Von betrunkenen Autofahrern und müden Checklisten-Abhakern
Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal ein Landgericht daran erinnern müssen, dass der Richtervorbehalt nicht nur zu Dekorationszwecken in der Strafprozessordnung steht.
Es ging um eine betrunkene Autofahrerin, die von der Polizei zur Blutentnahme mit aufs Revier genommen wurde. Eine richterliche Entscheidung dazu gab es nicht, und das fand das LG Nürnberg-Fürth auch ganz in Ordnung so, weil sonst die Beweissicherung gefährdet gewesen wäre – wofür es im konkreten Fall aber offenbar überhaupt keinen Anhaltspunkt gab, außer dass der Richtervorbehalt halt generell kollossal nervt.
Von Verfassungs wegen ist sicherzustellen, dass die Fachgerichte den ihnen vorliegenden Einzelfall prüfen und nicht aus generellen Erwägungen den Richtervorbehalt „leer laufen“ lassen,
mahnt die 1. Kammer des Zweiten Senats die Nürnberger Landrichter.
Der Richtervorbehalt nervt in der Tat kollossal, das kann ich schon verstehen. In 99 von 100 Fällen ist er eine reine Routineübung, eine bürokratische Pirouette, die keinem Beteiligten irgendetwas bringt. Und gerade deshalb ist die Gefahr groß, dass im 100. Fall, wo tatsächlich etwas faul ist, keiner hinschaut. Das Dilemma kennt man von allen möglichen Security- und Compliance-Regularien, wo es seitenlange Checklisten gibt, deren Abhaken so sehr zur Routine wird, dass man am Ende weniger achtgibt statt mehr.
Aber solange niemand eine bessere Idee hat, wie man den 100. Fall in den Griff bekommt, muss es jemand geben, der dem Mann mit der Checkliste auf die Finger haut, wenn er zu schlampen anfängt. Und das wäre in unserem Fall das Landgericht gewesen. Das jetzt halt selber was auf die Finger bekommt.
Schon komisch, wie die Kammer eine substanzielle Aussage über das Verhalten des Landgerichts trifft, die Verfassungsbeschwerde aber ablehnt und damit eine Beschäftigung des Senats umgeht. Oder bekomme ich hier was in den falschen Hals?
Man braucht ja nicht unendliche Sicherheitsmechanismen – absolut sichere Sicherheit läßt sich auch nicht mit den Instrumenten und Institutionen des Rechts durchsetzen – und das BVerfG erfüllt seine Wächterfunktion auch über das Recht ganz gut. Aber die Kammerpraxis ist schon irriterend.
In der Lissabonentscheidung stand übrigens was davon, daß Effizienz kein ausreichendes Kriterium der Legitimität ist. Zugegeben: ein einseitiger und vereinfachender Tritt gegen die Output-Legitimisten. Trotzdem!
Hä?
Die Verfassungsbeschwerde ist durchgegangen, das Urteil ist aufgehoben. Halt nur teilweise, weil der andere Teil unbegründet war. Hat mit Kammer- oder Senatsentscheidung aber nix zu tun.
Nachtrag: Die Passage aus der Lissabon-Entscheidung. Das Zitat ist im Kontext der Strafrechtspflege als substanziellem Gestaltungsbereich staatlicher Hoheitsmacht gefallen: „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum“ (S. 410).
Na, ich hab es mir schon fast gedacht, daß ich das falsch verstanden hatte…
Lag wohl daran, daß ich davon ausging, die Kammern übernehmen lediglich eine Vorprüfung und befinden über Annahme und Ablehnung. Die Entscheidung in der Sache bliebe dann dem Senat vorbehalten.
In dem Satz aus dem Lissabon-Urteil geht es um ganz was anderes, da geht es um die Kompetenzübertragung nach Brüssel im Bereich des Strafrechts und um die Grenzen des Arguments, die sei nötig, damit man die internationale Kriminalität besser bekämpfen kann. Da irgendwas für den Richtervorbehalt draus abzuleiten, halte ich für abwegig.
Mach ich doch gar nicht! Deswegen plädiere ich jetzt mal kurz für einen wohlwollenden Verständnisvorbehalt.
Der Satz sagt etwas darüber aus, wie weit das Kriterium der Effizienz der Politikgestaltung dazu herangezogen werden kann, um etwas über die Legitimität der Politik zu erfahren. Der Lissabon-Entscheidung zufolge ist Effizienz ein untergeordnetes Kriterium, welches nicht durch Input-Legitimität ersetzt werden kann.
[…] Abs. 2 StPO 2 BvR 1046/08 war u.a. Gegenstand der Berichterstattung nicht nur bei uns, sondern auch hier und […]