt.

  3. Christian Borschberg Thu 23 May 2019 at 18:58 - Reply

    Die 5. Kammer fingiert die Durchführung eines Dublin Verfahrens und geht in der Begründung nicht darauf ein, dass die Abschiebung auf der sog Seehofer Regelung vom 17./18.08.2018 beruhte.

    Es handelt sich um eine Fiktion, weil offenundig kein Verfahren nach der Dublin III-VO stattgefunden hat.

    Die 5. Kammer meint offenbar – ohne dies auch nur zu begründen – dass eine Verständigung im Wege des Austausches von E-Mails zwischen der Bundespolizei und Griechenland für eine Überstellung ohne Durchführung eines Dublin-Verfahren ausreichend und rechtmäßig sei. ( Rdn 51 der Entscheidung )

    Dann findet eine Art Prüfung statt, ob die Überstellung nach den Zuständigkeitkriterien der Dublin-III-VO rechtmäßgig gewesen wäre.

    Die Einhaltung der Verfahrensregelungen der Dublin III-VO die nach Auffassung des EuGH dem Schutz des Betroffenen dienen sollen, werden dagegen nicht geprüft.

    Die Dublin III-VO ist aber für die EU-Staaten und damit auch für Deutschland bindendes Recht.

    Ob die Dublin III-VO Raum lässt für eine bilaterale Verwaltungsvereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten eine Überstellung ohne Einhaltung der Regelnungen der Dublin III-VO durchzuführen hätte geprüft werden müssen.

    Das Verwaltungsgericht hat sich noch nicht einmal im Ansatz der rechtlichen Problematik gestellt.

    Dies muss wohl nachgeholt werden.

  4. Laura Mon 10 Jun 2019 at 20:14 - Reply

    Des Weiteren gab es ich vor kurzem dieses Urteil https://verfassungsblog.de/binnengrenze-%E2%89%A0-aussengrenze-klaerendes-vom-eugh-zur-wiedereinfuehrung-von-grenzkontrollen/. In dem vom EuGH festgestellt wurde dass es eine Fiktion der Nichteinreise nicht gibt, scheint das VG München auch ignoriert zu haben.

    Weiter frage ich mich wirklich wie das Gericht zu dem Schluss kommt dass die Bundespolizei ein Dublin verfahren durchführen kann.

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