Völkerrecht und Verbraucherschutz
Zur Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln aus israelischen Siedlungen
I. Vor wenigen Tagen wurde eine erste Einschätzung zum EuGH-Urteil in der Rechtssache Organisation juive européenne und Vignoble Psagot (C-363/18) auf diesem Blog veröffentlicht, in dem die Autorin dem Gerichtshof ultra-vires-Handeln vorwirft. Tatsächlich jedoch hat der EuGH in dieser Entscheidung die völkerrechtlichen und faktischen Gegebenheiten in erforderlichem Maße berücksichtigt, weshalb er kaum zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können.
II. Der Gerichtshof entschied, dass auf Lebensmitteln aus einem von Israel besetzten Gebiet auch angegeben werden muss, dass es sich bei diesem Gebiet um eine israelische Siedlung handelt. Dem Beitrag zu dieser Entscheidung lag maßgeblich folgende Argumentationslinie zu Grunde: Der wahre Sinn und Zweck der Kennzeichnungspflicht liege darin, Israel für seine Völkerrechtsverstöße zu sanktionieren. Dies sei mit der Rechtsgrundlage der Verordnung 1169/2011, namentlich Art. 114 Abs. 1 AEUV, nicht zu vereinbaren, vielmehr seien Sanktionen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zuzuordnen. Der EuGH handelte damit ultra vires.
III. Gerichten eine Kompetenzüberschreitung zu attestieren kann unter Umständen rechtlich gerechtfertigt, zumindest vertretbar sein. Allerdings lässt sich vermehrt beobachten, dass das Attest „ultra vires“ oder „Verfassungsidentitätsverstoß“ in letzter Zeit fast floskelhaft etlichen Akteuren auf europäischer Ebene bescheinigt wird. Oftmals gründen solche Vorwürfe in der Annahme, das jeweilige Gericht habe politisch entschieden und damit die fließende Linie zwischen Recht und Politik überschritten: judicial activism. So verhält es sich auch hier, wenn die Kennzeichnungspflicht als Sanktion eingeordnet und anschließend vorgebracht wird, dass Sanktionen nur auf Basis eines Ratsbeschlusses ausgesprochen werden können. Es wird der Versuch unternommen, eine Grenze zwischen Recht und Politik zu ziehen. Statt solche Grenzen zu ziehen, sollten Rechtsanwender versuchen, Maßstäbe zu entwickeln, die dabei helfen, existierende Überschneidungen zwischen Recht und Politik lediglich zu verwalten, zu moderieren. Der Fokus jeder rechtlichen Analyse sollte sich daher auf die rechtliche Argumentation des Gerichts beschränken. Es geht nicht darum, allein zu beurteilen, ob das Gericht politische Erwägungen vornimmt oder etwa entgegen dem Wortlaut einer einschlägigen Rechtsvorschrift judiziert. Entscheidend ist vielmehr, inwieweit und inwiefern das Gericht Prinzipien, Grundsätze, Rechtsvorschriften oder anerkannte Werte berücksichtigt, um seine Entscheidung rechtlich-rational zu rechtfertigen. Meiner Ansicht nach spricht im vorliegenden Fall Art. 19 I 2 EUV als stärkstes Argument gegen eine Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs
Die Argumente des Gerichtshofs
IV. Nach Art. 9 Abs. 1 lit. i.) in Verbindung mit Art. 26 Abs. 2 lit. a) der Verordnung 1169/2011 ist das Ursprungsland oder der Herkunftsort von Lebensmittel verpflichtend anzugeben, falls ohne diese Angaben eine Irreführung der Verbraucher über das tatsächliche Ursprungsland oder den tatsächlichen Herkunftsort der Lebensmittel möglich ist. Den Begriff „Ursprungsland“ definiert der Gerichtshof im Einklang mit Art. 2 Abs. 3 VO 1169/2011 nach Art. 60 des Zollkodex der Union. Darunter gelten als Ursprungswaren eines bestimmten „Landes“ oder „Gebiets“ Waren, die entweder in diesem Land oder Gebiet vollständig gewonnen oder hergestellt oder aber dort der letzten wesentlichen Be- oder Verarbeitung unterzogen wurden (Rn. 27). So weit so gut.
V. Der Begriff „Land“ wird vom Gerichtshof im Wege einer systematischen Auslegung des EUV und AEUV mit dem Begriff „Staat“ gleichgesetzt, unter dem eine souveräne Einheit verstanden wird, die innerhalb ihrer geografischen Grenzen sämtliche nach dem Völkerrecht zustehenden Befugnisse ausübt (Rn. 28). Andere Einheiten als „Staaten“ und „Länder“ seien demgegenüber „Gebiete“ (Rn. 30).
VI. Im Einklang mit dem gegenwärtigen Völkerrecht kommt der Gerichtshof zum Ergebnis, dass die fraglichen Gebiete (das Westjordanland und die Golanhöhen) nicht von der israelischen Souveränität umfasst sind (33f.). Würde entsprechend auf den Lebensmitteln als Ursprungsland „Israel“ angegeben, würden die Verbraucher darüber getäuscht, dass Israel in den fraglichen Gebieten als Besatzungsmacht und nicht als anerkannte, souveräne Einheit präsent ist. Eine Angabe des Ursprungslandes sei demnach nach der VO 1169/2011 verpflichtend. Dieser rechtliche Befund untermauert der Gerichtshof mit einem telos-Argument. Art. 3 Abs. 1 VO 1169/2011 schreibt als „Allgemeine Ziele“ der Verordnung vor:
„Die Bereitstellung von Informationen über Lebensmittel dient einem umfassenden Schutz der Gesundheit und Interessen der Verbraucher, indem Endverbrauchern eine Grundlage für eine fundierte Wahl und die sichere Verwendung von Lebensmitteln unter besonderer Berücksichtigung von gesundheitlichen, wirtschaftlichen, umweltbezogenen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten geboten wird.“ (Hervorhebungen nur hier)
Dass demnach eine Kennzeichnungspflicht in der vorliegenden Konstellation aus ethischen Gründen geboten ist, ist keine willkürliche Feststellung, sondern angesichts der gegenwärtigen Völkerrechtslage mindestens vertretbar. Die Verordnung zielt nicht nur auf den Schutz der Gesundheit der Verbraucher ab, sondern misst den sonstigen Verbraucherinteressen einen vergleichbar hohen Stellenwert zu. Es kann insofern nicht ausgeschlossen werden, dass einige Verbraucher durchaus darauf achten, unter welchen menschenrechtlichen, sozialen und sonstigen Bedingungen bestimmte Lebensmittel hergestellt und erzeugt werden.
VII. Der Gerichtshof erwähnt in diesem Zusammenhang etwas unscheinbar Art. 3 Abs. 5 EUV, der die Union zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet (Rn. 48). Für die Auslegung der Verordnung spielt Art. 3 Abs. 5 EUV insofern eine Rolle, als der Gerichtshof im Wege seiner Auslegung nicht zu einem Ergebnis kommen darf, das zumindest implizit darauf hinausläuft, die Souveränität Israels über das Westjordanland oder die Golanhöhen anzuerkennen. Dies hätte einen Verstoß gegen den völkergewohnheitsrechtlichen Nicht-Annerkennungsgrundsatz (Stimson-Doctrine) zur Folge und stünde in einem gravierenden Widerspruch zum Koexistenzvölkerrecht.
VIII. Jedenfalls soll eine Kennzeichnung vorliegend nach Ansicht des Gerichtshofs mit der Angabe „israelische Siedlung“ erfolgen, um bei den Verbrauchern nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Lebensmittel aus palästinensischen oder syrischen Lebensmittelunternehmen stammen (Rn. 49 u. 51). Auch hier bin ich der Ansicht, dass diese Forderung gerechtfertigt ist, trotz der politischen Implikationen, die sie in sich birgt. Der Umstand, dass eine Kennzeichnung mit der Aufschrift „israelische Siedlung“ erfolgen sollte, trägt den geografischen und völkerrechtlichen Gegebenheiten Rechnung. Alternativbezeichnungen wären mit anderen Worten ihrerseits irreführend.
Zum ultra-vires-Vorwurf
IX. Unter rechtlichen Aspekten kann das reasoning des Gerichthofs nicht als Kompetenzüberschreitung verstanden werden. Neben den Zielen der Verordnung bemüht sich der Gerichtshof um eine Rezeption des geltenden Völkerrechts, was keineswegs verwundert. Im Gegenteil. Würde sich der Gerichtshof über die geltende Völkerrechtslage hinwegsetzen und die Kennzeichnung von aus israelischen Siedlungen stammenden Lebensmitteln mit dem Herkunftsland „Israel“ billigen, würde er selbst eine politische Position beziehen, die nicht von seinem Mandat gedeckt ist. Eine methodisch vergleichbare Herangehensweise wählte der Gerichtshof in den Rechtssachen Rat v. Front Polisario (C-104/16) und West Sahara Campaign (C-266/16).
X. Der Vorwurf, die Kennzeichnungspflicht stelle in Wahrheit eine Sanktion dar und sei dem Sachbereich der GASP zugewiesen, beruht auf einem haltlosen Fundament. Die Einordnung der Kennzeichnungspflicht als Sanktion ist eine Frage der Interpretation, jedenfalls keine Wiedergabe der politischen Implikationen des Urteils. Mit anderen Worten lässt sich der Sanktionsvorwurf nur deshalb vorbringen, gerade weil die Siedlungen im Westjordanland und in den Golanhöhen völkerrechtswidrig sind. Angenommen in der Republik Kongo niedergelassene Lebensmittelerzeuger und Hersteller würden ihre Waren in die EU mit der Aufschrift „Herkunftsland: Kongo“ exportieren. Für die Verbraucher würde sich auch hier die Bezeichnung als irreführend darstellen. Es geht nämlich nicht hervor, ob die Waren aus der Republik Kongo oder der Demokratischen Republik Kongo stammen. Auch in diesem Fall bestünde nach Maßgabe der VO 1169/2011 eine Kennzeichnungspflicht, sofern dies aus gesundheitlichen, ethischen, umweltbezogenen oder sonstigen von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung umfassten Gründen geboten ist. Von einer Sanktion kann aber hier nicht die Rede sein.
XI. Beizupflichten ist der Autorin darin, dass die mittelbare Folge des Urteils – das endgültige Kaufverhalten der Verbraucher ist aber noch fraglich – faktisch zumindest auf eine Sanktion hinauslaufen kann. Es stellt sich aber die Frage, ob hier von einem funktionalen Äquivalent zu im Rahmen der GASP verhängten Sanktionen gesprochen werden kann. Ich glaube nicht. Jedenfalls wird das Kaufverhalten einzelner allenfalls nur marginale wirtschaftliche Auswirkungen entfalten. Von einer Sanktion zu sprechen scheint daher überzogen zu sein.
Jedenfalls können Sanktionen zutreffend allein im Wege eines GASP-Beschlusses nach Art. 28 oder 29 EUV verhängt werden. Der Europäische Gesetzgeber hat mit dieser Aufgabenzuweisung eine Wertentscheidung dahingehend getroffen, dass es die Aufgabe der Politik und nicht der Judikative ist, Sanktionen zu verhängen. Die Implikation in der vorgebrachten These ist insofern nach meinem Verständnis, dass bei der Frage, ob eine Kennzeichnungspflicht in Bezug auf israelische Siedlungen besteht oder nicht, es sich aufgrund der möglichen Sanktionswirkung der Entscheidung um eine politische Frage handelt, die der Kompetenz des Gerichtshofs entzogen ist. Dies mag plausibel klingen, ist aber nur haltbar, wenn es sich hier tatsächlich um eine Sanktion handelt. Weitergedacht läuft diese Deutung der mittelbaren Wirkungen des Urteils darauf hinaus, dass jedem Marktzugangserfordernis, das die EU von Drittstaaten fordert, eine Sanktionswirkung zugesprochen werden muss.
Die vor dem U.S. Supreme Court 2015 verhandelte Sache Zivotofsky v. Kerry (576 U.S. 1059 (2015)) rief vergleichbare Reaktionen hervor. Der Supreme Court entschied, dass auf amerikanischen Reisedokumenten, sollte der Geburtsort Jerusalem sein, nicht „Israel“ in den Klammerzusatz aufgenommen werden soll. Die Richtermehrheit ging davon aus, dass die Entscheidung über den Status von Jerusalem in den Zuständigkeitsbereich des amerikanischen Präsidenten fällt. Genauso wie die Entscheidung des Gerichtshofs kann auch die Entscheidung des Supreme Court in die eine oder andere (politische) Richtung gedeutet werden. Fest steht aber, dass die Implikationen von Entscheidungen nicht über den rechtlichen Zusammenhang hinwegtäuschen dürfen. In der Sache Zivotofsky v. Kerry ging es vordergründig um Fragen der Gewaltenteilung, in Organisation juive européenne und Vignoble Psagot um Fragen des Verbraucherschutzes.
XII. Soweit von einer einseitigen Festsetzung gegenüber Israel gesprochen wird, fehlt es an den entsprechenden empirischen Belegen. Vielmehr verfolgt der Gerichtshof auch in anderen Zusammenhängen, etwa im Kontext der Besatzung der West-Sahara durch Marokko eine vergleichbare Linie. In der Rechtssache Rat v. Front Polisario befand der Gerichtshof, dass das zwischen der EU und Marokko bestehende Fischereiabkommen auf das Gebiet der West-Sahara keine Anwendung findet. Vergleichbar urteilte der Gerichtshof in der Sache Brita (C-386/08), dass das Westjordanland nicht vom Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel umfasst ist.
XIII. Zuletzt spricht gegen die Einordnung dieser Entscheidung als ultra vires die Kompetenzzuweisung in Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV, der folgendes bestimmt:
„[Der Gerichtshof der Europäischen Union] sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“
Der in diesem Satz enthaltene Begriff des „Rechts“ bezieht sich nicht ausschließlich auf das Unionsrecht. Jedenfalls umfasst dieser Begriff insbesondere auch die von der Europäischen Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge und das Völkergewohnheitsrecht (vgl. Rs. C-366/10, Rn. 101), soweit sich die Europäische Union nicht als persistent objector kenntlich gemacht hat. Aus Art. 3 Abs. 5 EUV lässt sich daneben folgern, dass die Union verpflichtet ist, einen Beitrag zur strikten Einhaltung und zur Weiterentwicklung des Völkerrechts zu leisten. Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV verpflichtet mit anderen Worten den EuGH, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, die völkerrechtlichen Bindungen der Europäischen Union zu beachten. Vorliegend hatte der EuGH die Gelegenheit, zu der Frage der Auslegung der Begriffe „Ursprungsland“ und „Herkunftsort“ einerseits und der Reichweite der Kennzeichnungspflicht nach der VO 1169/2011 andererseits Stellung zu nehmen. In erster Linie hatte er die Aufgabe, eine unionsrechtlich vertretbare Auslegung der Kennzeichnungspflicht vorzunehmen. In einem zweiten Schritt war er verpflichtet, eine Auslegung der genannten Begriffe zu liefern, die aufgrund ihres geographischen Bezugs unter Beachtung des geltenden Völkerrechts erfolgen musste (!). Ich würde daher eine bewusst extrem formulierte Gegenthese vorbringen: Der Gerichtshof war vorliegend dazu verpflichtet, eine solche Entscheidung zu treffen.
Das Recht gewahrt
XIV. Es war von Anfang an klar, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache auch politische Implikationen enthalten wird. Seit nunmehr 71 Jahren besteht der Nahost-Konflikt. Frieden ist gegenwärtig nicht in Sicht. Ein besonderes Merkmal des Israel-Palästina Konfliktes ist die Deutungshoheit über Recht und Unrecht, die stets einem Wandel unterliegt. Der Konflikt lebt seit jeher von Schuldzuweisungen einerseits, von der fehlenden Anerkennung von beiderseitig begangenen Unrechtstaten andererseits. Dies ist nicht der Ort, um Schuldzuweisungen auszusprechen oder das politische Verhalten der involvierten Akteure zu analysieren. Fest steht jedenfalls, dass keine der involvierten Parteien mit einer weißen Weste aus dem Konflikt hervorgehen wird und dass Frieden sich nur durch Kompromisse erzielen lässt. Voraussetzung dafür sind Verhandlungen zwischen den Parteien, die gleichberechtigt und auf Augenhöhe erfolgen sollten. Kompromisse setzen aber auch die Anerkenntnis der eigenen Schuld und die Bereitschaft auf Verzicht voraus. Vielleicht kann die Europäische Integration als Vorbild für den Nahost-Konflikt dienen: Gewalt und Zwangsherrschaft dominierten Anfang des 20. Jahrhunderts die europäische Politik. Mit der Europäischen Einheit wurden Gewalt und Zwangsherrschaft durch Werte der Rechtsstaatlichkeit ersetzt. Integration through Law als Friedenslösung.
XV. In seinem Urteil zur Kennzeichnungspflicht beachtet der EuGH das geltende Völkerrecht und wird den faktischen Gegebenheiten im Rahmen seiner Urteilsbegründung gerecht. Einschätzungen des Generalanwaltes Hogan zum Nahost-Konflikt in die Nähe des Antisemitismus zu rücken sind schlicht überzogen und entbehren jeder Grundlage. Dem Verbraucher soll nach dem Urteil die Entscheidung selbst überlassen sein, Waren aus israelischen Siedlungen zu kaufen oder nicht. Sie haben damit die Möglichkeit, im Rahmen ihres Konsumverhaltens, Entscheidungen zu treffen, die ihrer Ansicht nach der Wahrung des Weltfriedens zumindest förderlich sein können. Der Gerichtshof jedenfalls handelte nicht ultra vires, sondern hat seine Aufgabe erfüllt, das Recht zu wahren.
Es kann hier außerhalb einer Lebensmittelgefahr eine Informationspflicht mit über eine politische Haltung und damit insoweit eine Meinungsäußerungspflicht vorgegeben sein. Dies kann zudem mittelbar erheblich wirtschaftlich Eigentums-, und die Berufsfreiheit beschränken.
Von den betroffenen Grundrechtsinteressen kann solche Meinungsäußerungspflicht im Zusammenhang mit Lebensmittelhandel allein abstrakt mit Verbraucherinformationsschutz außerhalb einer unmittelbaren Lebensmittelgefahr kaum verhältnismäßig zu rechtfertigen sein.
Ohne genügende Rechtfertigung kann europäischer Warenverkehrsfreiheit unzulässig beschränkt sein.
Dies muss allerdings nicht “offensichtlich” scheinen.
Die Frage ist doch erst einmal, was eine israelische Siedlung sein soll. Im Westjordanland ist das relativ klar, dem entspricht eben als politisch-administrative Realität die Area C nach Oslo-Abkommen bzw. das Verwaltungsgebiet der Behörde für „Judäa und Samaria“. Aber im annektierten Golan, was ist da eine Siedlung? Geht es darum, ob der Eigentümer des Unternehmens Jude oder Druse ist oder wie? Geht es um die Staatsbürgerschaft? Darum, wann die Ortschaft erbaut wurde? Und was wäre an einer einfachen Herkunftsangabe „Golan“ irreführend, wie das Urteil behauptet? Wenn zugleich etwa Produkte aus Nordzypern einfach mit der Herkunftsangabe Zypern deklariert werden? Muss „Made in Taiwan“ künftig durch die Angabe „Volksrepublik China (Separatistengebiet der sogenannten „Republik China“)“ ersetzt werden? Der Tibet-Vergleich, den man in der Presse manchmal liest, hinkt insofern, dass ja ganz überwiegend die Zugehörigkeit zur VR China anerkannt wird (was vllt. nicht heißt, dass ein Gericht sich daran halten müsste).
Die Begründung des Urteils ist höchst zweifelhaft. Dass Herkunftsangaben nicht der völkerrechtlichen Beurteilung widersprechen sollen, ist eine Sache. Eine andere ist, was das Gericht aus dem Interesse, „bezüglich des wahren Ursprungs des Erzeugnisses in die Irre geführt“ zu werden, ohne gesetzliche Grundlage ableitet, was denn alles zu diesem „wahren Ursprung“ gehören soll. Also nochmal: Dass die Ursprungsangabe nicht völkerrechtlich falsch sein soll, ist eine Sache, aber warum sollte sie Verstoße gegen die 4. Genfer Konvention transparent machen? Das fällt genauso wenig in den Regelungsbereich der Herkunftsangaben wie die Verfolgung von Kinderarbeit oder Steuerhinterziehung. Ebenso seh ich nicht, was gegen eine Herkunftsangabe wie „Westjordanland (Area C nach Oslo-Abkommen)“ sprechen sollte und warum da „israelische Siedlung“ stehen sollte. Über die Angabe „Westjordanland“ könnte man auch noch reden, ich belasse es aber mal bei den schwächsten Stellen des Urteils. Ich sehe nicht, wer bitte auf die Idee kommen sollte, dass ein Produkt mit der Herkunftsangabe Golanhöhen von einem „syrischen Lebensmittelunternehmen“ stammen sollte, ein völlig absurder Gedanke, mal abgesehen davon, dass es bei der Herkunftsangabe sowieso nicht darum geht, in welchem Staat das Unternehmen registriert ist.
Dass das Urteil sich auf den konkreten Fall beschränken musste, mag sein. Mag sein, dass für die Westsahara eben nur jemand klagen muss und dann recht bekommt (eine Kennzeichnungspflicht besteht nämlich, so weit ich weiß, immer noch nicht). Doch dass das Gericht sich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht hat, wie sich das Urteil denn verallgemeinern ließe, ist besorgniserregend. Das Gericht erhebt sich mit der weit über die Vermeidung von Verwechslungsgefahr hinausgehende Auslegung dessen, was denn nun ein Herkunftsort an völkerrechtlich relevanten Informationen enthalten solle, nicht nur über den Gehalt der Lebensmittelverordnung, sondern begibt sich zudem noch in die unangenehme Situation, sich zu verpflichten, über völkerrechtliche Angelegenheiten aus dem bloßen Anlass des Lebensmittelrechts zu urteilen, wo sich Legislative und Exekutive womöglich aus guten Gründen ihres Urteils enthalten haben und völkerrechtliche Beurteilungen aus bestimmten Gesetzen und Verordnungen gerade herausgehalten haben. Auch auf die Frage von Polzin, warum nicht bei so viel Unklarheit des allgemeinen Rahmens auf die Evolutivklausel zurückgegriffen wurde, antwortet der Artikel hier nicht.