Zum Dilemma des Verfassungsgerichtszugangs kleiner Oppositionsparteien: Was sagen eigentlich die Zahlen?
Eine wirkungsvolle Opposition ist für eine Demokratie unerlässlich. Deshalb stehen dieser in Deutschland mehrere Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung: Oppositionsarbeit ist etwa durch den Einfluss auf die mediale Öffentlichkeit möglich, das Stellen von Gesetzgebungs- und Änderungsanträgen im Bundestag, sowie die Initiierung von Untersuchungsausschüssen. Allerdings sind diese Schwerter letztlich stumpf: Der Opposition fehlt per definitionem die ausreichende Mehrheit, einen eigenen Gesetzentwurf durchzubringen oder einen Entwurf der Regierung zu Fall zu bringen.
Eine Ausnahme bildet der Antrag in Form einer abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei dieser überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob eine Rechtsnorm formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Opposition kann somit hoffen, dass das Gesetz durch das Gericht beanstandet wird, wodurch die Opposition etwas erzielt, was ihr im Parlament verwehrt bleibt: ein Gesetz der Regierungsmehrheit zu stoppen. Neuere politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen gerichtlichen Teilerfolg der Opposition sogar über 50 Prozent ist, wenn sie die öffentliche Meinung hinter sich hat.
Bis 2009 waren zur Initiierung der abstrakten Normenkontrolle 33 Prozent der Mitglieder des Bundestages erforderlich, in 2009 wurde das Quorum im Rahmen von Anpassungen für den Lissabon-Vertrag auf 25 Prozent abgesenkt (BGBl. 2009, Teil I, Nr. 76, S. 3822). Trotz der Absenkung des Quorums ist dieses Verfahren damit de facto das Vorrecht einer großen Oppositionspartei wie der SPD oder der Union aus CDU/CSU. Ein Dilemma ergibt sich jedoch in Zeiten einer großen Koalition: So haben die Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE zusammen aktuell nur 20,15 Prozent der Mandate (127 von 630). Mithin zu wenig, um einen Antrag einzureichen.
Im Rahmen des jüngst verhandelten Organstreitverfahren (2 BvE 4/14) der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag wurde durch diese argumentiert, eine wirkungsvolle Opposition aus dem Bundestag könne es nicht geben, wenn ihr der Zugang zum Verfassungsgericht mittels der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) verwehrt bleibt. Für DIE LINKE wäre es attraktiver, ein Quorum von 10 Prozent zu haben, damit sie mit aktuell 64 von 630 Mandaten im Bundestag über diese Hürde kommen würde. Und auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben dieses Problem erkannt: So beantragten sie in 2014 in einem – natürlich nicht erfolgreichen – Gesetzentwurf, das Quorum für die Phase der großen Koalition weiter abzusenken (Bundestag Drs. 18/380).
Mag dieses Argument zwar öffentlichkeitswirksam und normativ diskussionswürdig sein, empirisch haltbar ist es jedenfalls nicht. Wer genauer hinschaut, sieht: eine wirkungsvolle Opposition aus dem Bundestag, die sich rein durch eine Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle konstituiert, gibt es nicht. Vielmehr gibt es mehrere alternative Zugangswege zum Verfassungsgericht, die in der Vergangenheit von Mitgliedern der Bundestagsopposition häufiger genutzt wurden als die der abstrakten Normenkontrolle.
Wie schlüssig ist nun das Argument, dass eine wirkungsvolle Opposition im Bundestag notwendigerweise antragsberechtigt für abstrakte Normenkontrollen sein muss? Nehmen wir für die zurückliegenden Legislaturperioden zunächst einmal an, dass die Opposition im Bundestag sich zumindest selbst als wirkungsvoll gesehen hat. Ansonsten hätte sich die Opposition bereits vorher zu Wort gemeldet. Nehmen wir nun weiter an, das der Zugang für Mitglieder der Bundestagsopposition zur abstrakten Normenkontrolle tatsächlich entscheidend dafür ist, ob die Opposition wirkungsvoll ist oder nicht. Wäre das der Fall, dann sollte man einen regen Gebrauch dieses Instruments in der Vergangenheit beobachten können.
Das Gegenteil ist der Fall. Aus der amtlichen Entscheidungssammlung des Verfassungsgerichts lässt sich – von den oft anonymisierten oder verknappt zusammengefassten Antragsstellern – für gerade mal 8 abstrakte Normenkontrollanträge zwischen 1972 und 2010 eine Oppositionsbeteiligung gesichert feststellen, und für weitere 9 Verfahren ist sie wahrscheinlich. Berücksichtigt man, dass im zuvor genannten Zeitraum insgesamt 95 abstrakte Normenkontrollanträge verhandelt wurden, so bewegt sich die bundesparlamentarische Oppositionsbeteiligung also gerade einmal zwischen mindestens 8 bis maximal 18 Prozent.
Die Opposition im Bundestag hat demnach in der Vergangenheit kaum von der abstrakten Normenkontrolle Gebrauch gemacht, obwohl die jeweilige Mandatszahl von SPD oder CDU als große Oppositionsfraktion für das verfassungsrechtlich notwendige Quorum ausreichend gewesen wäre. Dies liegt an zwei Gründen: Zum Ersten haben die großen Oppositionsparteien neben dem Bundesverfassungsgericht oftmals die Möglichkeit, ein Gesetz auch im Bundesrat zu stoppen, sofern sie diesen kontrollieren und das Gesetz zustimmungsbedürftig ist. Zum Zweiten weiß natürlich auch die Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit, dass die Opposition einen Normenkontrollantrag einreichen kann. Sie versucht deshalb, neue Gesetze juristisch möglichst „wasserdicht“ zu erstellen. Hierzu werden Gesetzentwürfe nicht nur durch das Justizministerium geprüft, sondern auch Anhörungen von Rechtsexperten im Bundestag durchgeführt.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die Opposition im Bundestag Unterschriften für Normenkontrollanträge sammeln muss, wenn ihr einzelne Landesregierungen zeitlich zuvor kommen (Art. 93 Abs. 2 GG). Es ist jedenfalls auffällig, dass Landesregierungen rund 73 Prozent aller abstrakten Normenkontrollanträge (zwischen 1972 und 2010) gestellt haben. Ein Schelm wer vermuten würde, dass die Oppositionsparteien im Bundestag eventuell eine Hintertür zur Normenkontrolle nutzen, in dem sympathisierende Landesregierungen entsprechende Anträge stellen.
Es gibt jedoch noch weitere Zugangswege zum Verfassungsgericht für Mitglieder der Opposition, die nicht von der Antragsberechtigung einer abstrakten Normenkontrolle abhängen. Die parlamentarische Opposition hat in der Organklage (BvE) einen scheinbar weit wirksameren Zugangsweg zum Bundesverfassungsgericht gefunden.
Im Zeitraum von 1972 bis 2010 sind rund 57 Prozent aller Organstreitverfahren, d.h. 47 von 83 Verfahren, durch die parlamentarische Opposition eingereicht worden. Dabei wurden die meisten Anträge unter Beteiligung von Oppositionsfraktionen (25 Anträge) oder durch einzelne Bundestagsabgeordnete (12 Anträge) eingereicht. Immerhin waren 37 der 47 von der parlamentarischen Opposition eingereichten Verfahren (teilweise) zulässig und 15 Verfahren auch (teilweise) begründet. Im Vergleich zu dem geforderten Zugangsweg der abstrakten Normenkontrolle, der bisher spärlich genutzt wurde, ist die Organklage empirisch gesehen also der typische Zugangsweg der parlamentarischen Opposition.
Die schwarzen Balken in der untenstehenden Abbildung zeigen alle zwischen 1972 und 2010 vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelten abstrakten Normenkontrollen (BvF) und Organstreitverfahren (BvE). Die grauen Balken zeigen den absoluten Anteil an Verfahren nach BvE und BvF die unter Beteiligung der Opposition im Bundestag eingereicht wurde. Auf Grund der Anonymisierung und Verknappung von Antragsstellerinformationen in der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts kann nur für die grauen Balken eine gesicherte Oppositionsbeteiligung festgehalten werden. Es ist jedoch darüber hinaus wahrscheinlich, dass sich die Opposition an weiteren Anträgen beteiligt hat. Diese am ehesten möglichen zusätzlichen Verfahren sind über den grauen Balken weiß ergänzt.

Quelle: Die Daten für diese Analyse sind der Constitutional Court Database entnommen die aus dem Forschungsprojekt „Das Bundesverfassungsgericht als Vetospieler“ hervorgegangen ist. Dieses wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Rahmen einer Sachbeihilfe an Thomas Gschwend und Christoph Hönnige (GS 17/3-1 bzw. HO 4338 / 2-1) gefördert. Mehr Informationen unter: www.ccdb.eu
Klar ist allerdings auch, dass es mittels eines Organstreits nur bedingt möglich ist, Rechtsnormen vor das Verfassungsgericht zu bringen, da das Verfahren eigentlich den Konflikt zwischen Institutionen und politischen Akteuren in den Mittelpunkt rückt. Somit bedarf es immer eines konkreten Antragsgegners und einer Begründung, warum die Opposition als Antragstellerin durch ein Handeln oder Nichthandeln des Antragsgegners in ihren verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten verletzt ist. Umso erstaunlicher ist, dass es der Opposition in zwei der 47 erwähnten Verfahren dennoch gelungen ist, Rechtsnormen vor das Verfassungsgericht zu bringen (2 BvE 2/89 – Änderung des Parteiengesetzes; 2 BvE 5/08 – Vertag von Lissabon).
Als letzte Möglichkeit bleibt den Mitgliedern der parlamentarischen Opposition auch der reguläre Zugangsweg aller Bürgerinnen und Bürger zum Gericht: im Weg der Verfassungsbeschwerde. Allerdings erfordert dies immer den konkreten Nachweis, dass das beschwerdeführende Mitglied einer Oppositionspartei als Person selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist. Damit sind der Zulässigkeitsprüfung bei Verfassungsbeschwerden höhere Hürden gesetzt als bei abstrakten Normenkontrollen und Organklagen und diese Hürden steigen weiter, wenn man an die zuvor erforderliche Rechtswegerschöpfung denkt. Dies sollte von einem Mitglied der parlamentarischen Opposition bedacht werden, sofern dieses strategische Überlegungen hinsichtlich eines effektiven Zugangswegs zum Gericht anstellt.
Denkbar ist auch, dass die Opposition versucht, strategisch ihren Zugangsweg zu wählen, um durch den einen oder anderen Antrag den Zugang zu einem der Senate „zu steuern“. Organstreitigkeiten etwa sollten theoretisch überwiegend nur im Zweiten Senat, dem Staatsrechtssenat, ankommen. Das ist bei allen den von uns analysierten 83 Verfahren der Fall. Die Wahrscheinlichkeit im Ersten Senat, dem Grundrechtssenat, zu landen ist höher, wenn die Opposition eine abstrakte Normenkontrolle anstrengt. In unserem Beobachtungszeitraum kommen 67 Verfahren vor den Zweiten Senat, und immerhin 28 Verfahren auch vor den Ersten Senat. Verfassungsbeschwerden können prinzipiell in beiden Senaten (und deren Kammern) landen.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung grotesk, das Verfassungsgericht müsse das gesetzlich festgeschriebene Quorum von einem Viertel für abstrakte Normenkontrollen (Art. 93 Abs. 2 GG) anders interpretieren, um effektive Oppositionsarbeit zu ermöglichen. Empirisch scheint die Antragsberechtigung für die abstrakte Normenkontrolle weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung einer wirkungsvollen parlamentarischen Oppositionsarbeit zu sein. Sicherlich muss es in einem demokratischen System der Gewaltenteilung möglich sein, die Judikative zu beauftragen. Folglich braucht die parlamentarische Opposition Zugang zum Verfassungsgericht – aber nicht einen bestimmten. Dies muss nicht unbedingt die abstrakte Normenkontrolle sein, auch wenn diese ein relativ bequemer juristischer Weg ist. In der Vergangenheit hat der parlamentarischen Opposition keiner ihre Wirksamkeit abgesprochen, obwohl die abstrakte Normenkontrolle sehr selten benutzt wurde. Typische Gerichtszugänge waren in der Regel andere.
Die untenstehende Abbildung bietet abschließend einen Überblick über die bisherige Praxis der Verfahren mit gesicherter Oppositionsbeteiligung nach BvE und BvF pro Koalitionsregierung. Die Zahlen machen deutlich, das sich die parlamentarische Opposition in Zeiten der übergroßen Koalitionen (Kabinett Merkel I, 2005-2009) nicht systematisch anders verhalten hat, als in anderen Legislaturperioden. Abstrakte Normenkontrollen (BvF) durch die Opposition im Bundestag sind selten, ob sich die Opposition nun einer übergroßen Regierungskoalition gegenüber sieht oder nicht. Der Zugang zum Verfassungsgericht über Organstreitverfahren (BvE) wird von jeder Opposition deutlich öfter gewählt.

Quelle: Constitutional Court Database (www.ccdb.eu), eigene Analysen.
Die Stärke der Opposition spielt offenbar keine Rolle. Das entscheidende für die bisherigen Anträge zu abstrakten Normenkontrollen der Opposition sind vermutlich die Zugänge zu sympathisierenden Landesregierungen. Bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Bund und den Ländern wird ein oppositioneller Normenkontrollantrag durch eine Landesregierung nicht einfach zu bekommen sein, solange der entsprechende Koalitionspartner im Land auch Teil der Koalitionsregierung im Bund ist. Aber das hat ja erstmal nichts mit der Größe der Opposition im Bundestag zu tun. Vermutlich geht es im aktuellen Organstreitverfahren der Fraktion DIE LINKE also eher um eine öffentlichkeitswirksame Debatte und weniger um die Einforderung eines scheinbar notwendigen Oppositionsrechts. Schlussendlich verbleiben ihr auch noch weitere effektive juristische und parlamentarische Kontrollmöglichkeiten gegenüber der parlamentarischen Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung.
Auch dieser – interessante – Beitrag blendet aus, dass der Hintergrund des Quorums doch nicht primär der von Oppositionsrechten ist, sondern der der „countermajoritarian difficulty“. Es ist eben demokratisch betrachtet problematisch, wenn eine (Oppositions-) Minderheit zusammen mit einer (Gerichts-) Mehrheit ein demokratisch beschlossenes Gesetz zu Fall bringt. Deswegen ist eine Absenkung des Quorums auch nicht per se demokratisch. Und auch der Einwand, dass die Regierungsfraktionen das Gesetz dann eben hinreichend „wasserdicht“ machen müssen, um nicht aufgehoben zu werden, verfängt angesichts der eminent politischen Natur verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (und dem teils forcierten Aktivismus aus Karlsruhe) nicht. Es ist eben auch demokratischer Selbstzweck, parlamentarische Gesetze vor dem Zugriff des Gerichts zu schützen, dessen große Mach