Was verlangen Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot?
Standardmaßnahmen im Infektionsschutzgesetz
In den letzten Wochen wurde wieder vermehrt darüber diskutiert, dass das Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine ausreichenden Rechtsgrundlagen für die Maßnahmen bereithält, die zur Eindämmung der Corona-Epidemie erforderlich sind. Zwar enthält das Gesetz mit § 28 Abs. 1 S. 1 1. Halbs. eine Generalklausel, die zur Ergreifung der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ ermächtigt und deswegen in Verbindung mit § 32 in den letzten acht Monaten von den Landesregierungen als Rechtsgrundlage der Corona-Schutzmaßnahmen durch Rechtsverordnungen herangezogen wurde. Grundsätzlich ist die Heranziehung einer Generalklausel im Gefahrenabwehrrecht – zu dem das IfSG gehört – beim Auftreten unvorhergesehener Gefahrenlagen durch unerprobte Maßnahmen zulässig. Nach einer Übergangsfrist müssen grundrechtsintensive Maßnahmen jedoch in Standardermächtigungen besonders geregelt werden. Diese Übergangsfrist ist mittlerweile – wahrscheinlich schon seit Mai – abgelaufen; eine Reform des IfSG ist dringend notwendig. Diese muss den Besonderheiten einer Epidemie – im Vergleich zu lokalen Infektionsausbrüchen – Rechnung tragen und darf sich nicht mit der Aufführung von Regelbeispielen begnügen.
Der Kabinettsentwurf
Nachdem sich die Rechtswissenschaft bereits im Frühjahr kritisch zur Heranziehung der Generalklausel geäußert hatte, waren die Verwaltungsgerichte lange Zeit äußert zurückhaltend. Nur vereinzelt wurde thematisiert, ob §§ 28, 32 IfSG dem Parlamentsvorbehalt genügten, und wenn überhaupt, wurde darauf verwiesen, dass man diese Frage jedenfalls im Eilverfahren nicht klären könne. Nachdem die Diskussion im Herbst erneut in Fahrt kam (vgl. aus der Rechtswissenschaft hier, hier und Volkmann, NJW 2020, 3153), mahnen nun vereinzelt auch die Gerichte eine Reform des IfSG an. So billigte der VGH München letzte Woche die §§ 28, 32 IfSG als Rechtsgrundlage nur deswegen, weil er unterstellte, dass das IfSG bald überarbeitet werde. Das VG Mainz schloss sich dem am Sonntag an.
Dies hat nun auch die Politik aufgeschreckt: Nachdem die SPD bereits vor drei Wochen Änderungen am IfSG ankündigte, hielt die Union diese bis vor Kurzem für unnötig (mit Ausnahme von Schäuble und Söder). Diese Woche wurde dann plötzlich ein Gesetzentwurf präsentiert und im Kabinett verabschiedet, der die Rechtsgrundlagen der Corona-Schutzmaßnahmen im IfSG präzisieren soll. Er sieht vor, dass nach § 28 ein neuer § 28a eingefügt wird, der in Abs. 1 S. 1 die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ iSd § 28 Abs. 1 für die „Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2“ dahingehend konkretisiert, dass „für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 S. 1 durch den Deutschen Bundestag“ bestimmte Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Diese Maßnahmen werden in einem nicht abschließenden Katalog in der Vorschrift aufgeführt:
- Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum,
- Anordnung eines Abstandsgebots im öffentlichen Raum,
- Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (Maskenpflicht),
- Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von Einrichtungen, die der Kultur- oder Freizeitgestaltung zuzurechnen sind,
- Untersagung oder Beschränkung von Freizeit-, Kultur- und ähnlichen Veranstaltungen,
- Untersagung oder Beschränkung von Sportveranstaltungen,
- Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 oder ähnlicher Einrichtungen sowie Erteilung von Auflagen für die Fortführung ihres Betriebs,
- Untersagung oder Beschränkung von Übernachtungsangeboten,
- Betriebs- oder Gewerbeuntersagungen oder Schließung von Einzel- oder Großhandel oder Beschränkungen und Auflagen für Betriebe, Gewerbe, Einzel- und Großhandel,
- Untersagung oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Veranstaltungen,
- Untersagung sowie dies zwingend erforderlich ist oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Versammlungen oder religiösen Zusammenkünften,
- Verbot der Alkoholabgabe oder des Alkoholkonsums auf bestimmten öffentlichen Plätzen oder zu bestimmten Zeiten,
- Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von gastronomischen Einrichtungen,
- Anordnung der Verarbeitung der Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern, um nach Auftreten eines Infektionsfalls mögliche Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen zu können,
- Reisebeschränkungen
Zusammenfassend: Aufgeführt werden die Maßnahmen, die in den letzten acht Monaten von den Behörden auf kommunaler und auf Landesebene ergriffen wurden. Sie werden nur schlagwortartig genannt; was sich hinter „Reisebeschränkungen“ oder „Untersagung oder Erteilung von Auflagen für das Abhalten von Veranstaltungen“ verbirgt, erschließt sich der Leserin nur deswegen, weil über diese Maßnahmen in den letzten Monaten diskutiert wurde. Die Bedeutung anderer Maßnahmen bleibt von vornherein unklar (was z.B. sollen „Ausgangsbeschränkungen im öffentlichen Raum“ sein?). Weitere einschränkende Voraussetzungen oder eine Erläuterung, was z.B. „Beschränkungen“ sein können, sucht man vergeblich.
Der Entwurf versucht nun, die Verhältnismäßigkeit der Anwendung im Einzelfall dadurch sicherzustellen, dass er in § 28a Abs. 1 S. 2 festschreibt, dass „die Anordnung der Schutzmaßnahmen“ „ihrerseits verhältnismäßig sein“ muss – was natürlich auch gölte, wenn es nicht dort stünde. Abs. 2 immerhin spricht von „schwerwiegenden“, „stark einschränkenden“ und „einfachen“ Schutzmaßnahmen, die je nach den bekannten Schwellenwerten von 35 oder 50 Infektionsfällen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen zur Anwendung kommen sollen. Was aber „schwerwiegende“, „stark einschränkende“ und „einfache“ Schutzmaßnahmen sind, verrät der Entwurf nicht. Auch der Katalog des Abs. 1 S. 1 ist nicht in einer Weise gegliedert, die Hinweise auf die jeweilige Grundrechtsintensität der Maßnahmen bzw. eine entsprechende Hierarchie geben würde.
Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot
Um die Bewertung vorwegzunehmen: Der Entwurf verkennt die Bedeutung des Parlamentsvorbehalts und des Bestimmtheitsgebots. Der Parlamentsvorbehalt verpflichtet den Gesetzgeber nicht nur, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass eine Norm so formuliert ist, dass das Verhalten der Behörden nach Inhalt, Zweck und Ausmaß begrenzt wird und die Gerichte an diesem Maßstab das behördliche Vorgehen kontrollieren können. Diese Anforderungen sind umso strenger, je intensiver die Grundrechtseingriffe sind, die die Vorschrift ermöglichen soll. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, dass der Gesetzgeber Maßnahmen im Gesetz schlagwortartig aufführt – er muss ihr Ziel, ihre Voraussetzungen und ihre Grenzen festlegen. Positiv zu bewerten ist immerhin, dass die Anwendung dieser Maßnahmen an die Feststellung der epidemischen Lage nationaler Tragweite durch den Bundestag geknüpft werden soll. § 5 Abs. 1 IfSG sieht allerdings nach wie vor keine materiellen Voraussetzungen für diese Feststellung vor, so dass diese Verknüpfung nicht zur Vorhersehbarkeit der Maßnahmen beiträgt. Die Verwaltungsgerichte werden weiterhin nicht wissen, an welchem Zweck sie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen überprüfen sollen. Einen sensiblen Umgang mit den besonders grundrechtsrelevanten Fragen, die in den letzten Monaten diskutiert wurden – z.B. Versammlungsverbote ohne Prüfung des Einzelfalls, Kontaktbeschränkungen im privaten Raum –, lässt dieser Entwurf nicht erkennen.
Weitere Probleme
Der Entwurf wirkt auch an verschiedenen anderen Stellen unausgereift: Nach § 28a Abs. 3 können notwendige Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich ist, einzeln oder kumulativ angeordnet werden. Das klingt nicht nach einer aus Sicht der Bevölkerung einengenden Voraussetzung, sondern nach einer Legitimation langandauernder, intensiver Einschränkungen.
Gem. Abs. 2 S. 6 und 7 sind „landesweit“ bzw. „bundesweit“ einheitliche Maßnahmen „anzustreben“ – wer Adressat dieser Pflicht (?) ist, bleibt unklar. Eine bundesweite Vereinheitlichung von Maßnahmen könnte nur über eine gesonderte Verordnungsermächtigung für den Bund geregelt werden. S. 6 soll wohl die bisherige Praxis der Abstimmung zwischen Ministerpräsident*innen und Bundeskanzleramt legitimieren, rechtlich führt er jedoch ins Nichts. Und auch die Pflicht zur landesweiten Vereinheitlichung ist problematisch: So darf das Bundesgesetz diese Frage wahrscheinlich den Ländern schon nicht vorschreiben, jedenfalls aber gehörte so eine Regelung in die Verordnungsermächtigung des § 32 und nicht in § 28a, der als Konkretisierung des § 28a mit den „zuständigen Behörden“ zunächst die Behörden auf kommunaler Ebene adressiert.
Was ist zu tun?
Will man die Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich auf eine solide Rechtsgrundlage stellen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, welchen Regelungsansatz das aktuell geltende IfSG verfolgt und inwiefern die vorhandenen Regelungen nicht auf Maßnahmen der Epidemiebekämpfung zugeschnitten sind.
Voraussetzung für ein Tätigwerden der zuständigen Behörde nach den geltenden §§ 28ff. IfSG ist – wie im Gefahrenabwehrrecht im engeren Sinne üblich – eine konkrete Gefahr, die dann in einem konkreten Einzelfall punktuell bekämpft wird. Notwendigerweise muss ein individueller Bezug zwischen Gefahrenlage und Adressat*in der Maßnahme bestehen. Dieser konkret-individuelle Bezug geht verloren, wenn eine Epidemie flächendeckend bekämpft wird und beispielsweise Gemeinschaftseinrichtungen geschlossen werden, ohne dass vor Ort ein Krankheitsausbruch aufgetreten ist, oder wenn für Reiserückkehrer aus sogenannten Risikogebieten pauschal eine Quarantänepflicht geregelt wird. In diesen Fällen werden die vorhandenen Vorschriften überdehnt, weil keine konkrete Gefahr vorliegt, die entweder einer individuellen Person zugerechnet werden kann oder die durch die Inanspruchnahme eines Nichtstörers abgewehrt werden soll (etwa indem einem Gesunden verboten wird, einen Kranken aufzusuchen, vgl. BT-Drs. 8/2468, S. 27). Die Maßnahmen reagieren vielmehr auf ein diffuses Infektionsgeschehen, das nicht mehr auf einzelne gefährliche Verhaltensweisen zurückgeführt werden kann. Wenn in der Folge die Allgemeinheit flächendeckend adressiert wird, wie dies während der Corona-Epidemie geschieht, handelt es sich nicht mehr um Gefahrenabwehr im engeren Sinne, sondern um Risikovorsorge.
Eine Überarbeitung der §§ 28ff. IfSG muss deswegen diese zwei unterschiedlichen Situationen berücksichtigen: Notwendig sind weiterhin Vorschriften zur Bekämpfung konkreter Infektionsgefahren durch punktuelle Maßnahmen. Diese Vorschriften müssen jedoch um einen weiteren „Maßnahmenblock“ ergänzt werden, der regelt, unter welchen engen Voraussetzungen die Behörden flächendeckend – nicht mehr gegenüber einzelnen Personen bei einer konkreten Infektionsgefahr, sondern gegenüber der Allgemeinheit – vorgehen dürfen. Da der Ansatz, der dem Gefahrenabwehrrecht im engeren Sinne folgt – d.h. Nachverfolgung der Infektionsketten gem. § 25 und Isolierung der Infizierten, Kranken, Krankheits- und Ansteckungsverdächtigen nach § 30 –, grundsätzlich Vorrang haben muss vor der Inanspruchnahme der Bevölkerung, muss Ziel der Maßnahmen sein, den zuständigen Behörden die Kontaktnachverfolgung und die Isolierung konkreter Infektionsherde zu ermöglichen. Auf diese Weise koppelt man den Einsatz des flächendeckenden Ansatzes an die Wirkung des punktuellen Ansatzes in der Praxis: Solange die Gesundheitsämter in der Lage sind, die Infektionsketten nachzuvollziehen und einzelne Infizierte zu isolieren, ist ein flächendeckendes Vorgehen nicht erforderlich.
Die Behörden sollten gleichzeitig verpflichtet werden, die Maßnahmen zu begründen; dies gilt auch für die Handlungsform der Rechtsverordnung. Auch wenn Maßnahmen verlängert werden sollen, muss diese Verlängerung begründet werden. Auf diese Weise würde die gerichtliche Kontrolle erleichtert.
Für konkrete Infektionsgefahren empfiehlt sich grundsätzlich die Beibehaltung der §§ 29 bis 31 und der Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 1. Halbs. Die in § 28 Abs. 1 S. 1 2. Halbs., S. 2 genannten Maßnahmen sollten jedoch in eigene Absätze überführt und es sollte klargestellt werden, dass diese Maßnahmen einen örtlichen Bezug verlangen, d.h. dass etwa Gemeinschaftseinrichtungen dann geschlossen werden dürfen, wenn sich dort ein Krankheitsausbruch ereignet.
All diese Vorgaben habe ich in einem Gesetzentwurf ausformuliert, den ich hier gerne zur Diskussion stelle.
Dringender Änderungsbedarf
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung soll schon am Freitag in erster Lesung vom Bundestag beraten werden. Er wird dem Problem der nicht ausreichenden Rechtsgrundlagen, das seit Monaten bekannt ist, nicht ansatzweise gerecht. Wird er in der jetzigen Form verabschiedet, besteht vielmehr die Gefahr, dass die Verwaltungsgerichte die Änderungen als nicht ausreichend erachten – schließlich bleibt es völlig unklar, unter welchen Voraussetzungen Ausgangsbeschränkungen angeordnet und Versammlungen verboten werden dürfen, welche Daten Restaurants von ihren Gästen speichern müssen und an wen sie diese herauszugeben haben, wie Kindeswohlgefährdungen im Falle von Kita- und Schulschließungen vermieden werden und unter welchen Voraussetzungen tatsächlich Beherbergungsverbote verhältnismäßig sein können. Nachbesserungen sind deswegen dringend geboten, um den Anforderungen von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot gerecht zu werden.
Transparenzhinweis: Die Autorin hat die SPD-Bundestagsfraktion in den letzten drei Wochen zur Reform des IfSG beraten.