15 July 2013

“Wegsperren für immer” ist in ganz Europa verboten

Ich kann nicht alles nachholen, was während meines Urlaubs alles an Bloggenswerten aufgelaufen ist. Das ist eine ganze Menge, allem voran natürlich die NSA-Affäre, die uns ja wohl hoffentlich noch eine Weile erhalten bleiben wird. Eine letzte Woche ergangen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finde ich aber doch so aufregend, dass ich hier doch kurz auf sie hinweisen möchte.

Es geht um die Frage, ob lebenslange Haft mit dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung in Art. 3 EMRK vereinbar ist. Wirklich lebenslange Haft, wohlgemerkt: “Wegsperren für immer”, um einen früheren Bundeskanzler zu paraphrasieren.

In Deutschland wird die so genannte lebenslange Freiheitsstrafe bekanntlich so praktiziert, dass nach 15 Jahren geprüft wird, ob sie zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dafür hat 1977 das Bundesverfassungsgericht in einem selbst für Karlsruher Verhältnisse philosophisch und soziologisch außergewöhnlich anspruchsvollen Richterspruch gesorgt. (Damit wir uns aber nicht allzu viel auf unsere Pionierstellung einbilden: In Italien hat das der Verfassungsgerichtshof schon 1974 getan.) Mittlerweile ist das europäischer Mainstream: 32 EMRK-Mitgliedsstaaten verlangen nach einer Mindestfrist zwischen 10 und 30 Jahren eine Überprüfung der Strafe und gegebenfalls deren Aussetzung zur Bewährung; neun Mitgliedsstaaten haben überhaupt keine lebenslange Freiheitsstrafe; ein weiterer – das idyllische Island – hat zwar theoretisch eine, aber hat sie offenbar noch nie verhängen müssen.

Unter den Verbleibenden sind ein paar, die uns ziemlich nahe sind, die Niederlande etwa, die Schweiz, Frankreich und England. Aus England kommen die drei Fälle, die dem aktuellen EGMR-Urteil zugrundeliegen: drei Männer, die jeweils außergewöhnlich scheußliche Morde begangen haben. In England gibt es die “Whole Life Order”, und die kann man tatsächlich wörtlich verstehen: Wer so ein Urteil empfangen hat, kommt als lebendiger Mensch allenfalls gnadenhalber kurz vor dem Tod noch frei.

Letztes Jahr hatte eine Kammer des EGMR noch mit knapper Mehrheit die Klagen der drei Mörder zurückgewiesen. Vier der sieben Richter unterschieden, ob die lebenslange Strafe mit richterlichem Ermessen oder automatisch verhängt wird. Ein Problem mit Art. 3 EMRK konnten sie nur im letzteren Fall erkennen. Die drei Minderheitsrichter dagegen schlugen eine ganz andere Stoßrichtung ein: Nicht die Strafe selbst sei das Problem, sondern

the absence of some mechanism that would remove the hopelessness inherent in a sentence of life imprisonment from which, independently of the circumstances, there is no possibility whatsoever of release while the prisoner is still well enough to have any sort of life outside prison.

Vor der Großen Kammer hat sich diese Sichtweise jetzt durchgesetzt, und zwar mit nur einer einzigen Gegenstimme (die des Liechtensteiners Marc Villiger). Das Urteil der Großen Kammer leistet auf europäischer Ebene das, was 1977 das Karlsruher Urteil auf bundesdeutscher Ebene geleistet hat – mit weniger Worten zwar, aber mit vergleichbarer Tragweite.

Dass jemand sein ganzes Leben lang hinter Gittern verbringen muss, sei für sich genommen noch kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Welche Strafe für welche Tat angemessen sei, könne man so oder so sehen und jeder Staat autonom entscheiden, und das schließe auch die Möglichkeit ein, im Extremfall jemanden bis zum Tod einzusperren, zumal die Große Kammer anerkennt, dass es Täter gibt, die auch nach noch so langer Haft noch zu gefährlich sind, um sie freizulassen.

Aber das heißt nicht, dass man diese lebenslange Haft ohne Aussicht auf Bewährung von vornherein als Strafe für eine bestimmte Tat verhängen darf.

Ein Rechtszustand, der vorsieht, dass sich hinter bestimmten Menschen die Gefängnistore für immer schließen wie der Sargdeckel über dem Sarg, der aus ihrem Leben jegliche Freiheit restlos tilgt und nur noch eine unfreie vegetative Rumpfexistenz übrig lässt, ein solcher Rechtszustand ist prinzipiell nicht anders zu beurteilen als einer, der Todesstrafe oder Sklaverei zulässt – nämlich als Verstoß gegen die Menschenwürde.

So hat es das BVerfG 1977 gesehen, und so sieht es jetzt der EGMR für ganz Europa von der Algarve bis zum Kaukasus (Nicht-Mitglieder Vatikanstaat und Weißrussland ausgenommen).


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: “Wegsperren für immer” ist in ganz Europa verboten, VerfBlog, 2013/7/15, https://verfassungsblog.de/wegsperren-fur-immer-ist-in-ganz-europa-verboten/, DOI: 10.17176/20170831-161035.

37 Comments

  1. Storax Tue 16 Jul 2013 at 20:27 - Reply

    ..wie der Sargdeckel über dem Sarg, …
    Ist das zynisch zu verstehen ???
    Denn für die Opfer dieser bestimmten Menschen dürfte das allemal gelten.

  2. Thomas R. Tue 16 Jul 2013 at 22:07 - Reply

    Da es ja auch nicht akzeptabel wäre, jemanden für ein paar Jahre zu versklaven und ihn dann, früh genug vor seinem Tod, wieder freizulassen, erscheint mir der Vergleich mehr als ein bisschen schief.
    Äpfel und Klaviere verglichen.

  3. Wolf-Dieter Tue 16 Jul 2013 at 22:21 - Reply

    Die Hoffnungslosigkeit des Lebenslänglich als Verstoß gegen die Menschenwürde zu sehen — ein begrüßenswerter Fortschritt.

    @storax — auch mit Rücksicht auf die Opfer!

  4. earendil Wed 17 Jul 2013 at 09:15 - Reply

    Gibt’s Informationen dazu, welche praktischen Auswirkungen das haben wird und wieviele Menschen das betrifft?

  5. Lutz Wed 17 Jul 2013 at 09:58 - Reply

    Ja,, Täterschutz wird in unserer Gesellschaft nunmal sehr wichtig genommen. Leider wird sich daran nicht wirklich was ändern und die Opfer leiden doppelt.

  6. omnibus56 Wed 17 Jul 2013 at 11:52 - Reply

    @Storax Di 16 Jul 2013 um 20:27
    @Lutz Mi 17 Jul 2013 um 9:58
    Unrecht (am Täter) wird nicht durch Unrecht (durch den Täter) Recht.

    Strafe sollte nicht der Befriedigung von “moralisierenden Rachegelüsten” dienen. Vielmehr sollte sie der ethischen Verantwortung des Täters für die Tat, seiner Umerziehung (Resozialisierung, falls möglich) und – durchaus auch – der Generalprävention dienen. Aus diesem Grund finde ich die Entscheidung sehr in Ordnung.

    Vielleicht solltet Ihr Euch auch mal mit der Sichtweise von Schmidt-Salomon auf “Willensfreiheit” und “Schuld” beschäftigen (Jenseits von Gut und Böse, ISBN-10: 3492273386, ISBN-13: 978-3492273381). Sicher in dem Zusammenhang auch interessant. Man kann sich zumindest mit Teilaspekten anfreunden, finde ich.

    • Minivan Fri 27 Dec 2019 at 22:53 - Reply

      omnibus, du bist einer dieser Gutmenschen, die auf polemische Art immer nur Sonnenschein, Friede Freude Eierkuchen propagieren und es immer für angebracht halten das Gute im Menschen heevorzuheben, selbst wenn die Verbrechen besagter Menschen jegliche Vorstellungskraft sprengen. Die Gesellschaft als Ganzes muss geschützt werden und nicht dem Rechtsstaatfetischismus einzelner Gutmenschen genüge getan werden.

  7. Lutz Wed 17 Jul 2013 at 13:12 - Reply

    Das ist absolut kein “befriedigen von Rachegelüsten”, denn das wäre die Forderung nach der Todesstrafe.
    Der Gedanke der Resozialisation ist schön, nur zeigen (selbst die offiziellen) Statistiken, das nicht wirklich funktioniert.

  8. earendil Wed 17 Jul 2013 at 15:03 - Reply

    1. Knast bis zum Tod ist genauso hoffnungslos und damit nicht weniger grausam als Todesstrafe, genau darauf hat der EGMR ja abgestellt.
    2. Klar geht’s da um Rache. Darum wird ja auch nie erläutert, was das den Opfern denn bringen soll, geschweige denn dass eine vernünftige Abwägung zwischen Opferschutz und Rechten von Straftäter_innen vorgenommen wird.
    3. Resozialisation funktioniert durchaus, auch wenn da sicher einiges verbesserungsbedürftig ist. Vor allem aber ist sie, tatsächlich mal: alternativlos. Denn ob mit echtem lebenslänglich oder ohne: Die allermeisten Straftäter_innen kommen irgendwann wieder frei. Und dann besser mit Resozialisierungsmaßnahmen als ohne, denn die senken Rückfallrisiken doch ganz erheblich.
    Es gibt letztlich kaum einen besseren Opferschutz als Resozialisierungsmaßnahmen. Dass die häufig so unzureichend sind, daran haben die, die sowas immer als Kuscheljustiz verunglimpfen, einigen Anteil. Und zeigen damit, wie egal ihnen der Opferschutz tatsächlich ist, solange sie nur ihre Strafgelüste befriedigt sehen.

    So. Ich sollte mir mal einen Browserfilter gegen rechte Dumpfbackenkommentare zulegen. “Täterschutz” wird da der zweite Eintrag, gleich nach “Gutmensch”.

  9. Lutz Wed 17 Jul 2013 at 15:40 - Reply

    1. Das ist ganz und gar nicht hoffnungslos. Es kann sich ja tatsächlich rausstellen, das die Beteuerungen, das es jemand anders war, stimmen.
    2. Was es den Opfern bringt ist so offensichtlich, das es nicht gesondert erwähnt werden muss. Zum Beispiel ganz profan auch noch aus Rache umgebracht zu werden, weil man als Zeuge im Prozess ausgesagt hat.
    3. Eine (offizielle) Rückfallquote von >50% (Dunkelziffer deutlich höher) ist jetzt nicht gerade “Resozialisierung funktioniert”.

    Viel Glück mit dem Browserfilter. Wenn der dann funktioniert werden ja gleich die eigenen Kommentare gelöscht.

  10. Maximilian Steinbeis Wed 17 Jul 2013 at 15:43 - Reply

    Don’t feed the troll!

  11. entejens Wed 17 Jul 2013 at 16:31 - Reply
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