Transitzonen für Flüchtlinge im Dublin-System?
Die deutschen Medien sind dieser Tage ganz von der Flüchtlingskrise und ihren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft beherrscht. Um die vielerorts diagnostizierte Überforderung der Behörden und der aufopferungsvoll arbeitenden zivilgesellschaftlichen Kräfte zumindest abzumildern, gibt es innerhalb der Bundesregierung nunmehr Bestrebungen, sogenannte Transitzonen an den deutschen Außengrenzen einzurichten. Es wird bereits heftig darüber diskutiert, ob dieses Vorhaben rechtlich möglich und praktisch umsetzbar ist. Abschließende Antworten sind jetzt noch nicht möglich. Ich möchte aber einen knappen Überblick bieten, wie sich der Vorschlag in das Dublin-System einfügt und an welchen Punkten sich mögliche Konflikte – v.a. mit der Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten – entzünden könnten.
Der Vorschlag der Bundesregierung stützt sich auf Art. 43 der Richtlinie 2013/32/EU (Populärname: Asylverfahrensrichtlinie). Diese Vorschrift gewährt den Mitgliedstaaten tatsächlich die Möglichkeit, „an der Grenze oder in Transitzonen“ in einem beschleunigten Verfahren über Anträge auf internationalen Schutz zu entscheiden und z.B. solche von Asylsuchenden aus sicheren Herkunftsstaaten schnell abzulehnen (Art. 31 Abs. 8 Buchst. b der Asylverfahrensrichtlinie). Wie Erwägungsgrund 38 der Richtlinie zeigt, ist diese Vorschrift darauf angelegt, Asylanträge „an Ort und Stelle“ abzuarbeiten, „bevor eine Entscheidung über die Einreise des Antragstellers vorliegt“. Als Regelfrist für die Bearbeitung der Gesuche sind in Art. 43 Abs. 2 vier Wochen vorgesehen. Ist das Verfahren bis dahin nicht abgeschlossen, dann muss dem Antragsteller die Einreise gestattet und die herkömmliche Prüfprozedur durchgeführt werden. In Druckphasen, in denen eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Asylsuchenden einreisen wollen, erlaubt Art. 43 Abs. 3 eine Verlängerung des Transitzonenverfahrens „für die Zeit […], in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden“ – sprich: für die Länge der Zeit, die Asylbewerber üblicherweise in Erstaufnahmeeinrichtungen verbringen.
Wie verträgt sich das mit dem Dublin-System? Die Antwort ist: eigentlich gar nicht. Auch wenn Deutschland Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie in deutsches Recht umsetzte, müsste es nämlich stets prüfen, welcher Mitgliedstaat nach der sog. Dublin-III-Verordnung (Nr. 604/2013) für ein Asylverfahren zuständig ist. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob ein Antragsteller bereits in Deutschland ist oder sich noch an der Grenze oder in der Transitzone befindet (ausdrücklich geregelt in Art. 3 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung).
Dabei können vielfältige Ergebnisse herauskommen: Entgegen landläufiger Meinung muss nämlich nicht ausschließlich und noch nicht einmal vorrangig der Staat, in dem ein Asylbewerber zum ersten Mal das EU-Territorium betritt, das Asylverfahren durchführen. Stattdessen gilt nach Art. 7 ff. der Dublin-III-Verordnung die oberste Priorität dem Familienzusammenhalt, d.h. wenn ein Antragsteller schon enge Verwandte in der Europäischen Union hat, die in einem Mitgliedstaat als Flüchtlinge anerkannt sind oder dort noch in einem laufenden Prüfverfahren stecken, dann ist dieser Staat im Regelfall auch für den Rest der Familie zuständig. Stellt eine ganze Familie zusammen einen Antrag, darf sie ebenfalls nicht getrennt werden. Erst danach ist subsidiär der Staat zuständig, der dem Antragsteller ggf. bereits einen Aufenthaltstitel oder ein Visum ausgestellt hat, und ganz zuletzt der Mitgliedstaat, in dem der Asylbewerber zuerst angekommen ist – und auch das nur für zwölf Monate nach der Einreise.
Lässt sich anhand der Kriterien kein zuständiger Mitgliedstaat ermitteln – insbesondere weil es an einer Registrierung fehlt – oder ist es aus menschenrechtlichen Gründen ausgeschlossen, einen Antragsteller in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zurückzuschieben – dann wird derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wurde (Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung). Das ist der Grund, warum viele Flüchtlinge sich weigern, in den Ländern entlang der Fluchtroute ihre Fingerabdrücke abzugeben.
Selbst wenn sie das getan haben, ist es wegen der Menschenrechtsklausel aber zweifelhaft, ob sie zurückgeschoben werden können: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es rechtswidrig, Asylsuchende nach Griechenland zurückzuschieben; aufgrund der gleichen Überlegung haben der österreichische Verwaltungsgerichtshof und etliche deutsche Verwaltungsgerichte (vgl. etwa hier) entschieden, dass auch Abschiebungen nach Ungarn unterbleiben müssen.
Für die gegenwärtige Lage ist insbesondere eines wichtig: Da auch das Hauptdurchreiseland Österreich keine Schengen-Außengrenzen hat, wird die Prüfung in den seltensten Fällen ergeben, dass die Alpenrepublik nach den Dublin-III-Regeln das Verfahren zu übernehmen hat. Es stellt sich also eine große, bislang ungeklärte Frage: Darf Deutschland die Einreise verweigern und Asylsuchende aus der Transitzone an Österreich überstellen, wenn das Ergebnis der obligatorischen Prüfung etwa „Ungarn“, „Griechenland“ oder „ungeklärt“ (und damit eigentlich „Deutschland“) lautet bzw. wenn sich feststellen lässt, dass der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt?
Befänden wir uns an einer Schengen-Außengrenze, würde Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung weiterhelfen, der jedem Mitgliedstaat das Recht zugesteht, einen Antragsteller nach Maßgabe der oben dargestellten Asylverfahrensrichtlinie „in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen“. Wohlgemerkt: Drittstaat. Der Wortlaut passt also nicht auf die Grenze zwischen zwei Dublin-Staaten. Darum steht auch die EU-Kommission Transitzonen an den deutschen Grenzen äußerst skeptisch gegenüber und stellt sich auf den Standpunkt, diese seien nur an Schengen-Außengrenzen sinnvoll.
Legal kraft Analogieschluss?
Wie lässt sich dieses Ergebnis möglicherweise mit etwas juristischer Kreativität vermeiden? Es bedürfte jedenfalls eines Analogieschlusses, um die Zurückweisung an der Grenze gem. Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung i.V.m. einer nationalen Umsetzung von Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU auch gegenüber Österreich durchzusetzen. Dies wiederum setzt nach der traditionellen juristischen Methodenlehre (nicht nur in Deutschland) eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage voraus.
Die Argumentationskette müsste also lauten: Die Dublin-III-Verordnung ist nur für den Regelfall konzipiert, dass die Einreisekontrollen inklusive Registrierung an den Schengen-Außengrenzen funktionieren – trifft also nicht die Situation, dass Asylsuchende innerhalb des Schengen-Raums weitgehend ungehindert und ohne Grenzformalitäten bis an die deutsche Grenze gelangen können. Was in einem solchen Fall gelten soll, ist nicht geregelt und war nicht Teil der Willensbildung des EU-Gesetzgebers. Da die Staaten mit Außengrenzen ihren Teil der Dublin-Konzeption nicht erfüllen und Deutschland berechtigterweise wieder Grenzkontrollen nach den Vorschriften des Schengener Grenzkodex eingeführt hat, ist die gegenwärtige Interessenlage der Bundesrepublik vergleichbar mit der von Staaten mit Schengen-Außengrenzen im Normalfall. Im Ergebnis darf Deutschland daher die Transitzonenregelung und die Zurückweisungsmöglichkeit auch gegenüber Österreich für sich in Anspruch nehmen.
Was aber, wenn Österreich diese Rechtseinschätzung ablehnt, sich auf den Standpunkt stellt, es gebe keine Regelungslücke, und sich weigert, die Asylsuchenden zurück zu nehmen? Die dortige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat das Schreckensszenario einer humanitären Katastrophe an der Grenze bereits offen angesprochen.
Auch in praktischer Hinsicht stellen sich große Probleme: Die Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU konzipiert Transitzonen als abgeschlossene Bereiche (siehe etwa Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie). Das bedeutet, die Fläche muss – wie beim entsprechenden Vorbild an Flughäfen – für den freien Verkehr geschlossen sein und darf nur beim Grenzübertritt oder durch akkreditierte Personen betreten werden. Das ist nicht umsetzbar, wenn wie in Burghausen das Stadtzentrum bis direkt an den Grenzfluss reicht und nur schmale Brücken den Grenzübergang bilden. Hinzu kommt die völlig unüberschaubare grüne Grenze, die zu einem großen Teil durch das Hochgebirge verläuft und sich nicht einmal dann durch einen Zaun schließen ließe, wenn man es ernsthaft wollte. Wenn man aber Asylsuchende notgedrungen aus einer dicht besiedelten Grenzzone mit Bussen wegfährt oder nach der Einreise über die grüne Grenze aufgreift und in ein Bearbeitungszentrum bringt, kann man dann überhaupt von einer Transitzone im Sinne von Art. 43 der Asylverfahrensrichtlinie sprechen? Und gäbe es tatsächlich einen spürbaren Mehrwert gegenüber dem regulären Verfahren, das man bei besserer Personalausstattung und kürzeren Wegen ja auch wesentlich effizienter machen könnte?
Mit Stacheldraht und vom Bund bezahlt
Wenn man nach all dem Gesagten das jüngste Interview mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann aufmerksam liest, kann man erahnen, wohin die Reise eigentlich gehen soll: Die Transitzonen sind der Versuch, das Konzept der bayerischen Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber vom Balkan in Bamberg und Manching (hier beschrieben) bundesweit als Standard zu etablieren – nur mit Stacheldraht abgeriegelt gemäß den Haftmöglichkeiten nach Art. 8 Abs. 3 der sog. Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU und vom Bund bezahlt, weil sie nominell Teil der Grenzabfertigung wären. Dann hätte vor allem die bayerische Staatsregierung ihre Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit demonstriert, die Landkreise und Kommunen finanziell entlastet und würde sich jeden Rückgang der Flüchtlingszahlen stolz auf die Fahnen schreiben – auch wenn das Wetter hier ein wesentlich wichtigerer Faktor wäre als die Transitzonen.
Dass die damit verbundene Internierung menschenrechtlich problematisch wäre, ist vielfach schon betont worden. Hier möchte ich nur einen Aspekt hervorheben: Da wir im Bereich der Umsetzung fakultativer Richtlinienbestimmungen sind, sind die Grundrechte des Grundgesetzes und die der Europäischen Grundrechtecharta nebeneinander anwendbar; dazu schwebt im Hintergrund stets auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Bei einer Klage gegen die Unterbringung in einer Transitzone könnte die Angelegenheit relativ schnell via Eilvorlage zum EuGH nach Luxemburg kommen, der sich ja gerade spektakulär als Grundrechtsgerichtshof etabliert. Eine Grundsatzentscheidung zu Asylstandards in der EU wäre jedenfalls ein wirklicher Fortschritt in der gegenwärtigen Krise.
Nun – wenn eine EURODAC-Anfrage keine Treffer ergibt und es sonst keine Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaats gibt (die Verwandtschaftsregeln betreffen, wenn der Flüchtling selbst erwachsen ist, nur Ehegatten und minderjährige Kinder, die schon in Europa sind – die Fälle sind eher selten), dann ist durchaus Österreich dran. Das heißt, man kann in der Transitzone das Dublin-Verfahren durchführen und, wenn der Flüchtling nirgends registriert ist, direkt nach Österreich zurückführen. So völlig sinnlos scheint mir der Gedanke nicht, dafür Transitzonen einzurichten.
Eine gewisse Rolle spielen auch Flüchtlinge, für die das Dublin-Verfahren nicht anwendbar ist, weil sie bereits in einem anderen europäischen Staat Flüchtlingsschutz erhalten haben. Dass die nach Deutschland weiter reisen, ist in der Praxis nicht so selten.