18 December 2020

Wen soll das schützen?

Die landesweiten Ausgangsverbote sind verfassungswidrig

Trotz unabweisbarer verfassungsrechtlicher Bedenken erleben landesweite Ausgangsverbote seit der Ministerpräsident*innenkonferenz vergangenen Sonntag ein Comeback. In ganz Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen darf die Wohnung bereits nur noch mit triftigem Grund verlassen werden und es ist anzunehmen, dass weitere Verordnungsgeber bald nachziehen. Angesichts des aktuellen Infektionsgeschehens ist nachvollziehbar, dass die Entscheidungsträger*innen Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die untertägigen Ausgangsverbote können hierzu allerdings keinen Beitrag leisten, da verfassungskonform praktisch jeder sachliche Grund den Ausgang erlauben muss. Nächtliche Ausgangsverbote sind offensichtlich übermäßig, weil einem massiven Eingriff ein höchstens rudimentärer infektionsschutzrechtlicher Nutzen entgegensteht. Dieser Grenznutzen wird dabei mittels einer solch hypothetischen Kausalitätserwägung erkauft, dass ein derart enges Ausgangsverbot selbst in den ersten Wochen der Pandemie nicht erforderlich gewesen wäre. Im zehnten Monat der Corona-Verordnungen ist es jedenfalls nicht mehr von der Einschätzungsprärogative der Exekutive erfasst.

Zweiter Anlauf

Nachdem im März 2020 die Länder Bayern, Berlin, Brandenburg, Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt an Stelle von Kontaktbeschränkungen landesweite Ausgangsverbote mit Erlaubnisvorbehalt verhängt hatten, schwenkten die Verordnungsgeber mit zunehmender Dauer der Pandemie nach und nach auf das mildere Pendant um. Ende April 2020 verblieben einzig in Bayern und im Saarland noch pauschale Ausgangsverbote, die von den Gerichten mit einem Machtwort beendet wurden. Mit Beschluss vom 28. April 2020 setzte der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes das dortige Ausgangsverbot teilweise außer Vollzug. Am gleichen Tag entkleidete der VGH München das bayerische Verbot jedweden Regelungsgehaltes und entschied, als „triftiger Grund“ zum Ausgang müsse in verfassungskonformer Auslegung schlicht jeder sachliche Grund genügen. Der bayerische Verordnungsgeber nahm das Feigenblatt gerne an, das die Verfassungswidrigkeit der Regelung nur wenig überzeugend kaschierte, verlängerte das Ausgangsverbot sogar noch einmal, um es dann doch vorzeitig am 5. Mai 2020 außer Kraft zu setzen. Seither waren die landesweit unterschiedslos geltenden Ausgangsverbote Geschichte. Die außerordentlich tiefgreifende Maßnahme kam nur noch in lokal begrenzten „Hotspots“ zum Einsatz. An den neuerlichen Ausgangsverboten sind zwei Dinge neu: Zum einen greifen nun auch Länder darauf zurück, die sich in der „Ersten Welle“ mit Kontaktbeschränkungen begnügt hatten. Zum anderen sind in einigen Ländern zwei Ausgangsverbote gleichzeitig in Kraft. Denn in der Nacht – je nach Bundesland zwischen 21 und 5 oder 22 und 6 Uhr – soll die Wohnung möglichst noch seltener verlassen werden als unterm Tag. Die sprachliche Differenzierung zwischen „Ausgangsbeschränkung“ und „Ausgangssperre“ darf dabei als politisch motiviert abgetan werden – rechtlich gesehen handelt es sich jeweils um präventive Ausgangsverbote mit mehr oder weniger weiten Erlaubnisvorbehalten. In Bayern weicht das nächtliche Ausgangsverbot konstruktiv von den bisherigen präventiven Verboten ab und dürfte ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt darstellen. Die untertägigen wie auch die nächtlichen Verbote weisen erhebliche Probleme auf.

Die untertägigen Ausgangsverbote sind zweckfrei

Die untertägigen Ausgangsverbote sind mit erheblichen Ausnahmekatalogen versehen, die grundsätzlich auch nur eine exemplarische Aufzählung darstellen. In Baden-Württemberg und in Sachsen soll der Katalog abschließend verstanden werden. Dabei darf es wahlweise als kraftmeierisch, jedenfalls aber als waghalsig bewertet werden, sämtliche zu würdigenden menschliche Bedürfnisse abwägungsfehlerfrei in einem Katalog festhalten zu wollen.

Mit den im Vergleich zum Frühjahr erweiterten Ausnahmekatalogen reagieren die Länder auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshof des Saarlandes und des VGH München. Präventive Ausgangsverbote mit Erlaubnisvorbehalt stellen derart tiefe Eingriffe in die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG) dar, dass eine Regelung keinen Bestand haben kann, die das Verlassen der eigenen Wohnung merklich einschränken würde. Mit dem VGH München ist deshalb zu verlangen, dass jeder sachliche Grund einen triftigen darstellt. Indem die untertägigen Ausgangsverbote den Ausgang nicht regulieren, sind sie dann zur Kontaktreduzierung, damit zur Eindämmung des Virus und schließlich zum Schutz von Gesundheit und Gesundheitssystem ungeeignet. Soweit im Katalog der triftigen Gründe die Anzahl der Personen reguliert wird, die anlässlich des Ausgangs besucht werden dürfen, erreichen sie die Wirkung einer rechtskonstruktiv ungeschickten Kontaktbeschränkung (hierauf wies Andrea Kießling bereits im März hin). Wenn ich meine Wohnung verlasse, um einen Freund zu besuchen, an dessen Haustür bemerke, dass dort bereits ein anderer Hausstand verköstigt wird – ist mein triftiger Grund dann weggefallen? Bestand er nie? Müssen die anderen Gäste auch nachhause?

Von den Vollzugsbehörden scheinen die Ausgangsverbote indes durchaus überschießend ausgelegt zu werden. Wie bereits im Frühjahr häufen sich die Berichte, dass etwa Betteln oder das Driften mit dem eigenen Auto mangels Triftigkeit zu Ordnungswidrigkeitsverfahren geführt haben. Das ganze mutet skurril an, hat aber verfassungsrechtliche Implikationen. Die Unbestimmtheit der triftigen Gründe darf keinesfalls dazu führen, dass den Ordnungsbehörden die Entscheidung überlassen bleibt, inwieweit sanktionsbewehrte Grundrechtseingriffe erfolgen dürfen. Insbesondere im Hinblick auf die untertägigen Ausgangsverbote sind außerdem zumindest kommunikativ shifting baselines zu beklagen. Sie erklären das Verlassen der eigenen Wohnung zum begründungsbedürftigen Ausnahmefall und verschieben damit die Rechtfertigungslast zwischen Staat und Bürger im gesamten öffentlichen Leben. Den Berliner Verfassungsrichter*innen Seegmüller und Schönrock ist zuzustimmen, wenn Sie dieses grundlegende Verhältnis von Freiheit und Eingriff zum Bestandteil des Kernbereichs der allgemeinen Handlungsfreiheit erklären. Es wird den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Implikationen nicht gerecht, wenn landesweite Ausgangsverbote inklusive der aus dem Frühjahr bekannten Probleme hinsichtlich Vollzug und Bestimmtheit jetzt als gängiges Verwaltungshandeln hingenommen werden. Wenn die Ausgangsbeschränkungen nun als mildere Mittel im Vergleich zu den nächtlichen Ausgangssperren erscheinen, darf außerdem nicht der Fehler gemacht werden, die im März und April geregelten und vollzogenen Ausgangsverbote im Nachhinein zu relativieren. Die Exekutive hatte sie ähnlich wie nun die nächtlichen Ausgangsverbote kommuniziert als generelles Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, was im Einzelfall die Fortbewegungsfreiheit des Einzelnen in jede Richtung hin aufgehoben hat. Aufgrund der außerordentlichen Dauer und des strengen Vollzuges wird man sie in geeigneten Einzelfällen als Freiheitsentziehung einordnen können. Christoph Möllers bezeichnete sie zu Recht als den massivsten kollektiven Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die nächtlichen Ausgangsverbote sind übermäßig

Die Ausnahmekataloge bei Nacht sind in allen drei Ländern abschließend geregelt, wobei die Verordnungen in Bayern und Baden-Württemberg mit „sonstigen gewichtigen und unabweisbaren Gründen“ zumindest eine auslegbare Generalklausel enthalten. Die Erlaubnisvorbehalte sind deutlich drastischer und enger formuliert. Die Verordnungsgeber nehmen damit Bezug auf die vom VGH München geforderte verfassungsgemäße Auslegung und stellen klar, dass des Nachts ausdrücklich nicht jeder sachliche Grund zum Ausgang genügen soll. Einige Gründe, die bei Tag als triftiger Grund genannt werden, tauchen im nächtlichen Katalog nicht auf. Durch Auslegung ergibt sich, dass die Verordnungsgeber in diesen Fällen regelmäßig keinen „sonstigen gewichtigen und unabweisbaren Grund“ vermuten, der auch bei Nacht das Verlassen der Wohnung gestatten würde. Die Teilnahme an Versammlungen wird in Bayern etwa unterm Tag in § 2 Satz 2 Nr. 13 11. BayIfSMV als triftiger Grund genannt, nicht aber im Katalog der nächtlichen Ausgangssperre. Nach systematischer Auslegung herrscht demnach in Bayern ab 21 Uhr ein generelles Versammlungsverbot. Die Unvereinbarkeit mit Art. 8 Abs. 1 GG liegt auf der Hand. Im Rückschluss zu § 2 Satz 2 Nr. 5, 6 11. BayIfSMV ist in Bayern nachts außerdem der Ausgang zum Besuch anderer Haushalte, sowie zum Besuch bei Ehegatten und Lebenspartner*innen untersagt. Die Landesregierung Baden-Württemberg wies in ihren zwischenzeitlich bereits geänderten FAQs zur Auslegung der Landesverordnung ausdrücklich auf Folgendes hin:

„Sie dürfen nach 20 Uhr nicht mehr aus dem Haus, um zu Ihrem Partner fahren. Dies ist jedoch erlaubt, wenn Sie nach der Arbeit auf direktem Weg zu Ihrem Partner fahren.

Wenn Sie nach 20 Uhr noch bei Ihrem Partner sind, müssen Sie über Nacht bleiben und dürfen nicht mehr Heim fahren.“

Die Verfassungswidrigkeit ist insoweit bereits auf Eingriffsseite offensichtlich. Die Intimsphäre als engster, von der Menschenwürde garantierter Kern des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist frei von jeglicher staatlichen Kontrolle und darf durch einen Eingriff gar nicht erst berührt werden. Oder um es plakativ zu machen: Wo, bei und in letzter Konsequenz mit wem ich schlafe, geht den Staat nichts an. Soweit Ehegatten von der Regelung betroffen sind, scheint es jedenfalls nicht fernliegend, auch hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 GG über eine Berührung des Kernbereiches nachzudenken.

Die Eingriffstiefe

Neben den Eingriffen in die Allgemeine Handlungsfreiheit, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und Art. 6 Abs. 1 GG bewirken die nächtlichen „Ausgangssperren“ vor allem eine Einschränkung der persönlichen Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Wer sich ordnungsgemäß verhält, hat die eigene Wohnung in dem Geltungszeitraum (und grundsätzlich auch tagsüber) nicht zu verlassen. Bei einem kinderlosen Adressaten ohne Haustiere oder sterbende Angehörige wird durch die nächtliche Ausgangssperre die persönliche Fortbewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin durch den psychischen Zwang aufgehoben, den die Furcht vor Strafverfolgung auslöst. Im Gegensatz zu sämtlichen bislang auf Landesebene geltenden Ausgangsverboten wird nicht einmal die Bewegung an der frischen Luft als triftiger Grund genannt. Die nächtliche Ausgangssperre wird dann nur wegen ihrer vergleichsweise kurzen Dauer, die regelmäßig durch die untertägigen Ausgangsverbote unterbrochen wird, „lediglich“ als Freiheitsbeschränkung einzuordnen sein.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird nicht nur durch das Verbot nächtlicher Jogging-Runden belastet. Nächtliche Ausgangssperren werden vorrangig in kriegerischen Auseinandersetzungen angewandt und Lindner rügt zurecht, dass der neuerliche Lockdown politisch vor allem in Bayern mittels Einschüchterung (er spricht von „Horrorszenarien“) kommuniziert wird. Gerade die nächtlichen Verbote und ihre Inszenierungen sind daher in erheblichem Maße geeignet, die psychische Gesundheit negativ zu beeinträchtigten. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die kaum folgerichtigen Ausnahmekataloge liegt zusätzlich nahe.

Anders als dies in der Rechtsprechung bislang häufig angenommen wurde, wird der Eingriff auch nicht dadurch wesentlich entschärft, dass die jeweiligen Landesverordnungen auf vier Wochen befristet sind. Anhaltende Eingriffe in die Grundrechte haben mit dem Zeitablauf eine irreversible Komponente, weshalb regelmäßig gefordert wird, dass mit anhaltender Dauer umso genauer zwischen den betroffenen Rechten abgewogen werden muss. Bei langfristigen, zusammenhängenden Eingriffen ist daher eine Gesamtbetrachtung der miteinander im Zusammenhang stehenden Maßnahmen erforderlich. Im nunmehr zehnten Monat, in dem die Exekutive zur Pandemiebekämpfung praktisch jeden Lebensbereich detailliert reguliert, folgt aus der langen Dauer nicht nur ein formeller Begründungsaufwand für den Staat, sondern die betroffenen Rechte sind auch materiell umso stärker belastet. Eine immer genauere Differenzierung zwischen Art des Eingriffs und Adressat der Maßnahme, wie sie nach klassischer verfassungsrechtlicher Kategorisierung gefordert wird, ist nicht zu erkennen, wenn die nächtlichen Ausgangsverbote noch strenger als im Frühjahr pauschal auf Millionen von Normadressaten Anwendung finden.

Die banale Schutzwirkung

Dem massiven kollektiven Grundrechtseingriff steht ein nur theoretisch konstruierter Schutz entgegen.

Die nächtlichen Ausgangsverbote verbieten den Aufenthalt im öffentlichen Raum. Die Schutzwirkung für Gesundheit und Gesundheitssystem ist damit ohnehin nur über eine hypothetische Kausalität gegeben, indem Begegnungen untersagt werden, bei denen möglicherweise ein Infizierter anwesend ist, der möglicherweise den Virus weitergibt, wodurch möglicherweise die Krankheit später bei einer Person auftritt, die dann möglicherweise behandelt werden muss. Die Zahl der durch das Verbot tatsächlich unterbundenen Begegnungen im öffentlichen Raum dürfte im späten Dezember, nachts um drei gegen Null gehen – gerade in der Oberlausitz, im Bayerischen Wald oder auf der Schwäbischen Alb.

Die Ausgangssperre soll deshalb nach Willen der Verordnungsgeber vor allem dazu dienen, den abendlichen Besuch in fremden Hausständen unattraktiv zu machen, indem der Rückweg untersagt und ggf. sanktioniert wird. Wer einen anderen Hausstand besucht, muss um 21 Uhr zuhause sein oder dort übernachten. Da durch eine Übernachtung der Kontakt verlängert wird, dürfte schon fraglich sein, ob diese Wirkung zur Förderung des Infektionsschutzes überhaupt geeignet ist. Jedenfalls wird der Weg nachhause (Art. 14 Abs. 1 GG!) stets in verfassungskonformer Auslegung nach Art. 14 Abs. 1 GG einen triftigen Grund darstellen, den öffentlichen Raum zu durchqueren.

Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum – anders als seit Inkrafttreten des (durchaus kritisch zu sehenden) § 28a IfSG etabliert – die Ausgangsverbote landesweit ohne Rücksicht auf regional durchaus unterschiedliche Inzidenzwerte angeordnet werden. Die Reform des Infektionsschutzgesetzes hatte zwar nur einen geringen Gewinn an Klarheit der wesentlichen Eingriffsvoraussetzungen gebracht. Deutlich wird in § 28a Abs. 2 und 3 IfSG aber gerade, dass einzig ein subsidiäres Vorgehen auf regionaler Ebene den tiefgreifenden Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gerecht wird.