Zwischen Neutralität und politischer Verantwortung
Das BVerfG verhandelt über Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern
Wie weit geht die Neutralitätspflicht eines Regierungsmitglieds – und wo fängt der politische Meinungskampf als Parteipolitiker an? Dazu verhandelte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 11. Februar 2020 und versuchte, die Grenzen der Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern auszuloten. Nicht die Verhandlung selbst, sondern das gesamte Verfahren weist einige Kuriositäten auf: Die Äußerungen des Innenministers haben zunächst so wenig Aufmerksamkeit erfahren, wie sie der AfD geschadet haben und dürften auch nicht die einzige (im Grunde unerhebliche) äußerungsrechtliche Grenzüberschreitung der letzten Jahre sein. Dennoch wurde ein Verfahren angestrengt und dennoch wurde mündlich verhandelt, was verzichtbar gewesen wäre, da die rechtlichen Probleme dieses Falles überschaubar sind. All dies verleitet zu der Vermutung, dass dem Ganzen ein politisches Schauspiel innewohnt.
Ausgangspunkt dieses Organstreitverfahrens zwischen der Bundespartei Alternative für Deutschland (AfD) und dem Bundesminister für Inneres, Bau und Heimat ist ein Interview mit dem Titel „Seehofer versteht die Aufregung nicht: GroKo arbeitet störungsfrei – Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zur Großen Koalition (GroKo)“, das am 14. September 2018 auf der Homepage des Bundesministeriums (BMI) veröffentlicht wurde. Das Interview mit Journalistinnen der dpa enthielt unter anderem eine Aussage über die AfD, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht stand:
„Die stellen sich gegen diesen Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten. Das haben Sie am Dienstag im Bundestag miterleben können mit dem Frontalangriff auf den Bundespräsidenten. Das ist für unseren Staat hochgefährlich. Das muss man scharf verurteilen. […] Das ist staatszersetzend.“
Angesichts der rauen Töne in der politischen Kommunikation mag es etwas irritieren, dass die AfD an dem Inhalt dieser Äußerung bereits Anstoß nimmt.
Horst Seehofer nahm hier Bezug auf die Haushaltsdebatte am 11. September 2018, in der Abgeordnete der AfD den Haushalt des Bundespräsidenten zur Diskussion stellten. Vorangegangen waren Tweets des Bundespräsidenten über seinen offiziellen Twitter-Kanal, in denen er auf das #Wirsindmehr-Konzert in Chemnitz aufmerksam gemacht hatte. Das hatte zu vehementer Kritik seitens der AfD-Fraktion geführt, weil an diesem Konzert unter anderem auch Punkbands teilnahmen, die zuvor durch teils gewaltverherrlichende Texte aufgefallen waren. Die AfD sieht durch die Veröffentlichung des Interviews ihre parteiliche Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1 GG verletzt.
Die verfassungsdogmatischen Grundsätze, um politische Äußerungen von Regierungsmitgliedern zu beurteilen, stehen seit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den Sachen Wanka (BVerfGE 148, 11) und Schwesig (BVerfGE 138, 102) fest. Berichterstatter Peter Müller machte deutlich: Die Neutralitätspflicht verbietet Trägern öffentlicher Gewalt Eingriffe in den Parteienwettbewerb. Der Doppelfunktion geschuldet, müsse aber auch einem Regierungsmitglied eine Teilhabe an der politischen Meinungsbildung als Parteipolitiker möglich sein. Was passiert aber, wenn sich beides überschneidet? Es ist nicht immer einfach, die Grenzen zu ziehen zwischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen des Ressortprinzips einerseits und unzulässiger Inanspruchnahme staatlicher Machtmittel zu parteipolitischen Zwecken des politischen Meinungskampfes andererseits. Entsprechend war es diese Frage, die im Mittelpunkt der etwa zweieinhalbstündigen mündlichen Verhandlung stand.
Rechtsanwalt Ulrich Vosgerau, der Prozessbevollmächtigte der AfD, machte in seinem Eingangsstatement deutlich, dass die Äußerungen Seehofers aus seiner Sicht deutlich über die zulässigen Grenzen hinausgingen: Der Bezug des Interviews zu den Landtagswahlen sei klar, auch wenn es auf darauf nicht ankomme, da die Neutralitätspflicht umfassend sei. Das Interview sei eine gezielte, amtlich redigierte Erklärung nach erfolgter rechtlicher Beurteilung. Staatliche Ressourcen hierfür zu nutzen, komme einem Missbrauch des Amtsbonus gleich. Die Zielsetzung des Erklärten sei unmissverständlich, den Weg zur Bekämpfung Andersdenkender durch die gezielte Diffamierung politischer Gegner abzulösen. Er warnt den Senat gar davor, die selbstgesetzten Maßstäbe zu lockern und die Neutralitätspflicht aufzuweichen, denn: „Auch die AfD wird früher oder später den Bundesinnenminister stellen. Vielleicht schon in 5 Jahren.“ Das Gericht solle erwägen, ob man in diesem Fall tatsächlich die Neutralitätspflicht aufgeweicht sehen wolle.
Die Antragstellerin wertet es als eindeutiges Eingeständnis, dass das Interview von der Ministeriumshomepage entfernt wurde, nachdem die AfD einstweiligen Rechtsschutz eingelegt hatte und äußert darüber hinaus den Verdacht der Untreue im Amt: Das Interview sei ein reines Gefälligkeitsinterview und in seiner Qualität so minderwertig, dass es nur auf Anregung und unter Bezahlung des BMI zustande gekommen sein könne. Der Prozessbevollmächtigte musste sich daher die irritierte Nachfrage des Richters Peter Müller gefallen lassen, ob er denn irgendwelche tatsächlichen Anhaltspunkte für diesen Verdacht habe, der immerhin den Vorwurf enthalte, das Bundesministerium habe Untreue an Haushaltsmitteln begangen. Eine plausible Antwort darauf gab es nicht.
Die Schwierigkeit der „zwei Hüte“
Die Verteidigungslinie des Bundesinnenministers als Antragsgegner, vertreten durch Klaus Ferdinand Gärditz, orientierte sich an den etablierten Kriterien der Rechtsprechung des Zweiten Senats, wie sie zuletzt durch die Wanka-Entscheidung 2018 (BVerfGE 148, 11) konsolidiert wurde: Regierungsmitglieder treffe in Ausübung ihres Amtes eine Neutralitätspflicht, die die Chancengleich im politischen Wettbewerb sichert, es bleibe aber Amtsinhabern unbenommen, zwei Funktionen in einer Person auszufüllen. Die Abgrenzung zwischen der Funktion als Parteipolitiker, in der sich jeder auch am politischen Meinungskampf beteiligen könne, und der Inanspruchnahme der Autorität eines Regierungsamtes erfolge danach, ob spezifische Machtmittel eingesetzt würden, die nur einem Hoheitsträger zur Verfügung stünden. Solche Machtmittel können z. B. staatliche Ressourcen sein, aber auch der Einsatz von Amtsautorität im Rahmen von amtlichen Verlautbarungen durch offizielle Publikationen, Pressemitteilungen sowie Erklärungen auf der offiziellen Internetseite (BVerfGE 148, 11 Rn. 66).
Diese Kriterien werden zweifelsohne akzeptiert, so Gärditz. Über die von der Antragstellerin betonte Prämisse, dass Demokratie immer Willensbildung von unten nach oben (und nicht umgekehrt) sei, bestand offenkundig Einigkeit. Regierungsmitglieder trügen aber meist „zwei Hüte“ gleichzeitig und die Abgrenzung sei bei hinreichend lebensnaher Betrachtung schwierig. Es sei insbesondere darauf zu achten, dass Regierungsmitgliedern durch eine umfassende Neutralitäts- und Zurückhaltungspflicht kein struktureller Nachteil erwachse: Denn Chancengleichheit bedeute auch, dass Amtsinhaber im politischen Meinungskampf nicht dadurch geschwächt werden dürfen, dass ihnen eine strengere Zurückhaltungspflicht sowohl als Parteipolitiker als auch als Regierungsmitglieder zukomme.
Außerdem sei auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strikt zu unterscheiden zwischen Berufsbeamten einerseits und der Ausfüllung politischer Wahlämter andererseits. Während Berufsbeamte strikt der Neutralität verpflichtet seien, sei ein durch eine politische Wahl erlangtes Amt hingegen mehr als reiner Gesetzesvollzug. Ein solches Amt gehe einher mit politischer Verantwortung und Repräsentation einer Partei. Dies müsse auch ausgefüllt werden dürfen. Und es müssten insbesondere klare aber einfache Regeln für politische Kommunikation aufgestellt werden, die z. B. auch für den einfachen Bürgermeister umsetzbar seien und ihn nicht in seinem Amt wehrlos machten. Es gehe hier um die Feinkonturierung, was Chancengleichheit im politischen Wettbewerb, die nicht mit strikter Neutralität gleichzusetzen sei, praktisch bedeute und was legitimerweise geäußert werden dürfe, insbesondere um demokratische Institutionen gegen Anwürfe zu verteidigen.
Der Antragsgegner vertrat die Auffassung, dass eine spezifische Inanspruchnahme von Amtsautorität durch die Regierung auch bei einer Veröffentlichung auf der Regierungshomepage dann zu verneinen sei, wenn durch deutlich sichtbare Fremdreferenz (hier einem Verweis auf die dpa als Quelle) erkennbar sei, dass sich die Regierung den Inhalt der Veröffentlichung nicht zu eigen mache. Die kritische Nachfrage des Richters Müller, ob nicht auch dann immer noch amtliche Ressourcen verwendet würden, wurde von der Antragstellerin flankiert: Das Interview sei optisch eingefasst von dem Bundesadler und den Farben Schwarz-Rot-Gold, beides unzweifelhaft staatliche Symbolik, die keiner Offenlegung von Fremdreferenz diene.
Maßstab im jeweiligen Kontext
Die Fragen der Richterbank zeigen: Es schien vornehmlich nicht mehr um den Inhalt der Aussage an sich zu gehen, sondern vor allem um deren konkrete Zurechnung zur Bundesregierung. Der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krings, der die Delegation des Bundesinnenministeriums beim Bundesverfassungsgericht leitete, plädierte – unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dafür, den konkreten dialogischen Kontext einer Äußerung differenziert zu betrachten. Ein Interview mit einem Spitzenpolitiker, der ein Ministeramt bekleide, werde nicht per se in amtlicher Funktion wahrgenommen, wie schon die Entscheidung in der Sache Schwesig zeige. Es müsse möglich sein, Kritik auch in überspitzter Art und Weise zu äußern. Das von der dpa geführte Interview erfolgte insbesondere vor dem Hintergrund der Haushaltsdebatte im Bundestag, die kurz zuvor stattgefunden hatte, angesetzt war als Thema die Zusammenarbeit der GroKo. Die Aussagen zur AfD gründeten auf den Vorkommnissen und Diskussionen um die Aussagen der AfD gegen den Bundespräsidenten. Dass die Journalistinnen entsprechende Fragen stellten, entstamme dem öffentlichen Interesse und der Arbeitspraxis der Presse. Die verbalen Angriffe der AfD gegen den Bundespräsidenten hätten ein bisheriges parteiübergreifende politisches Tabus gebrochen.
Mehrere Nachfragen unter anderem der Richterin Doris König zielten darauf aufzuklären, wer im Ministerium auf welcher Grundlage entscheide, was auf der Homepage veröffentlicht werden solle. Krings gab zu, dass es dazu keine pauschale Regelung gebe, in diesem Fall aber kein Ministeriumsjurist über die Freigabe entschieden habe. Dass eine solche Kontrolle durch hausinterne Juristen indes geboten sei, legte hingegen die Antragstellerin nahe. Richter Peter M. Huber hakte hier kritisch nach: Sei nicht die zwingende Kontrolle von – möglicherweise in Eigenschaft als Parteimitglied erzeugten – Medieninhalten durch hausinterne Juristenstäbe des Ministeriums eine Inanspruchnahme von ministeriellen Ressourcen in Form von Ministeriumsjuristen, gegen die sich die Antragstellerin gerade wende?
Perspektivwechsel
Huber machte zudem auf einen möglichen Perspektivwechsel aufmerksam: Die Verhandlung scheine an einem ähnlichen Punkt angelangt zu sein, wie die Grundrechtsdogmatik vor 20 Jahren. Grundrechtsdogmatisch sei nicht mehr die Perspektive des äußernden (grundrechtsgebundenen) Hoheitsträgers relevant, sondern vielmehr die Sicht der Rezipienten, also der grundrechtsberechtigten Bürgerinnen und Bürger. Daher gehe es hier im Kern um die Frage, ob die Wählerinnen und Wähler durch die getätigten Äußerungen in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst würden. Krings ließ sich darauf ein, vertrat aber den Standpunkt, dass eine Veröffentlichung von Interviews gerade aus der Sicht mündiger Wählerinnen und Wähler ein Gewinn sei. Diese interessierten sich nämlich meist für den Minister in seiner Gesamtheit als Mensch, als Parteipolitiker und als Amtsträger. Ob es für die Vollständigkeit des Bildes für den Wähler denn auch notwendig sei, dass der Minister seinen politischen Feind diffamiere, fragte Richter Müller – wohl eher rhetorisch – nach. Wenn es um Authentizität eines Ministers ginge, dann ginge es auch um die Möglichkeit, radikalen Positionen entgegenzutreten, an diesen Kritik zu üben und diese begründen zu dürfen, so Krings.
Ausblick
Die mündliche Verhandlung hat gezeigt, dass niemand grundsätzlich an der Rechtsprechungslinie des Zweiten Senats zu Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern rütteln wollte. Dennoch ist deutlich geworden, wie schwierig es ist, politisches Amt und Parteifunktion in konkreten – oftmals spontanen – Situationen der politischen Auseinandersetzung voneinander abzugrenzen: Die Art der politischen Kommunikation ist rauer geworden, sodass klare politische Statements, sachliche Kritik und der Schutz gegen diffamierende Anwürfe immer notwendiger werden. Die Verantwortung, diesen Auftrag in politischer Funktion auszufüllen, ist groß und erfordert entsprechendes Feingefühl aber auch verlässliche Richtlinien.
Spannend bleiben also im Grunde nur zwei Fragen: Kann das Bundesverfassungsgericht dieses Schauspiel noch dazu nutzen, eine klarere Feinkonturierung vorzunehmen und wie wird sich der Innenminister (oder auch andere Regierungsmitglieder) in seinem zukünftigen politischen Auftreten zu dieser vorgeworfenen Grenzüberschreitung verhalten?
Danke für den informativen Bericht! M.E. muss das Gericht sich intensiver mit der von Gärditz aufgeworfenen Frage beschäftigen, ob es nicht einen kardinalen Unterschied zwischen (idealerweise neutralen) Berufsbeamten und politisch/demokratisch gewählten Funktionsträgern gibt. Letzteren zu verbieten, dass sie sich in den demokratischen Diskurs begeben, scheint mir doch etwas aus der Zeit gefallen.
Demokratie ist zudem doch auch nicht nur Willensbildung von “unten nach oben”, sondern (nach meinem Verständnis) in beide Richtungen – anders wäre auch das Parteienprivileg kaum zu verteidigen, das in der Praxis doch mehr Willensbildung von oben nach unten ermöglicht als umgekehrt.
Wichtiger scheint aber noch die Frage zu sein, was genau ein “Eingriff in den Parteienwettbewerb” darstellt (und was nicht). Ein Interview eines BM auf einer Ministeriumshomepage schränkt den Parteienwettbewerb ein? Ernsthaft?
Wieso können Parlamentarier oder Fraktionen Grundrechte als spezifisch parlamentarische Rechte im Organstreit gerichtlich geltend machen, oder was sollen hier sonst für spezifisch parlamentarische Rechte als verltzt eingeklagt sein?
Sollen sich jetzt zukünftig eine Regierung und deren Mitglieder im Parlament gegenüber der Opposition stets parlamentarisch neutral verhalten und äußern müssen und umgekehrt?
(“Politisches Schauspiel”, wie es im Beitragl bezeichnet war, kann es vielleicht treffen).