Offener Zugang zu öffentlichem Recht
Anfang März 2020, als die Pandemie gerade ankam in Deutschland, standen die Behörden vor einem Dilemma: Was, wenn die Veranstalter zwangsweise abgesagter Massenveranstaltungen Entschädigung verlangen? Wenn sie die Rechnung für ihr entgangenes Geschäft an den Staat weiterreichen, der ihnen schließlich den Verzicht darauf durch hoheitliche Anordnung befohlen hat? Steht nicht in § 65 Infektionsschutzgesetz, dass Anspruch auf Entschädigung hat, wer durch eine seuchenpolizeiliche Maßnahme einen „nicht nur unwesentlichen Vermögensnachteil“ erleidet? Und wenn das so ist – kann man Maßnahmen mit solch unabsehbaren fiskalischen Folgen überhaupt verantworten? Umgekehrt: kann man verantworten, dass die Zahlen explodieren, während man erst mal ein staatshaftungsrechtliches Gutachten in Auftrag gibt?
Es war ein Zugangsproblem, das die Behörden in dieser frühen Phase der Pandemie hatten – ein Problem mangelnden Zugangs zu rechtswissenschaftlichem Wissen. Wen sollte man um Auskunft fragen? Wer kannte sich überhaupt aus im Infektionsschutzrecht, diesem obskuren Rechtsgebiet, zu dem es nur spärlich Forschung, Rechtsprechung und Praxis gab? Wie sonst üblich bei den Gesetzeskommentaren Rat zu suchen, war vergebens, die gaben nicht viel Brauchbares her. Abzuwarten, bis der juristische Fachdiskurs von alleine in die Gänge kommt, fehlte die Zeit. Was tun?
Wir schickten eine Email an Matthias Cornils, Professor für öffentliches Recht in Mainz. Der ist zwar eigentlich vor allem als Medienrechtsexperte bekannt, aber immerhin ist er Co-Autor des Lehrbuchs von Fritz Ossenbühl zum Staatshaftungsrecht. Also: einen Versuch war es wert. Wir fragen auf gut Glück, ob er uns ein Interview dazu geben wolle. Er lehnte ab. Aber dafür hatten wir zwei Tage später einen Blogpost von ihm in der Inbox, der überzeugend zeigte, dass der Entschädigungsanspruch aus § 65 InfSchG für diese Konstellation nicht gemacht war. Er wurde innerhalb kürzester Zeit mehr als 10.000 mal gelesen (bis heute über 21.000 mal).
Ein Ventil
Das Zugangsproblem beschränkte sich nicht auf die Behörden, und es beschränkte sich nicht auf technische Fragen an der Schnittstelle von Infektionsschutz- und Staatshaftungsrecht. Die Nachfrage der breiten Öffentlichkeit nach rechts- und verfassungswissenschaftlicher Einordnung und Einschätzung der Pandemiesituation und des zur ihrer Eindämmung diskutierten exekutiven und legislativen Tuns und Unterlassens war jäh und massiv angestiegen und traf auf ein Angebot, das in keiner Weise darauf vorbereitet war, sie zu stillen – nicht so sehr, weil das nachgefragte Wissen nicht vorhanden war, sondern weil es in den hergebrachten wissenschaftlichen Publikationskanälen seinen Weg nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig in die Öffentlichkeit fand. Der dadurch entstehende Unterdruck fand sein Ventil nicht zuletzt im Verfassungsblog.
Wir hatten in der ersten Welle der Pandemie, zwischen März und Mai 2020, auf unserer Website einen regelrechten Dammbruch zu verzeichnen, sowohl was den Output an Texten, als auch was die Zahl von Zugriffen von Leser_innen angeht. Die Zahl der Besucher_innen auf verfassungsblog.de schnellte von 80.000 im Februar auf 237.000 im März hoch, ging im April noch einmal weiter nach oben, bevor sie sich dann wieder normalisierte, wenngleich auf deutlich höherem Niveau als vorher.
Waren vor dem Frühjahr 2020 drei veröffentlichte Artikel am Tag schon viel, hatten wir plötzlich Tage mit sechs oder sieben Artikeln. Auch dieser Pegel ist seit seinen Höchstständen im Frühjahr 2020 wieder zurückgegangen, liegt aber immer noch weit über dem vorherigen Normalniveau. Uns haben in der Zeit auch deutlich mehr Texte als sonst erreicht, unsere Postfächer quollen über und wir kamen mit der Sichtung und Redaktion der Beiträge kaum hinterher.
Die Spuren dieses Dammbruchs lassen sich auch in den Gerichtsurteilen dieser Zeit im Kontext der Pandemie ablesen. Dass Gerichte ihre Argumentation auf rechtswissenschaftliche Gedanken aus dem Verfassungsblog stützen und den Verfassungsblog entsprechend zitieren, war bis dahin eher die Ausnahme gewesen. Sich wie sonst auf die gängigen Zeitschriften und Kommentare zu stützen, war aber in der Corona-Situation keine Option. Viele der maßgeblichen theoretischen Positionen, die man als Gericht zur Unterfütterung seiner Schlussfolgerungen heranziehen konnte, waren schlicht auf dem Verfassungsblog und nirgends sonst veröffentlicht worden (Beispiele hier, hier und hier).
Bis die wissenschaftlichen Zeitschriften mit ihren wochen- und monatelangen redaktionellen Routinen so weit waren (von den Kommentaren ganz zu schweigen), waren die richtungweisenden Urteile und Beschlüsse längst gefällt. Die justizielle Zitationspraxis hat sich, wie vor ihr schon die wissenschaftliche, nachhaltig geändert. Heute sind Verfassungsblog-Zitate in Gerichtsurteilen auch außerhalb des Corona-Kontexts keine Seltenheit mehr, das Bundesverfassungsgericht eingeschlossen.
Ähnliches gilt für den politischen Raum. Als der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags Anfang April 2020 für die Parlamentsabgeordneten ermitteln sollte, ob die Ende März beschlossenen neuen Verordnungsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz verfassungskonform waren, stand ihm als auswert- und zitierbare Literatur im Wesentlichen der Verfassungsblog zur Verfügung. Dort hatten Thorsten Kingreen, Pierre Thielbörger und Benedikt Behlert sowie Christoph Möllers die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministers untersucht und massive Bedenken angemeldet, und das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes zitiert ganze wörtliche Passagen daraus. Auch das zeitgleich veröffentlichte Gutachten zum Thema Ausgangssperren stützt sich vornehmlich auf wissenschaftliche Blogposts.
In beide Richtungen
Warum konnten wir eine Lösung für das oben beschriebene Zugangsproblem anbieten und andere, ungleich etabliertere und besser ausgestattete und im juristischen Wissenschaftsbetrieb tiefer verankerte Publikationshäuser nicht? Was eigentlich schon vorher klar war, hat die Corona-Pandemie uns in den Nutzungsstatistiken deutlich vor Augen geführt: Der (rechts)wissenschaftliche Diskurs ist kein reiner Binnendiskurs. Gerade die Rechtswissenschaft ist nicht nur auf vielfältige Weise mit der Praxis verwoben, sondern auch mit dem politischen Raum und somit auch mit der allgemeinen Öffentlichkeit. Als im März und April 2020 ein großer Teil der Bevölkerung zu Hause saß und sich fragte: „Was passiert hier eigentlich?“, war auch der Bedarf nach rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Erklärungen, Antworten und Einordnungen groß. In der Pandemie war dieser Bedarf besonders fokussiert, aber wir sehen ihn auch sonst. Bei bestimmten Themen merken wir, wie Menschen, die am juristischen Expert_innendiskurs sonst womöglich gar nicht teilhaben, auf der Suche nach Informationen auf den Verfassungsblog stoßen. Das sind dann vermutlich nicht immer unsere typischen Leser_innen, aber mutmaßlich solche, die Zugang zu Expertise suchen und ihn jenseits der Google-Suche nicht oder kaum finden.
Unsere Funktion, Zugänge zu öffnen, wirkt in beide Richtungen. Als frei zugängliche Plattform bietet der Verfassungsblog den Autor_innen eine größere Reichweite als traditionelle Publikationen und eine Plattform, auf der sie auf aktuelle öffentliche Nachfrage nach ihrer Expertise schnell reagieren und ihr Wissen in den politischen Diskurs einspeisen können. Als public intellectual in der Öffentlichkeit zu stehen, liegt zwar sicherlich nicht jeder Rechtswissenschaftler_in gleichermaßen und kann durchaus Fallstricke mit sich bringen – es erhöht aber zweifellos die Sichtbarkeit und Effektivität rechtswissenschaftlicher Forschung, schon gar im Vergleich zu einer Debatte, die als reiner Binnendiskurs von Rechtswissenschaftler_innen für Rechtswissenschaftler_innen in exklusiven closed access-Medien geführt wird.
Wir bekommen deutlich mehr Texte zugeschickt als wir veröffentlichen können. Unsere Ablehnungsrate liegt in den meisten Wochen zwischen 30 und 50%. Dabei ist unsere Haltung nicht die, dass wir anstreben, uns aus dem Eingangskorb eine möglichst exklusive Auswahl herauspicken zu können. Ohnehin akquirieren wir einen nicht geringen Teil der Texte aktiv, indem wir Autor_innen, von denen wir vermuten oder wissen, dass sie zu einem aktuellen Thema etwas zu sagen haben, von uns aus kontaktieren. Aber auch, was die unverlangt eingereichten Manuskripte anbelangt, wollen wir den Zugang möglichst offen halten. Abgelehnt werden insbesondere Texte, die sich entweder mit bereits Veröffentlichtem zu sehr überschneiden oder keinen Ansatz erkennen lassen, wie sie noch zu einer interessanten und lohnenswerten Geschichte entwickelt werden können. Wenn wir einen solchen Ansatz sehen, dann investieren wir in die Entwicklung der Manuskripte viel Mühe. In oftmals zwei, manchmal sogar drei Redaktionsschleifen versuchen wir in enger Absprache mit den Autor_innen, aus den Texten das Beste herauszuholen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bekommen wir von den Autor_innen fast immer gespiegelt, dass sie sowohl den Prozess als auch das Ergebnis zu schätzen wissen.
Offener Zugang zu Öffentlichem Recht
Die Corona-Erfahrung war nicht der einzige, aber der ausschlaggebende Anstoß für uns, uns dem Thema Open Access zuzuwenden und der Frage nachzugehen, warum dieses Thema ausgerechnet in der Rechtswissenschaft in Deutschland bisher so wenig Resonanz erfährt und was wir als Verfassungsblog dazu beitragen könnten, daran etwas zu ändern. Um das herauszufinden, haben wir uns unter dem Projekttitel „Offener Zugang zu öffentlichem Recht“ beim Bundesministerium für Bildung und Forschung erfolgreich um Fördermittel beworben. Das Online-Symposium, das wir mit diesem Beitrag eröffnen, ist der erste Ertrag dieses Projekts.
Wir waren bereits ein Platinum-Open-Access-Medium, lange bevor wir die entfernteste Ahnung hatten, was das überhaupt ist. Bei uns gibt es keine Bezahlschranken und keine exklusiven Nutzungsrechte. Was wir veröffentlichen, ist frei zugänglich, dauerhaft auffind- und zitierbar und ohne Kosten für Leser_innen wie für Autor_innen. Wir haben, anders als herkömmliche Publikationsorgane, keinerlei Anreiz, den Zugang zu den Erträgen rechtswissenschaftlichen Forschens und Nachdenkens in irgendeiner Weise zu kanalisieren und einzuschränken – im Gegenteil. Auf unsere Kosten kommen wir auf andere Weise: durch die Unterstützung derer, die ein unmittelbares Interesse an unserer Arbeit und unserer Existenz haben, nämlich durch Crowdfunding unserer Leser_innen und Kooperationen mit rechtswissenschaftlichen Institutionen.
Kann das ein Modell für die Publikation rechtswissenschaftlicher Erträge generell sein? Das wollen wir herausfinden. In einem ersten Schritt wollen wir erkunden, wo auch und gerade in der Pandemiesituation überhaupt Zugangsprobleme in der Rechtswissenschaft existieren und wahrgenommen werden. Dazu veröffentlichen wir in dieser Woche eine Reihe von Artikeln im Rahmen dieses Online-Symposiums.