29 June 2017

Warum das Grundgesetz die Ehe für alle verlangt

1. Falls der Bundestag am Freitag tatsächlich über die Ehe für alle entscheiden sollte: Steht dann das Grundgesetz einem positiven Votum entgegen? Wollte die verfassungsgebende Gewalt die Ehe für alle für verfassungswidrig erklären?

Manche schließen das aus dem „besonderen Schutz“, unter den Art. 6 I GG Ehe und Familie stellt: Weil mit der Ehe damals nur die Ehe zwischen Frau und Mann gemeint gewesen sei und weil die Ehe danach unter einen „besonderen“ Schutz gestellt werden sollte, dürfe die Ehe anderer Paare nicht der Ehe von Frau und Mann gleichgestellt werden. Es gelte deshalb ein „Abstandsgebot“ oder Gleichstellungsverbot.

Wie stets bei der historischen Auslegung muss aber sorgfältig geklärt werden, auf welcher Abstraktionsebene die verfassungsgebende Gewalt ihre Festsetzungen treffen wollte. Sie muss nicht unbedingt ihre eigenen konkreten Anwendungsvorstellungen („original expected applications“) für maßgeblich erklärt haben. Sie kann sich stattdessen auch dafür entschieden haben, allgemeiner gefasste, entwicklungsfähige Grundsätze zu normieren, ohne deren künftige Anwendung auf ihren eigenen konkreteren Vorstellungshorizont begrenzen zu wollen. Originalism kann dann auch „Living Originalism“ sein (s. dazu v.a. hier und hier).

2. Eine Ehe für gleichgeschlechtliche Paare lag vermutlich jenseits des konkreteren Vorstellungshorizontes der weitaus meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates und der Volksvertretungen der Länder, in denen 1949 über die Annahme des Grundgesetzes entschieden wurde. Unter einer Ehe werden sie sich damals konkret nur die Ehe zwischen Mann und Frau vorgestellt haben. Das heißt aber zum einen noch nicht, dass sie den Begriff der Ehe darauf auch beschränkt sehen wollten und nicht für entwicklungsfähig gehalten haben. Zum anderen – und vor allem – lässt gerade die Begrenztheit dieser konkreten Anwendungsvorstellungen es als zweifelhaft erscheinen, dass sich der ‚besondere‘ Schutz der Ehe damals als ein Gleichstellungsverbot gerade gegen gleichgeschlechtliche Paare richten sollte.

Nein, die Bedrohung vor der man das Institut der Ehe damals so besonders schützen wollte, war aller Wahrscheinlichkeit nach die „wilde Ehe“ zwischen Mann und Frau – oder wie man es damals auch nannte, das „Konkubinat“. So sagte etwa Hermann v. Mangoldt, der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates, in dessen Beratungen: „Es wird gesagt, daß die Ehe als die rechtmäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft unter dem Schutze der Verfassung steht, aber nicht das Konkubinat.“ (zu den Ausschussberatungen vgl. hier und auszugsweise hier; für das Zitat: S. 857 [vgl. hier]; die Ausführungen zu den Beratungen zu Art. 6 I GG stützen sich hier und im Folgenden teils auf eine Freiburger Seminararbeit von Christoph Scheit).

Wenn es also ein verfassungsrechtliches Gleichstellungsverbot gibt, dann allenfalls eines, dass sich gegen Beziehungen zwischen Mann und Frau richtet, die, anders als die Ehe, nicht auf Dauer angelegt sind. Dagegen verfolgte die Privilegierung der Ehe, soweit ersichtlich, keine homophobe Zielsetzung. Wer dem Art. 6 I GG ein Abstandsgebot entnehmen will, das sich gegen gleichgeschlechtliche Paare richtet, kann sich dafür also nicht auf die historische Auslegung berufen (zur Gegenauffassung s. aber etwa hier). Denn er müsste dafür, obwohl er den Schutzbereich des Art. 6 I GG eng auf die konkreten historischen Anwendungsvorstellungen beschränken will, den Privilegierungsgedanken in Art. 6 I GG zugleich in dynamischer Auslegung erweitern – also methodisch inkonsistent argumentieren.

Die überwiegenden entstehungsgeschichtlichen Indizien sprechen deshalb, soweit ich sehe, dafür, dass die Ehe für alle mit dem im Grundgesetz zum Ausdruck gekommenen Willen der verfassungsgebenden Gewalt nicht unvereinbar ist. Der besondere Schutz der Ehe aus Art. 6 I GG enthält kein Abstandsgebot, das der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare entgegenstünde (s. zur Debatte etwa auch hier und hier).

3. Das ist aber noch nicht alles. Die Verfassung verhindert die Ehe für alle nicht nur nicht, sondern verlangt sie sogar. Dafür sprechen die überwiegenden Gründe auch und gerade dann, wenn man die Verfassung, wie aus demokratischen Gründen geboten, dem Willen des historischen Verfassungsgebers entsprechend auslegt.

Aus den Beratungen im Parlamentarischen Rat geht deutlich hervor, dass die Grundrechte als dynamische Grundsatznormen konzipiert wurden, die eine gewisse „Beweglichkeit“ besitzen sollten, und zwar gerade auch im Rahmen der späteren gerichtlichen Auslegung (vgl. hier, bes. S. 64, 594, 601, 603). Ihr Schutzniveau kann – nach Maßgabe der positivrechtlichen Grundsatzentscheidungen– mit der Zeit wachsen, wie etwa bei dem grundrechtlichen Verbot grausamer oder erniedrigender Bestrafung. Ihre Beweglichkeit kann sich aber auch daraus ergeben, dass sich erst mit der Zeit die Erkenntnis einstellt, dass ein staatliches Handeln von Anfang an grundrechtswidrig war – wie vielfach bei den Diskriminierungsverboten.

Gleichgeschlechtlichen Paaren die gleiche staatliche Anerkennung ihrer Ehe vorzuenthalten, verletzt das Verbot der Benachteiligung wegen des Geschlechts (Art. 3 III 1 GG), das Gleichheitsgrundrecht (Art. 3 I GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V. mit Art. 1 I GG). Die verfassungsgebende Gewalt hat diese Grundrechte weit gefasst. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass sie damit nicht auch mit Blick auf die Ehe für alle das gemeint hat, was sie gesagt hat.

4. „Niemand“ darf wegen seines Geschlechts benachteiligt werden (Art. 3 III 1 GG) – nicht etwa nur ‚niemand, der heterosexuell orientiert ist‘. Kein geringerer als der Chief Justice des U.S. Supreme Court, John Roberts, hat in der mündlichen Verhandlung zum Obergefell-Verfahren dazu die treffende Frage aufgeworfen:

„Sue liebt Joe und Tom liebt Joe. Sue kann Joe heiraten, Tom kann es nicht. Der Unterschied beruht auf ihrem unterschiedlichen Geschlecht. Warum ist das keine klare Frage der Diskriminierung wegen des Geschlechts?“ („I mean, if Sue loves Joe and Tom loves Joe, Sue can marry him and Tom can’t. And the difference is based upon their different sex. Why isn’t that a straightforward question of sexual discrimination?”; s. hier, S. 62)

Die Antwort liegt nahe, auch wenn unklar bleibt, ob Roberts sie teilen würde: Es handelt sich in der Tat um nichts anderes als um eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Geschlechts.

Auch wenn man das anders sehen wollte, greift jedenfalls das allgemeine Gleichbehandlungsverbot des Art. 3 I GG: „Alle Menschen“ sind vor dem Gesetz gleich (Art. 3 I GG) – nicht nur ‚alle heterosexuellen Menschen‘. Wird die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare nicht als gleichberechtigt anerkannt, so werden sie als „Paare zweiter Klasse“ behandelt, ihre Ehe, wie Justice Ruth Bader Ginsburg sagen würde, als eine Art „Magermilch-Ehe“. Für eine so schwerwiegende Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung (und wegen des Geschlechts) sind keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe in Sicht.

5. Und schließlich: „Jeder“ hat das Recht auf „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ (Art. 2 I GG) und: Die Würde „des Menschen“ ist unantastbar (Art. 1 I GG). Keine dieser Gewährleistungen ist auf heterosexuelle Menschen beschränkt.

Für den Parlamentarischen Rat war klar: „Zur Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch die Entfaltung in Ehe und Familie. Dieses Wirken in Ehe und Familie gehört zum Wichtigsten, was den einzelnen Menschen angeht.“ (vgl. hier, S. 645). Das für die Persönlichkeitsentfaltung so bedeutsame Recht auf gleiche Anerkennung der Ehe für alle Paare ist deshalb, wenn es nicht schon aus Art. 6 I GG folgt, jedenfalls auch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleiten.

6. Und das alles soll wirklich dem Willen der verfassungsgebenden Gewalt von 1949 entsprechen – zu einer Zeit also, zu der die Homosexualität noch strafbar war?

Man sollte die Akteure von 1949 nicht unterschätzen. So verfügte etwa gerade Hermann v. Mangoldt über ein reichhaltiges Wissen von der historischen Dynamik der Gleichheitsidee. In seiner Habilitationsschrift von 1938 hatte er sich intensiv mit dem damaligen Stand des „Rassenrechts“ in den Vereinigten Staaten von Amerika auseinandergesetzt. Ausführlich zitierte er dort eine Rede Abraham Lincolns vom 26. Juni 1857, in der dieser sich – gegen das Dred Scott-Urteil gerichtet – auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bezog.

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal … . Waren mit diesem Satz von 1776 auch die Sklaven und ihre Nachkommen gemeint? Das Dred Scott-Urteil hatte das verneint, und zwar mit dem bemerkenswerten Argument, die Verfasser der Erklärung hätten, als Ehrenmänner, niemals etwas gemeint haben können, was ihrem eigenen Verhalten als Sklavenhalter so offenkundig widersprach (s. hier, S. 410). Lincoln bejahte es. Die Autoren der Erklärung hätten ein Recht erklären wollen, dessen Verwirklichung so schnell nachfolgen sollte, wie die Umstände es zulassen:

„They meant simply to declare the right, so that the enforcement of it might follow as fast as circumstances should permit. They meant to set up a standard maxim for free society, which should be familiar to all, and revered by all; constantly looked to, constantly labored for, and even though never perfectly attained, constantly approximated, and thereby constantly spreading and deepening its influence, and augmenting the happiness and value of life to all people of all colors everywhere.”

7. Dass Lincolns Deutung nach meinem Dafürhalten zutrifft, also keine anachronistische Umdeutung der Erklärung bedeutet, kann hier ebenso wenig vertieft werden, wie der Versuch v. Mangoldts, die Grundgedanken Lincolns ausgerechnet im Deutschland des Jahres 1938 rechtswissenschaftlich fruchtbar zu machen. Entscheidend ist, dass v. Mangoldt jedenfalls 1949 über ein besonders geschärftes Bewusstsein davon verfügt haben muss, welches Entwicklungspotential mit solchen allgemeinen Aussagen wie der von der Gleichheit aller Menschen einhergehen konnte.

Den Gedanken Lincolns, dass die Menschenrechte einen unhintergehbaren Mindeststandard gleicher Freiheit bilden, eine standard maxim for free society, griff v. Mangoldt im Parlamentarischen Rat wieder auf (s. hier, S. 644, 740, 743-745). Er entwickelte dort einen Zusammenhang zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten, aus dem sich ableiten lässt, dass durch hinreichend gewichtige Diskriminierungen ein Menschenwürdekern jedes Freiheitsrechts berührt werden kann. Für das Recht auf Ehe für alle folgt daraus: Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf so schwerwiegend diskriminierende Weise beeinträchtigt wird wie bei der Verweigerung der gleichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, dann wird es dadurch zugleich in seinem Menschenwürdekern berührt.

Dass die Menschenwürde das gleiche Recht gleichgeschlechtlicher Paare auf Ehe fordert, hat der U.S. Supreme Court in seiner Obergefell-Entscheidung von 2015 sogar unter einer Verfassung anerkannt, die die Menschenwürde gar nicht ausdrücklich normiert: “They ask for equal dignity in the eyes of the law. The Constitution grants them that right.” (s. hier, S. 28). Das Grundgesetz steht dem, recht verstanden, nicht nach.

Zwei Menschen darf die gleiche staatliche Anerkennung ihrer Ehe ebensowenig verweigert werden, weil sie eine bestimmte sexuelle Orientierung haben oder gleichen Geschlechts sind, wie sie ihnen verweigert werden dürfte, weil sie unterschiedlichen „Rassen“ angehören. Sollte der Deutsche Bundestag dies – 50 Jahre nach dem Loving-Urteil des U.S. Supreme Court zu den Verboten „rassischer Mischehen“ – am Freitag anerkennen, so brächte er damit das Gleichheitsversprechen der Verfassung ein wichtiges Stück weit der Erfüllung näher.


SUGGESTED CITATION  Hong, Mathias: Warum das Grundgesetz die Ehe für alle verlangt, VerfBlog, 2017/6/29, https://verfassungsblog.de/warum-das-grundgesetz-die-ehe-fuer-alle-verlangt/, DOI: 10.17176/20170629-100004.

39 Comments

  1. Johannes P. Thu 29 Jun 2017 at 10:59 - Reply

    Ich sehe in dieser Argumentation zwei Widersprüche.

    1) Wenn sie zutrifft, dürfte §1353 Abs. 1 BGB nicht geändert werden. Dort wird der Begriff der Ehe in derselben Weise gebraucht wie im GG. Ihn im BGB explizit zu erweitern bedeutet anzuerkennen, daß er ohne diese Erweiterung das hier unterstellte Deutungspotential eben nicht besitzt