Vier Gegenthesen zum Kopftuchurteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
Aqilah Sandhu, Ass. Jur., hat während ihres Referendariats im Freistaat Bayern gegen das ihr in Gestalt einer rechtsgrundlosen Auflage erteilte Kopftuchverbot geklagt. Nachdem das VG Augsburg der Klage im Juni 2016 stattgegeben hatte, hob der BayVGH die Entscheidung im März 2018 aus prozessualen Gründen auf. Gegen dieses Urteil ist derzeit die Nichtzulassungsbeschwerde beim BVerwG anhängig. Die der nun ergangenen Entscheidung des BayVerfGH zugrundeliegende Popularklage geht nicht auf die Verfasserin zurück und ist unabhängig von ihrem Verfahren.
In 17 konzisen Thesen fasst Hans Michael Heinig seine Kritik an der Entscheidung des BayVerfGH vom 14. März 2019 zur Vereinbarkeit von Art. 11 Bayerisches Richter- und Staatsanwaltsgesetz (BayRiStAG) mit der Bayerischen Verfassung zusammen. Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG untersagt das Tragen religiös oder weltanschaulich geprägter Symbole oder Kleidungsstücke für einen bestimmten Kreis von Amtsträgerinnen in der Justiz in Verhandlungen und bei Amtshandlungen mit Außenkontakt. Hintergrund dieses Verbotsgesetzes ist das Urteil des VG Augsburg aus dem 2016, in dem es feststellte, dass das in meinem Fall ergangene Kopftuchverbot im Referendariat mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig gewesen ist. Nachdem der Freistaat noch in dem mich betreffenden Prozess die Auffassung vertrat (und weiterhin vertritt), dass es einer ausdrücklichen gesetzlichen Verbotsgrundlage in Gestalt eines Parlamentsgesetzes für den Bereich der Justiz nicht bedürfe, ein Verbot sich vielmehr auf Art. 97 GG i.V.m. §§ 25, 29 DRiG stützen ließe, erging im März 2018 auf Initiative der Staatsregierung im Zuge der vollständigen Novellierung des BayRiStAG nachträglich doch ein Verbotsgesetz. Dieses ist seit dem 1. April 2018 in Kraft.
Heinig ist in seiner Eingangsbemerkung beizupflichten, dass der Streit um religiös motivierte Kleidung in einer religiös-pluralen Gesellschaft nicht zielführend ist. Weitergehend bin ich der Überzeugung, dass die Kopftuchdebatte nicht nur relevante integrationspolitische Themen verdrängt, sondern vielmehr als Chiffre für unausgesprochene Differenzen dient: vieles, was unter bildungs- und sicherheitspolitischen Aspekten diskutiert werden müsste, wird in der ideologisch überfrachteten Kopftuchdebatte abgeladen. Man wird den Eindruck nicht los, dass die leidige Kopftuchdebatte ein Substitut für politische Defizite in vielen anderen emotional aufgeladenen Bereichen, insbesondere der Migration, ist. Auch stimme ich mit Heinig darin überein, dass der Entscheidung des BayVerfGH ein unübersehbarer Dezisionismus innewohnt.
Doch in einigen Punkten verdienen seine Thesen Widerspruch. Dabei werde ich nur insoweit erwidern, als dies eine Replik erfordert. Diese Kurzreplik erhebt insbesondere nicht den Anspruch einer umfassenden Besprechung der aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht unzulänglichen Entscheidung des BayVerfGH. Zu den vielen kritikwürdigen Punkten dieser Entscheidung gehören insbesondere die konstruierte Differenzierung zwischen der Norm und ihrem Vollzug (Rn. 19) sowie der Widerspruch zwischen der vorgeblichen „institutionelle[n] Neutralität“ (Rn. 34) bei gleichzeitigem Anbringen von Kreuzen in Gerichtsälen. Der Vollzug einer Norm kann bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gerade nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere dann nicht, wenn ein gleichheitswidriger Vollzug bereits in der Norm selbst angelegt ist. Das soll jedoch hier nicht weiter vertieft werden. Allgemein wurde zur Debatte schon vielerorts – und aus meiner Sicht hinreichend – Stellung bezogen (hier, hier und hier).
1. Die Amtstracht schaffe, so schreibt Heinig, “eine gewisse Distanz zum Interaktionspartner”, der Amtsträger trete dadurch “nicht bloß ‚von Mensch zu Mensch‘, sondern als Repräsentant des Staates” auf, was auch der Inszenierung von Macht diene. Diese Funktion würde konterkariert, wenn zur Amtstracht zusätzlich religiös konnotierte Kleidungsstücke oder Symbole treten. Doch aus der Tradition der Amtstracht auf ein pauschales Verbot zu schließen, das überdies einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt, kann verfassungsrechtlich nicht überzeugen. Dienstkleidung sollte nicht derart überhöht, sondern im Hinblick auf ihre Tradition und Funktion betrachtet werden. Anders gewendet: Es kann nicht stets vom Vorliegen einer Amtstracht auf ein strikteres Neutralitätsgebot geschlossen werden. Öffentlich bestellte Dolmetscher in Gerichtsverfahren oder Sachverständige mögen keiner Amtstrachtpflicht unterliegen, haben aber ebenso Objektivität walten zu lassen und im Zweifel einen stärkeren Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens als Rechtspflegerinnen, für die das Verbot wiederum gilt. Außerdem geht der Gesetzgeber selbst von diesem Widerspruch nicht aus. Denn er verbietet ein Kopftuch nur dann, wenn die Amtsträgerin “Bürgerkontakt” hat bzw. eine Amtshandlung mit Außenkontakt vornimmt. Doch warum sollte ein Kopftuch bei einer Urteilsverkündung, bei der kein Prozessbeteiligter anwesend ist oder im richterlichen Beratungsraum getragen werden dürfen, sonst aber nicht? Es ist u.a. dieser absurde, praxis- und lebensfremde Gehalt von Art. 11 BayRiStAG, der verfassungsrechtliche Rechtfertigungsversuche so schwer bemüht erscheinen lässt. Ich halte es aus demokratie- und pluralismustheoretischer Sicht1) für unzulässig, Amtsträger/innen von der Gesellschaft derart zu abstrahieren. Wenn der “Staat” die Summe von Partikularinteressen ist, müssen seine Repräsentanten diesen Pluralismus auch sichtbar abbilden. Fällt nicht der von Gustav Radbruch in Bezug auf den Einfluss politischer Parteien so benannten „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“2) anheim, wer die heterogene Gesellschaft in staatlichen Einrichtungen gänzlich auszublenden versucht? Auch fragt sich, inwiefern die Robe der Anwaltschaft eine andere Beurteilung verdient, als die der Richterin? Warum sollte die Landesanwältin kein Kopftuch tragen dürfen, die Anwältin jedes anderen staatlichen Hoheitsträgers wiederum schon? Oder darf sie es nicht? Es löst solche Wertungswidersprüche aus, wenn der Amtstracht ein unangemessen hohes verfassungsrechtliches Gewicht beigemessen wird.
2. Heinig betont zu Recht die Formalisierung des Gerichtsverfahrens. Und ja, “[d]ie Interaktion der Verfahrensbeteiligten wird im Wesentlichen durch die Prozessordnungen geprägt. Die Persönlichkeit der Akteure spielt dabei anders als in der Schule eine weitaus geringere Rolle.” – Nur, lässt sich nicht genau daraus auch der Gegenschluss ziehen, dass sichtbare Religiosität eben zulässig sein muss? Wenn doch die Persönlichkeit der Akteure angesichts der Formalisierung kaum eine Rolle spielt, ist nicht der staatlich veranlasste religiöse Zwang, wie ihn eine Verletzung der negativen Glaubensfreiheit voraussetzt, noch viel eher ausgeschlossen? Und ist eine abstrakt-typisierende Betrachtungsweise zu Lasten der individuellen Glaubensfreiheit nicht noch viel weniger angebracht, wenn rechtsstaatliche Mechanismen, wie die Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit und v.a. auch Öffentlichkeit gerichtlicher Verfahren, gewährleistet sind? Geschlecht, Glaube, Herkunft – das sind Persönlichkeitsmerkmale, die als „allgemeine Gesichtspunkte“ einer Richterperson im Sinne von § 18 Abs. 2 BVerfGG gelten und die für sich allein keine Zweifel an der Unvoreingenommenheit begründen.
3. In Bezug auf die negative Glaubensfreiheit Dritter befand das BVerfG bereits 2003 in der Leitentscheidung Ludin, dass sich der Staat eine individuelle religiöse Überzeugung einzelner Staatsbedienstete im Unterschied zum staatlich veranlassten Symbol nicht zurechnen lassen muss. Der BayVerfGH sieht dies für den Bereich der Justiz genau umgekehrt. Zwar hat auch das BVerfG in seiner einstweiligen Anordnung die Verletzung der negativen Glaubensfreiheit durch das Kopftuch bei Referendarinnen in den Raum gestellt – dies kursorisch und ohne auf die fehlende Zurechenbarkeit näher einzugehen. Doch lassen sich diese Erwägungen auf den bayerischen Kontext nicht unbesehen übertragen. Der BayVerfGH misst mit zweierlei Maß, wenn er den Prozessbeteiligten im Gegensatz zum BVerfG einerseits nicht zumutet, im Kopftuch eine persönliche Glaubensüberzeugung zu erkennen, gleichzeitig aber beim staatlicherseits veranlassten Kreuz eine Differenzierungsgabe unterstellt, die selbst Fachkundige überfordern dürfte: Da das Kreuz von der Gerichtsverwaltung und nicht von einzelnen Richtern angebracht würde, so der BayVerfGH, könne es keine Zweifel an der Neutralität einzelner Amtsträger hervorrufen. Insbesondere angesichts der partiellen Personalunion von Gerichtsverwaltung und Richterschaft erstaunt diese Argumentation doch sehr. Zu Recht kritisiert Heinig insofern diese Einseitigkeit. Doch zugleich wird verkannt, dass eine vergleichbare Einseitigkeit auch der in seiner 16. These positiv erwähnten EGMR-Entscheidung (Lautsi) innewohnt, in der die Große Kammer das Kreuz als „passives“ Symbol im Unterschied zum Kopftuch als „starkes“ Symbol interpretiert und mangels beeinflussender Wirkung auf Schüler für zumutbar hält. Ähnlich wie der Freistaat beurteilt der EGMR die Wirkung von Kreuz und Kopftuch nicht widerspruchsfrei, sondern lässt subjektive Präferenzen erkennen. Auch bei Heinig klingt diese Interpretation an, wenn er in These 10 in Bezug auf das Kopftuch davon spricht, dass „auffällige weitere Kleidungsstücke“ die Funktion der Amtstracht konterkarieren: doch was ist auffällig? Und wieso wird ein unauffälliges Kopftuch, das sich der Amtstracht optisch unterordnet, nicht im Sinne einer „reasonable accomodation“, wie sie im anglo-amerikanischen Kontext praktiziert wird, als milderes Mittel bedacht? Erst diese unterschiedliche Bewertung der Symbolwirkung führt beim Kopftuch zur Annahme einer staatlichen Zwangswirkung auf Prozessbeteiligte. Man könnte das Kopftuch auch als profanes Kleidungsstück betrachten, dessen Wirkung durch die Robe neutralisiert und durch den Anblick der übrigen heterogenen Staatsbediensteten relativiert wird. Eine staatliche Zwangswirkung von gewisser Intensität und Dauer, die dazu führen würde, dass tatsächlich die negative Glaubensfreiheit tangiert wäre, erschiene bei dieser Betrachtungsweise doch sehr fernliegend.
4. Weiter geht Heinig davon aus, dass „in Bereichen, in denen das staatliche Gewaltmonopol für Bürgerinnen und Bürger unmittelbar erlebbar ist“ dem Neutralitätsgrundsatz womöglich ein anderes Gewicht beizumessen sei. Doch diese Fokussierung bewirkt, dass Verbotsgesetze in der Justiz zu oberflächlich unter dem Reizwort „Kopftuch der Richterin“ diskutiert werden. Dies mag argumentativ vorzugswürdig sein, weil eine Rechtfertigung für viele mit Verweis auf Machtausübung und Gewaltmonopol auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag. Doch damit macht man es sich zu leicht. Heinig spricht zwar an anderer Stelle allgemeiner von „Gerichtsperson“ oder „Justizbediensteten“, ohne jedoch daraus differenzierende Schlüsse für die Rechtfertigung zu schließen. Dabei wird in der Rechtswirklichkeit von den durch das Verbot in Art. 11 BayRiStAG betroffenen Berufskategorien das hauptamtliche Richteramt mit hoher Wahrscheinlichkeit der seltenste Anwendungsfall sein. Es betrifft nämlich auch ehrenamtliche Richterinnen, Staatsanwältinnen und gar Landesanwältinnen, die den Freistaat in Gerichtsverfahren vertreten und – vermittelt durch das bayerische Ausführungsgesetz zum GVG – auch Rechtspflegerinnen und Rechtsreferendarinnen bei der Wahrnehmung richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Tätigkeiten. Vor diesem Hintergrund genügt es m.E. nicht, auf das Gewaltmonopol hinzuweisen oder die negative Glaubensfreiheit ins Feld zu führen, wenn ein Großteil der Betroffenen eben keine Zwangsgewalt ausübt. Es genügt auch nicht, die jeweils vorgeschriebene Amtstracht zu betonen, wenn ein Teil der Betroffenen keine Amtstracht trägt. Heinig will zwar bei Schöffinnen „ein höheres Maß an Diversität“ walten lassen, doch wie lässt sich dies angesichts ihrer richterlichen Funktion in der Hauptverhandlung (§ 30 GVG) mit dem Kopftuchverbot für Berufsrichterinnen vereinbaren? Dass Grundrechtseingriffe einer Rechtfertigung bedürfen und abstrakt-typisierende Betrachtungsweisen nur in Ausnahmefällen verfassungsrechtlich zulässig sind, gerät in der Debatte schnell in den Hintergrund. Es steht noch immer der Verbotsgesetzgeber unter dem qualifizierten Begründungszwang, wenn er die Muslimin mit Kopftuch in der Justiz pauschal zur latenten Gefahr erklärt.