07 October 2022

1.3 Billionen Euro Kriegsreparationen an Polen

Warum nicht den IGH entscheiden lassen?

Die polnische Regierung fordert Reparationen von Deutschland zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs. Mal wieder. Doch dieses Mal scheint es der polnischen Regierung ernster als bisher. Ausdruck davon ist die Formalisierung der Forderungen in einer diplomatischen Note, die dieser Tage das deutsche Außenministerium erreichen soll. Das erneute Aufbringen der Thematik beruht auch auf einem dreibändigen Gutachten, in welchem die Schäden auf 1,352,483 Millionen Euro taxiert werden. Ein dafür eingesetztes parlamentarisches Gremium hatte dieses Gutachten im September vorgestellt. Auch wenn Zweifel an der wissenschaftlichen Integrität der Beteiligten angebracht sind, die nach eigener Bekundung von einem „mutual sense of duty to their country” inspiriert waren (Editor’s Preface) und im Übrigen auch „countless patriotically-minded persons among Poland’s authorities as well as the country’s public“ (Vorwort von Jarosław Kaczyński) umfassen, liefert es eine umfassende Bestandsaufnahme und Dokumentation der Kriegsfolgen auf polnischer Seite.

Eine rechtliche Bewertung findet sich – jedenfalls nach erstem Überfliegen der 1300 Seiten – nicht. Lediglich in der Einleitung nimmt Jarosław Kaczyński auf ein „full and incontrovertible right to claim reparations“ und moralische Überlegungen Bezug („grounds of an elementary sense of justice and historical truth“). Die einschlägigen rechtlichen Argumente der polnischen Seite sind aber aus früheren Stellungnahmen und parlamentarischen Gutachten bekannt, ebenso wie diejenigen der deutschen Regierung.

Die Position der Bundesregierung

Die Position der Bundesregierung ist denkbar klar. Reparationen wurden zunächst erbracht. Polen hat mehrmals auf weitere Zahlungen verzichtet. Im Übrigen ist alles verjährt und dann ist da ja auch noch der Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der darauf abzielt eine abschließende Friedensregelung zu schaffen, die gerade keine weiteren Reparationen vorsieht. Erinnerungskultur, Aussöhnung und sogar Zahlungen an Einzelne, durch die dafür eingerichtete Stiftungen, ja – aber bitte keine neuen Forderungen, schon gar nicht in dieser Größenordnung.

Die rechtlichen Argumente wurden in mehreren Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zusammengefasst (insbesondere hier und hier), teilweise auch in anderen Kontexten verwendet (Beispiel: Griechenland) und auch in der aktuellen Diskussion von Seiten des Auswärtigen Amtes und der Bundesregierung wiederholt. Nach Bundeskanzler Olaf Scholz sei „diese Frage völkerrechtlich abschließend geregelt“.

Es ist komplizierter

Nach den Regeln zur völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit, die auch Schadensersatz als Rechtsfolge kennen, bedarf es zunächst eines Völkerrechtsverstoßes. Anders als bei weiter zurückliegenden Sachverhalten im Kontext deutscher Kolonialverbrechen kann ein solcher Rechtsverstoß mit vergleichbar geringem Aufwand begründet werden. Das Gewaltverbot war seit dem Kellog-Briand Pakt (1928), zu dessen Unterzeichnern auch das Deutsche (1928) und Polen (1929) gehörten, ausreichend gefestigt. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 (Erweiterung: 1907) hatte Deutschland im Jahr 1909 und Polen im Jahr 1925 ratifiziert. Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht durch SS und Wehrmacht in Polen sind (wohl) unbestritten. Zudem sah die Landkriegsordnung auch bereits Vorschriften zum Schutz der Bevölkerung in besetzten Gebieten vor (Art. 42 ff.).

Das Vorliegen eines Völkerrechtsverstoßes wird von Seiten der deutschen Regierung bisher auch nicht bestritten. Eher noch wird auf formale Hindernisse verwiesen. So geht ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags von 2017 davon aus, es habe im Völkerrecht noch bis 1945 einer konstitutiven vertraglichen Festlegung von Kriegsreparationen bedurft und eine solche liege nicht vor. Spätere Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste sehen die vertragliche Grundlage dann aber im Potsdamer „Abkommen“ von 1945 (zur zweifelhaften Rechtsnatur allerdings: hier und hier). Unabhängig davon ist das Argument, dass ein Friedensvertrag notwendig sei, der konstitutiv Reparationsforderungen regelt, zweifelhaft. Die in dem Gutachten zitierte Quelle trägt diese Ansicht nicht und bezieht sich nur auf die Friedensvertragspraxis vor Abschluss des Briand-Kellogg Paktes (z.B. Versailler Verträge). Zu dieser Zeit war es natürlich notwendig, mangels anderweitiger Rechtsgrundlage Reparationspflichten durch Friedensverträge zu begründen. Zwar werden Ansprüche auf Ersatz von Kriegsschäden auch heute noch häufig in Abkommen konkretisiert, wie die aktuelle Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Falle Armed Activities on the Territory of Congo zeigt, kann eine entsprechende Festlegung aber auch gerichtlich erfolgen.

Ist die Kriegsschuld „beglichen“?

Komplexer wird es bei der Frage, ob die Reparationsforderungen bereits beglichen wurde. Tatsächlich wurden Reparationen nach den Potsdamer Vereinbarungen von 1945 (Abschnitt 4 Nr. 2) auch zur Wiedergutmachung polnischer Schäden zunächst in Form von Naturalleistungen an die Sowjetunion erbracht. Vertraglich wurde dies in einem Abkommen vom 16. August 1945 zwischen der Sowjetunion und Polen geregelt. Letztlich hing es damit aber vom guten Willen der Sowjetunion ab, ob und wenn ja wie viel an Polen weitergeleitet wurde. Entsprechende Nachzahlungen müsste Polen aber gegenüber Russland geltend machen. Neben den offensichtlichen tatsächlichen Hürden stehen solchen Forderungen auch die 1957 erfolgte polnische Anerkennung der Erfüllung der Zahlungspflichten durch die Sowjetunion entgegen.

Diese Anerkennung stellt aber nicht notwendigerweise einen Verzicht auf Forderungen gegenüber Deutschland dar, sondern betrifft primär das Binnenverhältnis. Auch der Höhe nach dürften die von der Sowjetunion an Polen weitergeleiteten Summen kaum den aktuellen Forderungen entsprechen. Sind also noch Rechnungen offen?

Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag als abschließende Regelung – aber nicht zwischen Deutschland und Polen

Gerne verweisen deutsche Regierungen in der Diskussion um Reparationszahlungen, die den Zweiten Weltkrieg betreffen, auf den Zwei-Plus-Vier-Vertrag (1990). Dieser sollte eine endgültige Friedensregelung herbeiführen – allerdings nur zwischen der Bundesrepublik und der DDR „plus“ den vier Siegermächten Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den USA. Reparationsforderungen wurden darin nicht vorgesehen. Stillschweigend ging man aber von einer endgültigen Regelung im Sinne eines Verzichts aus.

Nun kennt auch das Völkerrecht den pacta tertiis Grundsatz: Kein Vertrag zu Lasten Dritter (Art. 34 WVRK). Damit konnten die vier Siegermächte zwar auf eigene Entschädigungsrechte verzichten, nicht aber auf solche des unbeteiligten Polens. Teile der deutschen Rechtswissenschaft treten dem mit dem Argument entgegen, der Zwei-Plus-Vier-Vertrag sei ein sogenannter Statusvertrag, der ein territoriales Sonderregime beinhalte und ausnahmsweise auch Rechtswirkungen zu Lasten Dritter entfalte. Diese Argumentation kann aber im Hinblick auf die Schadensersatzforderungen Dritter kaum überzeugen. Zunächst ist die Figur des Statusvertrags und auch die weitergehende Idee objektiv-rechtlicher Vertragsregime hochgradig umstritten und nur für bestimmte Sonderkonstellationen anerkannt (z.B. Rechtsstellung der UN gegenüber Nicht-Mitgliedsstaaten). Jedenfalls betrifft die abschließende (Nicht-)Regelung der Reparationsfrage, nicht den Status der Bundesrepublik und kann damit nicht von einer eventuell zulässigen Drittwirkung profitieren.

Bleibt die Frage, ob Polen den nachteiligen Rechtswirkungen des Zwei-Plus-Vier-Vertrags vielleicht selbst zugestimmt hat. Mit einer solchen Zustimmung sind nachteilige Rechtswirkungen gegenüber Dritten ausnahmsweise zulässig (Art. 35 WVRK). Eine solche Zustimmung wird teilweise in die Charta von Paris hineingelesen. Die dort zum Ausdruck gebrachte bloße Kenntnisnahme des Zwei-Plus-Vier-Vertrags stellt aber kaum die nach Art. 35 WVRK erforderliche „ausdrücklich[e]“Annahme einer Verpflichtung „in Schriftform“ dar. Auch weil der Zwei-Plus-Vier-Vertrag inhaltlich gar nicht auf Reparationen eingeht (siehe dazu umfassend Fischer, S. 1017).

Wirksamer Verzicht?

In der (deutschen) Völkerrechtswissenschaft werden noch eine ganze Reihe anderer Gründe vertreten oder jedenfalls diskutiert, die Reparationspflichten gegenüber Polen (und auch anderer Staaten wie insbesondere Griechenland) entgegenstehen könnten. Dazu zählen der Wegfall der Geschäftsgrundlage, die tatsächliche Befriedigung durch Gebietsabtretung, die Verjährung und auch die Verwirkung. Die Bundesregierung beruft sich bisher primär auf einen möglichen Verzicht. Ein solche Erklärung kann als einseitiger selbstständiger Rechtsakt Rechtswirkungen entfalten und wäre auch für die Frage nach einer möglichen Verwirkung relevant.

So hat die damalige polnische Regierung am 23.8.1953, was auch die heutige polnische Regierung nicht bestreitet, erklärt „mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten“. Was die heutige polnische Regierung aber bestreitet, ist die Wirksamkeit dieser Verzichtserklärung. Verkürzt bringt die polnische Seite im Sejm Gutachten folgende Argumente vor: Die Verzichtserklärung habe die damals geltende polnische Verfassung verletzt. Für die Ratifizierung und Kündigung völkerrechtlicher Verträge sei nicht der handelnde Ministerrat zuständig gewesen, sondern der Staatsrat. Zudem sei die Erklärung unter erheblichem Druck von Seiten der UdSSR abgegeben worden. Schließlich habe sich die Erklärung nur auf die DDR bezogen, nicht auf Gesamtdeutschland.

Tatsächlich lassen sich aus dem Völkerrecht Nichtigkeitsgründe für einseitige Erklärungen entnehmen. In entsprechender Anwendung der Regeln zum Vertragsschluss kann eine Willenserklärung nichtig sein, wenn sie unter Zwang erfolgte (Art. 51 f. WVRK), oder wenn wesentliche Vorschriften des innerstaatlichen Rechts verletzt wurden und dies für die andere Seite „offenkundig“ war (Art. 46 WVRK). Keiner der beiden Nichtigkeitsgründe dürfte hier einschlägig sein.

Politischer und wirtschaftlicher Druck führt nämlich nach den völkerrechtlichen Regelungen grundsätzlich nicht zur Unwirksamkeit eines Vertrags. Zwang auf einzelne polnische Regierungsvertreter im Sinne einer Nötigung (Art. 51 WVRK) wird auch von polnischer Seite nicht behauptet. Zwang gegen den polnischen Staat als solchen (Art. 52 WVRK) führt nur bei Anwendung oder Androhung von Gewalt zur Nichtigkeit des Vertrags beziehungsweise hier des Verzichts.

Auch wenn ein Verstoß gegen die polnische Verfassung vorläge, was hier nicht abschließend beurteilt werden kann, ist dieser kaum „offenkundig“. Art. 25 I Nr. 7 der polnischen Verfassung von 1952 verlangt zwar, dass der Staatsrat „internationale Verträge“ ratifiziert und kündigt – von der Abgabe eines Verzichts (einseitiger Rechtsakt) steht dort allerdings nichts.

Wenig überzeugend ist schließlich die These, der Verzicht sei nur gegenüber der DDR erklärt worden. Bereits der Wortlaut der Erklärung („Deutschland“) deutet eher daraufhin, dass „Gesamtdeutschland“ gemeint war und nicht der „sozialistische Bruderstaat“. Schließlich wurde der Verzicht aus Anlass des Abschlusses des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen von 1970 durch den damaligen stellvertretenden Außenminister gegenüber der Bundesrepublik bestätigt (siehe: Fischer, S. 1035 m.w.N.). Diese Auffassung ist im Übrigen nicht Ausfluss einer deutschen Voreingenommenheit, sondern wird auch von polnischen Rechtsgelehrten geteilt (siehe: Saganek, S. 100 ff.; Kranz, S. 362 f.).

Eine andere Frage ist, worauf Polen genau verzichtet hat. Nur auf eigene Ansprüche, die sich aus dem Verstoß gegen das Gewaltverbot und den Potsdamer Abkommen ergeben, oder auch auf alle Ansprüche der Opfer von Kriegsverbrechen? Für ersteres spricht, dass Polen in späteren Abkommen explizit auch auf Schadensersatzansprüche seiner Bürger:innen verzichtete und sich entsprechende Klauseln auch in anderen Vertragstexten aus dieser Zeit nachweisen lassen (Kranz, S. 365). Selbst wenn man dieser Argumentation folgt, dürfte dies aber nur einen Bruchteil der von Polen genannten 1.3 Billionen Euro rechtfertigen, da sich die Summe auf alle Kriegsschäden bezieht. Die individuell Betroffenen erhalten im Übrigen bereits „freiwillige“ Leistungen aus den dafür von Deutschland eingerichteten Stiftungen und Fonds, verzichten damit aber auch umfangreich auf die Geltendmachung weiterer Ansprüche (§ 16 EVZStiftG).

Zudem hat Polen selbst auf die Geltendmachung individueller Forderungen seiner Bürger:innen im Rahmen des diplomatischen Schutzes verzichtet. In einem deutsch-polnischen Notenaustausch von 1991 heißt es:

„Die Regierung der Republik Polen wird keine weiteren Ansprüche polnischer Bürger mehr geltendmachen, die sich aus einem Zusammenhang mit nationalsozialistischer Verfolgung ergeben könnten. Beide Regierungen sind sich darin einig, daß dies keine Einschränkung der Rechte von Bürgern beider Staaten bedeuten soll.“ (zitiert nach: Kranz, S. 367)

Das aktuelle Vorgehen der polnischen Regierung steht dazu offenkundig im Widerspruch.

Ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof – warum eigentlich nicht?

Ein gerichtliches Verfahren vor einem internationalen Gericht kann Polen in diesem Fall nicht erzwingen. Die Bundesrepublik hat sich zwar der Jurisdiktion des IGH generell unterworfen (Art. 36 II IGH-Statut), diese Unterwerfungserklärung gilt aber nicht für Streitigkeiten, die vor dem 30. April 2008 entstanden sind oder sich auf Sachverhalte und Fakten vor diesem Datum beziehen. Deutschland könnte sich aber freiwillig einem Verfahren stellen. Stellt sich nur die Frage, ob ein solcher Rechtsstreit sinnvoll wäre.

Wenn die Bundesregierung tatsächlich so sehr von ihren rechtlichen Argumenten überzeugt ist, wie sie dies in der Öffentlichkeit kundtut – warum eigentlich nicht? Ein gerichtliches Verfahren würde die aufgezeigten Rechtsfragen abschließend klären, damit auch zur Konsolidierung des Völkerrechts beitragen und letztlich die „Rule of International Law“ stärken. Zudem würde es der Prawo i Sprawiedliwość (PiS; deutsch: Recht und Gerechtigkeit), die mit den Reparationsforderungen aus innenpolitischen Gründen Stimmung zu machen scheint, etwas Wind aus den Segeln nehmen. Eine entsprechende Entscheidung des IGH wäre zwar nicht bis zur polnischen Parlamentswahl im Herbst 2023 zu erwarten. Lässt sich Deutschland auf ein Verfahren ein, könnte dies aber die Bereitschaft zur weiteren Aussöhnung signalisieren.