Wehrhafte Demokratie oder Entmachtung der parlamentarischen Minderheit?
Anmerkungen zum Eilantrag der SPD-Landtagsfraktion „Keine Thüringer Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen“
Den Anfängen soll gewehrt werden. So weit, so gut. Der Eilantrag der SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag unter dem schmissig-sperrigen Titel „Keine Thüringer Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen – Demokraten müssen sich von der AfD distanzieren – keine Form der Zusammenarbeit!“ vom 10. Februar 2020 wirft allerdings einige Fragen auf. Die entscheidende ist: Bedarf es wirklich eines verfassungsrechtlich heiklen förmlichen (Rechts-)Akts, um Haltung zu zeigen?
Der Antrag wurde im Rahmen der aktuellen Stunde nicht zugelassen, ob er seitens der SPD-Fraktion als ordentlicher Antrag noch regulär eingebracht werden wird und ob sich ggfs. noch andere Fraktionen anschließen werden, ist offen. Der Antrag, der mangels Drucksachennummer nicht offiziell geführt wird und im Rahmen einer aktuellen Stunde in den Landtag eingebracht werden sollte, hat es durchaus in sich. In Form eines Entschließungsantrags zielt der Entwurf auf den förmlichen Beschluss dreier ‚Bekenntnisse‘, die sich der Landtag zu eigen machen soll. Dabei sind vor allem die Punkte zwei und drei von Interesse. Der Landtag soll sich zum einen dazu bekennen, „dass die Wahl eines Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen niemals von den Stimmen von AfD-Abgeordneten abhängen darf“ und zum zweiten bekunden: „Ebenso darf es keine Gesetzesbeschlüsse im hiesigen Landtag geben, die nur durch die Stimmen von AfD-Abgeordneten ihre Mehrheit gefunden haben.“ Die Frage, inwiefern sich das erstgenannte Postulat mit dem Abstimmungsgeheimnis (Art. 52 Abs. 1 VerfNRW) in Übereinstimmung bringen lässt, dürfte noch das kleinste verfassungsrechtliche Problem darstellen, genauso, wie man die Praktikabilität der zweitgenannten Verfahrensweise in Anbetracht der mit einfacher Abstimmungsmehrheit möglichen (Art. 44 Abs. 2 VerfNRW) Gesetzesbeschlüsse im Hinblick auf Pairing-Situationen, an denen sich die AfD-Fraktion nicht beteiligen mag, in Zweifel ziehen kann. Man könnte in einem solchen Fall zwar argumentieren, dass es bei virtuell vorhandener Gesetzesmehrheit im eigentlichen Sinne auf die Stimmen der AfD gar nicht ankommt, technisch gesehen wäre das aber natürlich unzutreffend. Die Gesamtstoßrichtung des Entschließungsantrags ist jedenfalls verfassungsrechtlich höchstbedenklich und das hat damit zu tun, wie hier die parlamentarische Mehrheit eine parlamentarische Minderheit für gestaltungspolitisch irrelevant erklärt.
Das Problem der Rechtserheblichkeit
Bevor sich nun die AfD die Hände reibt, sei folgendes klargestellt: Abgesehen davon, dass die Mehrheitsfähigkeit des SPD-Antrags im Landtag von Nordrhein-Westfalen fraglich sein dürfte (in anderen Landesparlamenten möge dies freilich anders sein), ist die Beschlussvorlage bereits aus einem Grund nicht verfassungswidrig und das Gleiche würde für eine entsprechende Entschließung gelten, so die Vorlage doch die Mehrheit finden sollte. Entschließungen greifen mangels Rechtsverbindlichkeit weder in die Rechte der Bürger ein, entfalten mithin keine Außenwirkung, noch besteht die Möglichkeit, dass sie Organberechtigungen, etwa die einer Fraktion (Art. 30 Abs. 5 VerfNRW) oder einzelner Abgeordneter (Art. 30 Abs. 2 NRW) beeinträchtigen. Wollte die AfD-Fraktion eine solche Entschließung angreifen, müsste ein entsprechender Organstreitantrag infolge einer fehlenden Antragsbefugnis i.S.d. § 44 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen für unzulässig befunden werden. Erst recht müsste dies für einen Angriff auf den Entschließungsantrag selbst gelten, hier müsste man zusätzlich noch das Rechtsschutzbedürfnis verneinen. Entschließungen fehlt es allerdings durchaus nicht an Rechtserheblichkeit: Als sog. schlichte Parlamentsbeschlüsse zielen sie darauf, Ergebnissen der politischen Meinungsbildung Ausdruck zu verleihen, wie es Hans Hugo Klein (HStR III, § 50, Rn. 14) bemerkt und hinzufügt, dass die rechtliche Erheblichkeit u.a. daher rührt, dass die parlamentarische Mehrheit den nicht rechtsverbindlich bekundeten politischen Willen jederzeit in eine rechtsverbindliche Form, namentlich in Gesetzesform, gießen könnte. Ein förmlicher, in einem geschäftsordnungsmäßigen Verfahren hergestellter Beschluss, so müsste man wiederum hinzufügen, verleiht dem politischen Mehrheitswillen also in einer ganz spezifischen Form Ausdruck. Ob es sich bei einer Entschließung der hier angesprochenen Art am Ende um einen ‚Rechtsakt‘ handelt, wirft im Übrigen auch rechtstheoretische Fragen auf, wie sie im soft-law-Kontext seit Jahrzehnten diskutiert werden. Geht man im rechtsdogmatischen Sinne davon aus, dass Rechtserheblichkeit im Allgemeinen verstanden wird als Eignung zur Rechtsbeeinträchtigung, spricht vieles dafür, dass auch die Rechtserheblichkeit hier im Ergebnis zu verneinen sein wird. Zwingend ist dies freilich nicht. Sollte der nordrhein-westfälische Landtag der Vorlage zustimmen, dürfte er sich auf verfassungsrechtlich dünnstes Eis begeben.
Ergebnis des Verbindlichkeitstests: Grenze der Wehrhaftigkeit überschritten
Die Möglichkeit der Gesetzeswerdung, die Hans Hugo Klein zum Merkmal der Rechtserheblichkeit erhebt, verweist im Übrigen auf die inhaltliche Dimension der von der SPD-Fraktion vorgeschlagenen Entschließung. Wer jemals nach einem Beispiel für ein evident verfassungswidriges Gesetz gesucht hat, würde hier fündig, wäre der Landtag geneigt, eine gesetzliche Anordnung zu treffen, wonach ein Ministerpräsident nicht mit mehrheitserheblichen AfD-Stimmen gewählt werden bzw. ein Gesetz nicht mit solchen Stimmen beschlossen werden darf. Ein derartiges ‚Gesetz-mit-AfD-Stimmen-Verhinderungsgesetz‘ (so würde es wahrscheinlich Frau Giffey nennen) verstieße klar gegen die Statusrechte der betroffenen Abgeordneten und gegen das Demokratieprinzip. Es würde, einmal in Kraft gesetzt, einer späteren Minderheitsregierung erlauben, Gesetze mit einer legislativ bereinigten, quasi-Parlamentsmehrheit zu verabschieden und überhaupt die Möglichkeit eröffnen, eine Minderheitenregierung auch gegen den Willen der eigentlichen Mehrheit ins Amt zu bringen. Ein solches Gesetz zielte letztlich darauf ab, eine parlamentarische Minderheit aus Gründen mehrheitlicher Illegitimätszuschreibungen ihrer parlamentarischen Macht zu berauben. Parlamentarische Kontrollmacht, wie sie in konkurrenzdemokratisch verfassten Politiksystemen nicht nur mit klassischen Minderheitenrechten (Anfragerechte, Minderheitenenquete, Recht auf Einberufung des Parlaments etc.), sondern auch mit politischen (Mit-)Gestaltungsrechten bzw. entsprechenden Blockademöglichkeiten – etwa zur Verhinderung eines Gesetzesbeschlusses – korrelieren, würde so unzulässig entwertet. Ein Gesetz, das den inhaltlichen Postulaten des SPD-Entschließungsantrags entspräche, würde niemand ernsthaft befürworten. Gegenüber einem entsprechenden Gesetz auf Bundesebene müsste der Bundespräsident sogar die Ausfertigung verweigern (Paradefall des materiellen Ausfertigungsverweigerungsrechts wegen offenkundiger Verfassungswidrigkeit), vermutlich wäre sogar eine auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Recht auf Demokratie) gestützte Verfassungsbeschwerde erfolgreich. Auch die Demokratiefeindlichkeit der Partei, welcher die zu exkludierenden Abgeordneten angehören, rechtfertigt keinen anderslautenden juristischen Befund. Das Parteiprivileg, wie es aus Art. 21 Abs. 2, 4 GG resultiert und welches beinhaltet, dass alle nicht gem. § 46 Abs. 3 S. 1 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht verbotenen Parteien formell strikt – vorbehaltlich stärkemäßig abgestufter Differenzierung (§ 5 PartG) – gleich zu behandeln sind, schlägt über die Statusgleichheit der Abgeordneten auf die statusrechtliche Binnenstruktur des Parlaments als Verfassungsorgan durch. Den verfassungswidrigen Abgeordneten, den förmlich zu exkludieren manch einer für angemessen hält, gibt es ex constitutione nicht, kann es gar nicht geben, weil die verfasste Demokratie in Deutschland zwar wehrhaft, aber nicht wehrwütig ist. Die Verfassung ist nicht nur eine wehrhafte Verfassung, sondern markiert auch die Grenzen der Wehrhaftigkeit. Unterzieht man den Entschließungsantrag also einem Verbindlichkeitstest, indem man ein entsprechendes hypothetisches Gesetz konstruiert, fällt der juristische Befund eindeutig aus, denn die Grenzen der Wehrhaftigkeit würden eklatant überschritten.
Haltung zeigen im Einklang mit der Verfassung
Warum nun aber einen politischen Willen bekunden, dessen Artikulation, um das Attribut der Verbindlichkeit ergänzt, klar verfassungswidrig wäre? Eine Antwort darauf könnte Punkt 1 des vorgeschlagenen Beschlusstenors geben. Danach soll sich der Landtag dazu bekennen, „dass es keine Zusammenarbeit und keine wie auch immer geartete Form des Zusammenwirkens der Demokraten mit der AfD im Landtag von Nordrhein-Westfalen geben darf und wird“. Die Ergänzung der Präskription „darf“ um die Deskription „wird“ im Zusammenspiel damit, dass die „Demokraten“ im Landtag adressiert werden, spricht dafür, dass es sich im Ergebnis primär um eine Ankündigung oder ein politisches Versprechen derjenigen Abgeordneten und Fraktionen handeln soll, die die Entschließung schlussendlich tragen wollen; in der Sache ist dies dem Antrag nicht unähnlich, mit welchem die Fraktionen von CDU und FDP die Anberaumung jener aktuellen Stunde beantragt haben und zwar unter dem Titel: „Landtag Nordrhein-Westfalen zeigt Haltung: Keine Zusammenarbeit mit der AfD“. Auch hier heißt es in der Begründung, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD abgelehnt und ausgeschlossen wird: „Eine Zusammenarbeit mit der AfD – in welcher Form auch immer – ist für die CDU und die FDP undenkbar. Es gab sie nicht, es gibt sie nicht, es wird sie nicht geben. Wer CDU oder FDP in Nordrhein-Westfalen seine Stimme gibt, oder zukünftig geben wird, kann sicher sein, dass sie weder für politische Spielereien zu Lasten unserer Demokratie, noch für eine Akzeptanz oder gar Zusammenarbeit mit den Feinden unserer Demokratie missbraucht wird.“ Ausweislich der Begründung des SPD-Entwurfs soll es aber bei diesem um ein „schnelle[s] und klare[s] Bekenntnis[…] des Landtags“ gehen, mithin um einen (Sprech-)Akt, der dem Parlament als Verfassungsorgan kraft Beschreitung eines förmlichen Bekundungswegs zugerechnet würde. In dieser Hinsicht hat der Vorstoß der SPD-Landtagsfraktion sogar einen unrühmlichen Vorgänger: Im Jahr 2008 lancierten die Fraktionen von CDU und FDP – und zwar mit Erfolg – im nordrhein-westfälischen Landtag einen Entschließungsantrag gegen jedwede „direkte oder indirekte Regierungsbeteiligung“ der Linkspartei, allerdings in semantisch schwächerer Form; der Landtag bekannte sich dazu, dass eine solche Regierungsbeteiligung „unverantwortlich wäre“ und äußerte die Erwartung einer „klare[n] und entschiedene[n] Positionierung“ von „allen demokratischen Parteien“. Auch dies war verfassungsrechtlich problematisch, wenngleich der politische Appellcharakter hier sprachlich stärker ausgeprägt war.
Mit alledem macht man sich verfassungspolitisch unnötig angreifbar. Wenn die SPD-Fraktion, ggfs. zusammen mit anderen Fraktionen, einfach nur ihre Absicht zur strikten Nicht-Kooperation bekunden will, muss sie hierzu keinen, auch keinen schlichten, Parlamentsbeschluss erstreben. Um Haltung zu zeigen, bedarf es keines verfassungsrechtlich heiklen förmlichen (Rechts-)Akts. Schließlich sei an eine zentrale Erkenntnis erinnert, die das Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund der riesengroßen Koalition in der 18. Wahlperiode des Bundestags im Streit um die Art und Weise der Gewährung quorenmäßig abgesenkter Minderheitenrechte formuliert hat: Der in dieser Entscheidung entwickelte Grundsatz effektiver Opposition (Rn. 86 ff.), der im Demokratie- wie im Gewaltenteilungsprinzip wurzelt, ist danach kein Recht, das der jeweiligen Minderheit einfach nur ‚gehört‘. Die aus ihm resultierenden „Kontrollbefugnisse sind der parlamentarischen Opposition nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern in erster Linie im Interesse des demokratischen, gewaltengegliederten Staates – nämlich zur öffentlichen Kontrolle der von der Mehrheit gestützten Regierung und ihrer Exekutivorgane – in die Hand gegeben […]“ (Rn. 90). Wer diese Rechte in Frage stellt, beschneidet damit die demokratischen Rechte aller Bürger (und nicht ‚nur‘ der AfD-Wähler). Der Adressat einer Maßnahme heiligt nicht die Mittel.
Ein gewaltiger editorischer Aufwand um ein Schnapsidee als Schnapsidee zu überführen.
Stabilität wird in einer Demokratie gemeinhin dadurch gewährleistet, dass man eine Politik zum Wohle des Volkes betreibt, seinen Nutzen mehrt und Schaden von ihm abwendet. Deswegen steht das so auch im Grundgesetz.
Betreibt man das Gegenteil davon, muss man halt lernen mit der AfD zu leben.
Die AfD ist ein Symptom
Für mich ist dieser Entschließungsantrag das klare Zeichen, das die SPD den Boden des Grundgesetzes verlassen hat!
Das ist nichts anderes als die Abschaffung von Art 3 / Art 5 / Art 28 Grundgesetz weiterhin dürfte hiermit auch Art 21 Abs 2 erfüllt werden. Geht’s noch!