30 June 2023

Von der Macht fernzuhalten

Es kann losgehen! Wir starten das Projekt Thüringen. Unsere Crowdfunding-Kampagne ist sehr erfolgreich angelaufen, nach nicht mal zwei Wochen haben wir schon die erste Hälfte des Budgets fast beisammen. Wir können jetzt das Kernteam für das Projekt zusammenstellen und bereits in der nächsten Woche in die Konzeptionierung und Umsetzung einsteigen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die erste Hälfte der Strecke ist zurückgelegt, aber die zweite Hälfte liegt noch vor uns. Wir brauchen weiterhin jede Unterstützung, die wir kriegen können. Sie kennen sicherlich Menschen, die sich das Projekt auch interessieren müsste, oder nicht? Wollen Sie denen eine Nachricht schicken und/oder ganz generell auf Ihren Kanälen für das Projekt werben? Das wäre toll. Hier noch mal der Link. Vielen Dank dafür!

Wie nah und real die Aussicht auf eine autoritär-populistische Machtergreifung in Thüringen erscheint, haben sich viele erst in der letzten Woche so richtig klar gemacht. Im südthüringischen Sonneberg steht die AfD zum ersten Mal kurz davor, aufgrund einer gewonnenen Wahl ein staatliches Amt zu besetzen. Der Beweis, so scheint es, ist erbracht: Mehrheiten jenseits der 50 Prozent für eine rechtsextreme Partei sind in Teilen Thüringens etwas, das man ins Kalkül ziehen muss. Die AfD im demokratischen Wettbewerb zu überstimmen und zu isolieren, reicht nicht zuverlässig aus, um sie von staatlichen Machtmitteln fern zu halten. Dass es die AfD selber ist, der diese Interpretation des Vorgangs am aller besten gefällt, macht diese Erkenntnis nur noch bitterer.

Man könnte geneigt sein, den Vorgang Sonneberg als bloße Regionalnachricht zu verharmlosen. Es geht schließlich nur um einen Landrat in einem winzigen Provinzlandkreis, der schließlich, anders als eine Landesregierung, seine Macht kaum dazu einsetzen kann, die Verfassungsgrundlagen derselben zu seinen eigenen Gunsten zu manipulieren. Aber der AfD-Mann, der dieses Amt nun ausfüllen soll, wäre ein schlechter AfD-Mann, wenn er nach seinem Amtsantritt nicht Wege fände, seine Befugnisse für allerlei autoritär-populistische Spielchen einzusetzen. Ein strategischer Regelverstoß hier, eine gezielte Kompetenzüberschreitung dort, und wenn dann die übergeordneten Behörden und/oder Gerichte intervenieren, um so besser: Dann kann man die Lokalpatrioten daheim gegen den woken Terror der Hauptstadteliten mobilisieren.

++++++++++Anzeige++++++++

Mankind  is currently living in the Anthropocene, modifying nature at a faster pace and more intensively than ever before. The consequences are grave and affect every single area of human life,  from health to food security to transportation and trade. Law &  Nature intends to explore how law and legal doctrine can be aligned in a more general matter with insights about the rapid change of nature, climate and the environment.

Further infomation can be found here.

++++++++++++++++++++++

Das Amt des Landrats, für das der AfD-Mann erfolgreich kandidiert hatte, ist das eines so genannten kommunalen Wahlbeamten. Wer diese Wahl gewinnt, gewinnt damit nicht ein politisches Mandat, sondern tritt in den Dienst des Staates. Beamtenrecht und Wahlrecht interferieren hier auf sonderbare und sehr deutsche Art und Weise. Ein Landrat schuldet dem König der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht nur das, was Politiker*innen ihr schulden, nämlich nicht feindlich-aggressiv nach ihrem Umsturz zu streben, sondern das, was Beamt*innen ihr schulden, nämlich Treue. Treue, so das Bundesverfassungsgericht 1975 im berühmt-berüchtigten “Extremistenbeschluss“, bedeutet “mehr als nur eine formale korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten wird erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt”. Verlangt wird von ihm, dass er “Verantwortung für diesen Staat, für ,seinen’ Staat zu tragen bereit ist” und dass er sich “in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt”.

Das Thüringer Kommunalwahlgesetz setzt als Voraussetzung dafür, für das Amt des Landrats wählbar zu sein, dass man “Gewähr dafür bietet, dass (man) jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes und der Landesverfassung eintritt” (§§ 24 Abs. 3, 28 Abs. 2 ThürKWG). Darüber müssen Wahlleiter und Wahlausschuss sich eine Meinung bilden und, wenn sie diese Gewähr nicht hinreichend geboten sehen, die Kandidat*in von der Wahlliste streichen (§ 22 Abs. 2 ThürKWG). Wenn sie das nicht tun? Solange die eigentlich nicht wählbare Kandidat*in nicht gewinnt, führt das zu keinem rechtswidrigen Zustand. Wenn die Kandidat*in aber gewinnt und deswegen Landrät*in würde, obwohl sie nicht wählbar ist, dann muss die Rechtsaufsicht, ausgeübt durch das Landesverwaltungsamt, binnen sechs Wochen ab Kenntnis den Verlust des Amtes feststellen und Neuwahlen anordnen (§ 30 Abs. 6, 7 ThürKWG).

Politisch erscheint der Preis dafür im aktuellen Fall sicherlich erst mal hoch. Wenn die zuständige Behörde zu dem Ergebnis kommt, dass der AfD-Mann diese Gewähr nicht bietet, und die Wahl annulliert, dann exponiert sie sich und die Thüringer Landesregierung dem Vorwurf, den Bestand von Wahlen von ihrem Ausgang abhängig zu machen. Wenn sie zum gegenteiligen Ergebnis kommt, stellt sie dem AfD-Mann ein demokratisches Unbedenklichkeitszeugnis aus und setzt sich womöglich auch noch dem Verdacht aus, sich für die weniger unbequeme Lösung und gegen das Recht entschieden zu haben.

Rechtlich kann man aber, wenn ich nichts übersehe, gegen diese Prüfung wenig sagen. Dass sie nicht vor der Wahl schon stattgefunden hat, kann man höchstens dem Wahlausschuss zum Vorwurf machen, aber kaum den Behörden. Um so bemerkenswerter erscheint mir, dass jetzt alle so überrascht sind von diesem Verfahren. Vor diesem Hintergrund scheint mir jetzt noch viel evidenter, wie dringlich es ist, in Szenarien zu denken. Was passiert, wenn die wirklich gewinnen? Wäre man diese Frage frühzeitig gründlich nachgegangen, dann wäre vielleicht noch rechtzeitig zu Tage getreten, in welche Bredouille man hier hineingeraten kann. Hence unser Projekt Thüringen. Da wollen wir solche Szenarioanalysen durchführen. In gut einem Jahr sind Landtagswahlen.

Nun ist es aber, wie es ist, und dann muss der Rechtsstaat jetzt auch stehen. Ob der Sonneberger AfD-Kandidat ausreichende Gewähr bietet, nicht mit Nazis im Bunde zu stehen, ist im Einzelnen zu prüfen. Wenn er die nicht bietet, dann darf er nicht Landrat werden. Dass Getöse, das die AfD dann anstimmen wird, muss die Regierung aushalten. Auch den Vorwurf, dass die etablierten Parteien sich zusammen tun, um die AfD von staatlicher Macht fernzuhalten. Daran ist nichts Schlechtes, im Gegenteil. Die Thüringer AfD ist von staatlicher Macht fernzuhalten. Nicht wegen ihrer unsympathischen Policy-Ziele, nicht wegen ihrer schlechten Manieren, nicht weil sie “für den Wirtschaftsstandort Thüringen nichts Gutes” bedeutet, nicht weil sie der politische Gegner ist. Sondern weil sie die demokratisch errungene Macht zum Schaden der Demokratie nutzen würde, wenn man sie ihr überließe. Deshalb ist sie von dieser Macht kategorisch fernzuhalten. Wenn sich darauf alle “etablierten” Parteien explizit und offensiv verständigen, dann ist das ein Gewinn und kein Verlust für die Demokratie.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Die Sonneberg-Wahl und ihre rechtlichen Hintergründe analysiert ANDREAS NITSCHKE und kommt zum Schluss, dass es gute Argumente gibt, an der Verfassungstreue des AfD-Kandidaten zu zweifeln.

Was genau ist mit „Verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates“ gemeint? Aus dem kürzlich vorgestellten Verfassungsschutzbericht gehe dies leider nicht hervor kritisiert OLIVER DREWES. Der Extremismusprävention tue diese unklare Kategorie, die auf radikalisierte Impfgegner*innen zurückgeht, jedenfalls keinen Gefallen.

Der Fall Pudding, in dem einem Sozialarbeiter nach §126a StGB vorgeworfen wird per Twitter „unterschwellige Andeutungen verbreitet zu haben, die zu einem gewaltsamen Einwirken“ auf einen am 03. Juni in Leipzig demonstrierenden Staatsanwalt hinwirkten, zeige die Schwächen des §126a StGB so CHARLOTTE KORENKE, MARIUS KÜHNE & SEBASTIAN J. GOLLA, die den Tatbestand für zu unbestimmt halten.

++++++++++Anzeige++++++++

The University of Luxembourg is looking for a PhD candidate to conduct research in EU Law:

Doctoral researcher (PhD) in EU Law.

Candidates who can show an interest in EU and transnational public law are encouraged to apply by 15 July 2023. A Master’s Degree in EU law or a related field is required. The doctoral researcher will benefit from being integrated into the Doctoral School of Law and the possibility of joining various research groups working on related topics of EU law and European affairs.

Further information can be found here.

++++++++++++++++++++++

Im Zuge der E-Evidence-Verordnung verhandelt die EU mit der US-Regierung über die Weitergabe von Daten zum Zweck der Strafverfolgung. PETER MEIßNER sieht die Kommission in einer schlechten Verhandlungsposition und fürchtet einen umfassenden Zugriff von US-Ermittler*innen auf in Europa gespeicherte Daten.

Was sind die möglichen Auswirkungen generativer KI auf politische Kampagnen und demokratische Wahlen? PHILIPP DARIUS & ANDREA RÖMMELE meinen, dass generative KI bestehende Probleme hinsichtlich der Moderation von Inhalten, dem Vertrauen in die Medien und falscher Informationen im Internet verschärfen wird.

In Israel debattiert die Knesset über den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus (bzw. Saifan) durch die Polizei – die zur Überwachung israelischer Bürger, darunter auch politische Aktivist*innen, eingesetzt wurde. STAV ZEITOUNI & NOA DIAMOND geben einen Überblick über die Debatte und betonen, dass veraltete Gesetze und undurchsichtige Operationen die öffentliche Rechenschaftspflicht enorm und übermäßig erschweren.

In Russland ist durch den abgebrochenen Putsch der Wagner-Gruppe offenbart, dass es keine formalisierten, rechtlichen Mechanismen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten innerhalb der Elite gibt. WILLIAM PARTLETT zufolge stellt der daraus hervorgehende expandierende Prärogativstaat eine ernsthafte Bedrohung für Putin und den russischen Staat dar. SARAH KATHARINA STEIN betrachtet das Geschehen aus völkerrechtlicher Perspektive. Sie meint, der gescheiterte Staatsstreich könnte ein Fenster öffnen, um private Sicherheits- und Militärunternehmen (PMCs) zu regulieren – denn Wagner sei gar keine Söldnertruppe, sondern ein privates Militärunternehmen.

Vor den polnischen Parlamentswahlen in diesem Jahr stellt sich die Frage, ob die Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederhergestellt werden kann. TOMASZ TADEUSZ KONCEWICZ ist der Ansicht, dass institutionelle Reformen von oben nach unten nicht ausreichen werden – für einen dauerhaften Wandel sei auch eine Kultur der Verfassungstreue der polnischen Bürger*innen erforderlich.

Der Rat der EU hat kürzlich eine Einigung über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erzielt. Diese stelle jedoch eine direkte Bedrohung für das Asylrecht dar und enthalte Vorschriften, die eindeutig gegen zentrale Menschenrechtsstandards verstoßen, so MINOS MOUZOURAKIS & CATHRYN COSTELLO.

Zuletzt: unsere Blogdebatte Nachhaltigkeit in Zeiten planetarer Krisen ging diese Woche mit Beiträgen von LISA BEER und MATHIAS HONG zu Ende. Und LENA HERBERS vertieft in ihrem Beitrag zur Kleben-und-Haften-Debatte die Frage nach der Rechtfertigbarkeit von zivilem Ungehorsam.

*

Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal!

Ihr

Max Steinbeis

Wenn Sie das wöchentliche Editorial als Email zugesandt bekommen wollen, können Sie es hier bestellen.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Von der Macht fernzuhalten, VerfBlog, 2023/6/30, https://verfassungsblog.de/von-der-macht-fernzuhalten/, DOI: 10.17176/20230701-111048-0.

One Comment

  1. mq86mq Sat 1 Jul 2023 at 15:17 - Reply

    Streichung von Kandidaten ist in § 22 ThürKWO, nicht ThürKWG. § 30 ThürKWG betrifft nur (späteren) Verlust der Wählbarkeit. Wenn sie von vornherein nicht gegeben war, greifen §§ 31, 32 ThürKWG. Der praktische Unterschied ist, dass dann die Wahl ungültig ist und es eine »Nachwahl« gibt, die faktisch eine Wiederholungswahl mit neuen Wählerverzeichnissen ist. Soweit nicht schon das Verhalten des Wahlleiters bei der Mängelbeseitigung fehlerhaft war, müsste ab der Zulassung wiederholt werden, also dann mit den 3 verbleibenden Kandidaten. Erst wenn mehr als 1 Jahr verstrichen ist, wäre eine Neuwahl mit neuen Wahlvorschlägen durchzuführen.

    Allerdings ist unklar, was in dem Fall die separat geregelte Ungültigkeit der Wahl lediglich einer einzelnen Person bedeutet. Bei Listen soll dann wohl die fehlerhafte Zulassung vernachlässigt und nachgerückt werden. Bei Wahlen einer Einzelperson sollte es sich aber um einen erheblichen Verstoß gegen die Wahlvorschriften handeln, der geeignet ist, das Wahlergebnis wesentlich zu beeinflussen, womit die Wahl insgesamt für ungültig zu erklären wäre.

    Das Problem an der ganzen Sache ist, dass es an sich egal ist, ob der Gewählte fehlerhaft zugelassen worden ist oder ein sonst mandatsrelevanter Bewerber. Man könnte da halt wieder behaupten, dass es das Wahlergebnis nicht wesentlich beeinflusst hat. Die AfD war aber schon bisher so stark, dass das eher unplausibel ist. Entweder ist dann keine entsprechende Prüfung erfolgt oder sie hat immer die Wählbarkeit bestätigt. Die meisten solchen Wahlen in Thüringen sind halt schon einige Zeit her; die meisten Amtszeiten laufen nächstes Jahr ab.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Other posts about this region:
Thüringen