12 February 2024

Warum der Konflikt um das EU-Lieferkettengesetz eines haftungsrechtlichen Mittelwegs bedarf

Die Abstimmung im Rat der Europäischen Union um ein EU-Lieferkettengesetz ist auf ungewisse Zeit aufgeschoben. Nach Deutschlands Enthaltung kamen wie erwartet auch andere Staaten ins Zweifeln. Auslöser für die plötzliche – und für viele Mitgliedstaaten überraschende – Kehrtwende der Bundesrepublik ist eine Blockade durch die FDP. Die Minister Buschmann und Lindner fürchteten, „dass Unternehmen für Pflichtverletzungen in der Lieferkette in erheblicher Weise zivilrechtlich haften würden.“  Die sich unter anderem am Thema Haftung entzündende Kontroverse – so die These dieses Textes – ist jedoch auflösbar. Denn die Haftungsregelung lässt sich durch eine Beschränkung auf zivilrechtlich anerkannte Rechtsgüter gut begrenzen – ohne dabei das Gesetz zu verwässern.

Haftungsregelung wegen Auswirkungen des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips notwendig

Um in Europa einheitliche Regelungen zum Schutz von Menschenrechten in den Investitionsdestinationen europäischer Unternehmen zu schaffen, legte die EU-Kommission 2022 einen Entwurf für ein europäisches Lieferkettengesetz vor: die sogenannte Corporate Sustainability Due Diligence Directive (kurz: „CSDDD“ oder „CS3D“). Novum zum deutschen Lieferkettengesetz (LkSG): Erfasste Unternehmen können unter bestimmten Voraussetzungen schadensersatzpflichtig werden (Art. 22 CSDDD-Entwurf).1)

Die häufig zu beobachtende unternehmerische Praxis, in Schwellen- und Entwicklungsländern für ihr operatives Geschäft gering kapitalisierte Konzerngesellschaften einzusetzen, rief den Gesetzgeber auf den Plan. Denn Unternehmen konnten so eine zivilrechtliche Inanspruchnahme häufig verhindern.

Bei Großschäden wie zum Beispiel dem Dammbruch in der brasilianischen Gemeinde Brumadinho Anfang 2019 können sie auf die gesellschaftsrechtliche Haftungstrennung verweisen: Die Konzerngesellschaft ist eine eigene Rechtspersönlichkeit. Die am Kopf der Wertschöpfungskette stehende Gesellschaft ist daher die falsche Beklagte. Denn sog. rechtsträgerübergreifende (Verkehrs‑)Pflichten der Muttergesellschaft gegenüber ihren ausländischen Konzerngesellschaften kennt das in derartigen Fallkonstellationen anwendbare ausländische Sachrecht meistens nicht. Deshalb besteht materiell-rechtlich häufig kein Anspruch gegen die Muttergesellschaft.2)

Die Konzerngesellschaft wiederum hat in vielen Fällen nicht ausreichend finanzielle Mittel, um die Gläubiger zu befriedigen. Konsequenz: Derartige potenzielle Großschäden sind betriebswirtschaftlich irrelevant. Zweite Konsequenz: Schadensvermeidungsanreize für Mutter wie Konzerngesellschaft versiegen. Ergebnis: Die Schäden müssen von den Deliktsgläubigern getragen werden. Diese bleiben auf den Kosten sitzen (sog. Externalisierungswirkung).3)

Als eindrückliches Beispiel für eine solche Vorgehensweise wird gemeinhin die Öltankerflotte benutzt, in der jeder einzelne Öltanker durch eine separate, gering kapitalisierte Tochter betrieben wird).4) Dass Unternehmen ein solches „judgement proofing“ („Gerichtsfestigkeit“) durch Umstrukturierungsmaßnahmen stets anstreben, ist inzwischen empirisch belegt.5)

CSDDD-Haftungsregel fängt Externalisierungseffekte ein

Diesem Problem begegnet nun die Haftungsregelung im CSDDD-Entwurf. Sie sieht haftungsbewährte Pflichten europäischer Muttergesellschaften gegenüber ihren ausländischen Konzern- und Zulieferergesellschaften vor.

Dem aktuellen Einigungsprozess sind auch bereits erste Kompromisse gelungen: So erfordert Art. 22 Abs. 1 (a) CSDDD-Entwurf nun Verschulden („[…] intentionally or negligently failed to comply with the obligations […]“). Das gab es im Kommissionsentwurf noch nicht.

Darüber hinaus beschränkt die aktuelle Verhandlungsversion den Haftungstatbestand auf die in Annex I gelisteten Rechtsgüter, die als zweite Voraussetzung drittschützenden Charakter aufweisen müssen (Art. 22 Abs. 1 (a): „[…] when the right, prohibition or obligation listed in Annex I is aimed to protect the natural or legal person […]“).

Haftungsregel ist durch Inbezugnahme sämtlicher Menschenrechte als Rechtsgüter zu unbestimmt

Eine wirkliche Begrenzung der geschützten Rechtsgüter stellt diese Einschränkung in Art. 22 Abs. 1 (a) CSDDD-Entwurf indes nicht dar. Denn Annex I erfasst sämtliche auf völkerrechtlicher Ebene kodifizierten Menschenrechte („Human rights and fundamental freedoms instruments“). Explizit erwähnt wird etwa der UN-Sozialpakt („sixth paragraph: The International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights”).

Das ist ein Problem, denn niemand weiß, was derartige öffentlich-rechtlich konzipierte Menschenrechte haftungs- und schadensrechtlich bedeuten sollen.

Man nehme das Beispiel Art. 9 UN-Sozialpakt: Diese Vorschrift gewährt ein Recht auf soziale Sicherheit. Dieses beinhaltet unzählige Rechtspositionen: Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Zugang zu Gesundheitsleistungen, Hilfe bei Lohnausfall wegen Krankheit, Altersvorsorge, eine Berufsunfallversicherung, Unterstützung für Familien und Kinder, Mutterschutz, Hilfe für Behinderte sowie für Waisen und überlebende Angehörige eines verstorbenen Hauptverdieners.6)

Könnten die Arbeitnehmer einer deutschen VW-Tochter also gegen die VW AG Schadensersatz einklagen, weil es in den USA keine gesetzliche Krankenversicherung gibt? Könnten Arbeitnehmer etwaiger Konzerngesellschaften nun die Kosten für Berufsunfallversicherungen, Altersvorsorge und Mutterschutz von der jeweiligen europäischen Muttergesellschaft einklagen, weil die VW AG ihre „Menschenrechte“, hier also Art. 9 des UN-Sozialpakts, verletzt hat?

Ähnliche Fragen stellen sich beim „Recht auf einen angemessenen Lebensstandard“ (Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt). Darunter fällt auch ein Recht auf angemessenen Wohnraum zu vernünftigen Preisen. Könnte die TÜV Süd AG von einem deutschen Gericht nun bspw. zum Wohnungsbau für die brasilianischen Arbeitnehmer ihrer brasilianischen Urenkelgesellschaft „TSB“ verurteilt werden?

Insoweit muss man hinzufügen: Art. 9 und 11 sind lediglich zwei von zehn (siehe Art. 6 bis 15 UN-Sozialpakt) jeweils oft mehrere Individualrechte zusprechende Artikel des UN-Sozialpakts. Neben dem UN-Sozialpakt bezieht Annex I noch den politische Rechte regelnden UN-Zivilpakt sowie sämtliche menschen- und grundrechtlichen Kodifikationen mit ein. Diese weisen ihrerseits unzählige originär an Staaten adressierte Individualrechte zu. Daneben enthält Annex I ca. 30 weitere, explizit aufgelistete menschenrechtliche Individualrechte wie z. B. das Recht auf faire Löhne. Diese müssen alle auf ihren deliktsrechtlichen Kerngehalt runtergebrochen werden. Eine solche Analyse ist bislang rechtswissenschaftlich nicht erfolgt. Das tatsächliche Ausmaß einer solchen Haftungsregelung kann zum derzeitigen Stand daher niemand beurteilen.

Insoweit verfängt auch das immer wieder bemühte Argument nicht (siehe z. B. Rechtsgutachten der Initiative Lieferkettengesetz, S. 53), deutsche Gerichte hätten auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (APR) zivilrechtlich herunterbrechen können, könnten dies also ohne Weiteres auch betreffend anderer Grund- und Menschenrechte: Denn zum einen handelt es sich beim APR um nur eine Grundrechtsposition, während in der CSDDD der haftungsrechtliche Wesenskern einer hohen zweistelligen Zahl von originär an Staaten adressierten Menschenrechten destilliert werden müsste. Zum anderen gibt es jährlich unzählige streitige Verfahren zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (z. B. im Presserecht), wo dies geschehen kann. Deutsche Fälle von human rights‑litigation gab es demgegenüber ganze zwei: Das Fabrikunglück eines KiK-Zulieferers in Karatschi (LG Dortmund) und der Bruch eines zuvor vom TÜV Süd zertifizierten Staudamms in Brumadinho (LG München I). Es ist für deutsche Gerichte unmöglich, so jemals eine gesicherte (höchstrichterliche) Rechtsprechung zu entwickeln. Rechtssicherheit durch höchstrichterliche Rechtsprechung ist bei der CSDDD eine Illusion.

Aus den gleichen Gründen ist es begrüßenswert, dass die in Annex II geregelten Umweltrechte nicht mehr Teil der Haftungsregelung sind. Denn dem Kollektivgut „Umwelt“ fehlt der für deliktische Rechtsgüter typische Zuweisungsgehalt und die Ausschlussfunktion: Wem als Geschädigter die Aktivlegitimation zufällt, ist bei Umweltschäden zivilrechtlich sehr schwer zu bestimmen. Der Kommissionsentwurf von 2022 bot insoweit noch keine Klärung an.7)

Abmilderung der Problematik durch Begrenzung der Haftungsregelung auf Konzernverhältnisse

Die Bezugnahme auf die gesamte Palette internationaler Menschenrechte als Rechtsgüter wird allerdings dadurch abgemildert, dass Zulieferer, also bloße Vertragspartner, von der Haftungsregelung nicht mehr erfasst werden (Art. 22 Abs. 1 a CSDDD-Entwurf: „A company cannot be held liable if the damage was caused only by ist business partners“).

Die Haftungsregelung gilt damit nur noch für Konzerngesellschaften – ein enormes Zugeständnis seitens der Befürworter des Richtlinienentwurfs. Denn menschenunwürdige Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in Zuliefererbetrieben, z. B. in Pakistan (Fabrikbrand in Karatschi) und Bangladesch (Einsturz Rana Plaza), waren die Auslöser, warum man vor bald 10 Jahren eine Regulierung von Lieferketten überhaupt erwogen hatte. Vor diesem Hintergrund war es verwunderlich, dass sich die FDP nicht auf diesen Kompromiss eingelassen hatte.

Vermittelnde Lösung: Begrenzung der haftungsbewährten Rechtsgüter auf Leben, Leib, Freiheit und APR als Kompromiss

Um den Richtlinienentwurf doch noch zu retten, könnte ein die Haftungsregelung deutlich vereinfachendes Angebot an die zweifelnden Staaten lauten: Geschützt werden haftungsrechtlich nur noch die üblichen deliktsrechtlichen Rechtsgüter: Leben, Leib, Freiheit, Eigentum und APR. Dabei handelt es sich um in den meisten EU-Staaten deliktsrechtlich ohnehin sanktionierte Rechtsgüter.8)) Dann könnte nur noch für eine Verletzung dieser Rechtsgüter Schadensersatz verlangt werden. Dies hat den Vorteil, dass die jeweiligen Rechtsordnungen mit derartigen Rechtsgütern bereits Erfahrungen haben und diese anzuwenden wissen.

Ein solcher Kompromiss würde das Gesetz auch nicht verwässern: Rechtsträgerübergreifende Verkehrspflichten enthält das Gesetz dennoch. Es pariert so die für Deliktsgläubiger nachteiligen Anreizwirkungen des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips und leistet so seinen Anteil an globaler Gerechtigkeit. Darüber hinaus war es erklärtes Ziel der Business and Human Rights-Bewegung, Vorfälle wie z. B. Bhopal und Brumadinho in Zukunft zu verhindern. In diesen Fällen ging es zumeist ohnehin nur um die Rechtsgüter Leib und Leben. Werden diese Rechtsgüter nun haftungsrechtlich erfasst, ist die Richtlinie ein voller Erfolg

References

References
1 Zitiert dieser Artikel den CSDDD-Entwurf, bezieht sich das Zitat auf die aktuelle Verhandlungsversion.
2 Siehe zum Ganzen Meder, Unternehmerische Haftung in grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten, S. 238 ff.
3 Siehe dazu Meder, Unternehmerische Haftung in grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten, S. 235 ff.
4 Bsp. nach Hansmann/Kraakmann, 100 Yale Law Journal (1991), 1881.
5 Ringleb/Wiggins, 98 Journal of Political Economy (1990), 574 ff.
6 V. Falkenhausen, Menschenrechtsschutz durch Deliktsrecht, S. 288; Meder, Unternehmerische Haftung in grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten, S. 267.
7 Zu diesem Thema siehe Meder, Unternehmerische Haftung in grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten, S. 264 ff. mwN.
8 Siehe rechtsvergleichend Brüggemeier, Haftungsrecht: Struktur, Prinzipien, Schutzbereich, 202 ff., 223 f. und 262 f.

SUGGESTED CITATION  Meder, Paul: Warum der Konflikt um das EU-Lieferkettengesetz eines haftungsrechtlichen Mittelwegs bedarf, VerfBlog, 2024/2/12, https://verfassungsblog.de/warum-der-konflikt-um-das-eu-lieferkettengesetz-eines-haftungsrechtlichen-mittelwegs-bedarf/, DOI: 10.59704/2438ffb814232ec9.

One Comment

  1. JMA Tue 13 Feb 2024 at 16:43 - Reply

    Die Beispiele, mit denen der Autor die Unberechenbarkeit der WSK-Rechte belegen will, gehen m.E. an der Sache vorbei und perpetuieren die leider immer noch verbreitete Wahrnehmung dieser Rechte als nicht-justiziable politische Programmsätze. Bei der Haftungsfrage geht es doch nicht darum, dass ein Unternehmen dafür verantwortlich gemacht wird, dass es im Land einer zuliefernden Firma keine GKV gibt (Art. 9 UN-Sozialpakt käme im Übrigen in dem Beispiel allein deswegen schon nicht zum Tragen, da die USA gar nicht Vertragsstaat des UN-Sozialpakts sind). Relevant sind doch nur Fälle, in denen (auf dem Papier) Arbeits-, Gesundheits- und Diskriminierungsschutzregelungen gelten, diese aber von der Geschäftspartnerin wissentlich (evtl. auch grob fahrlässig) umgangen, nicht beachtet bzw. zum eigenen (wirtschaftlichen) Vorteil ausgenutzt werden. Auch wird ein Unternehmen nicht mittelbar über die Geschäftspartnerin für wohnungsbaupolitische Versäumnisse vor Ort haftbar gemacht werden, sondern höchstens dann, wenn die Geschäftspartnerin z.B. diskriminierende Strukturen im Bereich Wohnungspolitik bewusst ausnutzt. Mit anderen Worten, vor Gericht wird es im Zweifel nur darum gehen, ob Schutzstandards der WSK-Rechte im Kern, insbesondere also Diskriminierungsschutzstandards, im Einzelfall zurechenbar nicht geachtet worden sind. Dieser relevante Bereich lässt sich sehr wohl eingrenzen, u.a. durch einen Blick in die Allgemeinen Bemerkungen des UN-Sozialpaktausschusses.

    Das Argument, dass es zu wenig Rechtsprechung gebe, verfängt m.E. ebenfalls nicht. Die Gerichtslandschaft in DEU müsste nur damit beginnen, sich auch in inländischen Verfahren stärker und routinemäßig mit den Rechten des UN-Sozialpakts und ihrer Interpretation auseinander zu setzen. Immerhin sind dies Normen im Range eines Bundesgesetzes und zudem bei der Auslegung des GG (völkerrechtsfreundlich) heranzuziehen.

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