Generation Action
Es ist zum Verzweifeln. Die Pandemie, die nicht enden will, der Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, und der sich noch über Jahre ziehen könnte, Gasknappheit, Hitze, Dürre, Wasserknappheit, Wirtschaftskrise vor der Tür, die toxische Beziehung mit dem autoritären Populismus, die in den USA einen neuen Tiefpunkt erreicht hat und für die Zukunft noch Schlimmeres erwarten lässt. All das sind Dinge, die nicht nur die Gegenwart trüben, sondern auch die absehbare Zukunft düster erscheinen lassen. Aber es gibt ihn, den Lichtblick, und zwar in Form von Menschen, die mit ihrer Energie die Hoffnung wecken, dass es wieder besser werden kann. Es waren solche Menschen, mit denen ich in Groningen den Freitag verbringen durfte.
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Zwei Volljurist*innen für Justitiariat der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen gesucht
Das Justitiariat unterstützt und berät die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen in Rechtsfragen. Zur Verstärkung unseres Teams suchen wir schnellstmöglich zwei Jurist*innen (m/w/d) für folgende Stellen: eine Stelle für die rechtliche Beratung von Abgeordneten in Untersuchungsausschüssen, die zweite Stelle für die rechtliche Prüfung und Erarbeitung parlamentarischer Vorlagen.
Hier geht es zur Stellenausschreibung.
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John Morijn hat am Freitag seine Antrittsvorlesung an der Rijksuniversiteit Groningen gehalten. Das allein ist ja schon Grund zum Feiern. Es war ein wirklich besonderes Ereignis in der altehrwürdigen Aula, mit strengem Zeremoniell, Männern und Frauen in Talaren, ehrfürchtiger Stille und andächtig lauschenden Gästen. John Morijn sprach über das Recht und die Politik zum Schutz der liberalen Demokratie, worüber auch sonst, seit Jahren setzt er sich unermüdlich genau dafür ein. Und sein Enthusiasmus ist übergesprungen. Vier seiner Studentinnen haben den feierlichen Akt zum Anlass genommen, noch etwas anderes zu feiern: die Rechtsstaatlichkeit und die Menschen, die sich für sie einsetzen. Vier junge Frauen, die gerade einmal im zweiten Jahr ihres Studiums sind und sich schon jetzt mit viel Energie und Kreativität für die Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Unsere Rechtsstaatlichkeit. Im vergangenen Herbst haben sie bereits ein Rule-of-Law-Festival organisiert und nun haben sie es geschafft, fast 200 ihrer Kommiliton*innen dazu zu bringen, sich zumindest einen Nachmittag lang mit dem Kampf für die Rechtsstaatlichkeit und gegen den Illiberalismus zu beschäftigen. Gekommen sind einige der prominentesten und mutigsten Kämpfer*innen gegen den Verfall der liberalen Demokratie in Polen, Ungarn und Europa, die den Studierenden von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen berichtet haben. Eines der Panel, das ich mir ansehen konnte, hatte den Titel Passing the Torch to the Next Generation: Rule of Law for Boomers, Millenials and Gen Z. Die Studierenden konnten hier von Kim Lane Scheppele, Akudo McGee, Adam Bodnar und Tomasz Posłuszny hören, was es für sie bedeutet, sich gegen illiberale Entwicklungen einzusetzen und sie fragen, was sie selbst tun können.
Mittlerweile sind sich ja so ziemlich alle einig, dass die Boomer es versemmelt haben. Man könnte es ihnen vielleicht noch nachsehen, weil die Welt, in der sie aufgewachsen sind, eine ganz andere war, worauf auch Kim Lane Scheppele hingewiesen hat. Vom Wirtschaftswunderkuchen konnten sie sich die saftigsten Stücke aussuchen und Nachschlag nehmen, bis keine Gürtellöcher mehr übrig waren, um sich vollgefressen Erleichterung zu verschaffen. Aber dass sie ihre alten Vorstellungen vom guten Leben in dieser neuen Welt rücksichtslos verteidigen und das auch noch mit der Attitüde des Großerben, der ganz im Ernst berichtet, wie hart er gearbeitet hat, um es zum Geschäftsführer im Familienunternehmen zu bringen, hat die Boomer sogar schon zum Meme werden lassen.
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Wissenschaftler/in (d/m/w) für das Projekt »Geostrategische Konkurrenz EU im westlichen Balkan« gesucht
Die SWP ist eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung, die auf der Grundlage eigener Forschung Bundestag und Bundesregierung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik berät. Wir suchen frühestens zum 1. September 2022 eine/n Wissenschaftler/in (d/m/w) für das Projekt »Geostrategische Konkurrenz EU im westlichen Balkan« in der Forschungsgruppe EU/Europa. Die Stelle hat einem Umfang von 100% und ist – vorbehaltlich der Mittelbewilligung – befristet bis zum 31.12.2023 zu besetzen.
Weitere Information über Aufgaben, Profil und Vergütung erhalten Sie hier.
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Die nachfolgenden Generationen haben sich allerdings auch eher mit Sahnecreme statt mit Ruhm bekleckert. Mit der Generation X wurde die Scheißegal-Punkerattitüde zur einfachen Scheißegalattitüde. Vom Kuchen war zwar nicht mehr ganz so viel übrig, aber doch immer noch genug, um sich sorglos mit sich selbst und seinem Yuppie- und Raver-Dasein beschäftigen zu können. Politische Slogans wurden zum Mittel, um sich lästiger Pflichten zu entledigen und unbeschwert über den Ku’Damm zu tanzen. Aber, wie Tomasz Posłuszny meinte, wem alles egal ist, für den entscheiden andere. Und dann kam meine Generation, die Generation Y, im Englischen ein cleveres Wortspiel, da diese Generation immerzu nach dem Warum fragt. Warum sollte ich mich krumm arbeiten? Warum sollte ich mich parteipolitisch engagieren, wenn ich mich mit so vielen Positionen nicht identifizieren kann? Warum sollte ich mich binden – an ein*e Partner*in, einen Job, eine (zivilgesellschaftliche) Gruppe –, wenn doch ohnehin nichts von Bestand und sicher ist? Aber welche Antworten hat meine Generation darauf gefunden? Rückzug. Möglichst viel mit möglichst wenig. Wir wissen, dass der Kuchen fast alle ist. Seit den späten Neunzigern folgte eine Krise auf die andere, die wir aber noch nicht so richtig zu spüren bekommen haben. Also schnell noch mitnehmen, was geht, wenn möglich, doch noch ein Haus kaufen oder zumindest mit Freunden einen Schrebergarten finden. Da sitzen wir dann, backen Sauerteigbrot, kramen Uromas Einweckgläser hervor, entdecken wieder, was der modernen Hausfrau und ihren Kindern mit Maggi und Dr. Oetker abhanden gekommen ist und hoffen, dass es für unsere Lebzeiten wenigstens noch reicht und wir die volle Breitseite nicht abbekommen werden.
Akudo McGee hat berichtet, dass sie in Polen viele Engagierte älterer Generationen kennengelernt hat. Sie sind es nämlich, die Gefahren für die Freiheit früher erkennen können als die Jungen, weil sie Muster wiedererkennen. Diejenigen, die heute in Polen anfangen Jura zu studieren, erzählt Adam Bodnar, die wissen gar nicht, wie eine unabhängige Justiz aussieht und was sie ausmacht, denn sie waren erst 14 oder 15 Jahre alt, als die PiS-Partei begonnen hat, sie zu zerlegen. Doch das Warnen und Informieren allein reicht nicht. Die Generation Z wird wohl die erste sein, die vor der leeren Tortenhaube steht und die ganze Wucht der neuen Welt voll zu spüren bekommen wird. Seien es Klimawandel oder schwindende Bürger*innenrechte, von all dem wird sie lange etwas haben. Die jungen Menschen flehen uns an, etwas zu tun, ihnen zuzuhören, sie ernst zu nehmen und ihnen zu helfen. Alleine können sie es nicht schaffen. Wir müssen unsere Ressourcen nutzen und sie ihnen zur Verfügung stellen, wenn sie mit ihren Anliegen zu uns kommen und um Hilfe bitten. So wie John Morijn das für seine Student*innen macht. Es sind die alten Generationen, die die toxische Beziehung mit dem autoritären Populismus eingegangen sind und sich in ihr einrichten oder erschöpft aufgeben. Aber wir dürfen uns nicht vergraben und hoffen, dass es schon nicht so schlimm wird für uns und noch viel weniger dürfen wir die Verantwortung auf die Jungen abschieben und erwarten, dass sie es schon richten werden. Die Verantwortung für die Welt von morgen tragen wir gemeinsam und wir alle müssen sie übernehmen. Ob es gelingt, die Welt von morgen zu einer besseren, für alle funktionierenden zu machen, weiß ich nicht, aber es nicht zu versuchen, wäre unerträglich.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Am Freitag hat der Bundestag das strafrechtliche Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch abgeschafft. Rechtlich interessant ist jetzt, wie es nach der Streichung des § 219a StGB mit dem Recht des Schwangerschaftsabbruchs weitergeht. ANNA LEISNER-EGENSPERGER gibt einen Überblick über das rechtspolitische Pulverfass des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs.
In Polen und darüber hinaus brach Anfang Juni ein Mediensturm wegen des sogenannten “Schwangerschaftsregisters” aus. Auf den ersten Blick scheinen die Argumente des polnischen Gesundheitsministeriums für das “Schwangerschaftsregister” vernünftig zu sein. KAROLINA KOCEMBA kontrastiert diese Argumente mit Präzedenzfällen und früheren Erfahrungen mit der Überwachung.
Am 1. Juni trat der von der Bundesregierung als Entlastung der Bevölkerung von hohen Energiekosten gedachte, auf drei Monate befristete Tankrabatt in Kraft. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck veranlasste das dazu, eine Verschärfung des kartellrechtlichen Wettbewerbsschutzes vorzuschlagen. Doch auch wer Sympathien dafür hat, Ölmultis zu entflechten und Übergewinne durch Kartellrecht abzuschöpfen, sollte Robert Habecks Vorschlag skeptisch sehen, meint THOMAS ACKERMANN. JÜRGEN KÜHLING findet, dass das missbrauchsunabhängige Entflechtungsinstrument – sofern es denn gut vorbereitet wird – als ultima ratio durchaus sinnvoll sein kann.
Mit seiner Entscheidung vom 15. Juni 2022 hat das Bundesverfassungsgericht Angela Merkels Kritik an der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 mit Hinblick auf die Neutralitätspflicht von Amtsträger*innen gerügt. MATHIAS HONG sieht in dem „Merkel-Urteil“ die verpasste Chance, den Willen zur Verfassung zu stärken: Das Gericht hätte klarstellen müssen, dass die Neutralitätspflicht die Verfassungsverteidigung unbeschadet lassen muss.
Mit Beschluss vom 22. Juli 2021 hat das Bundesverfassungsgericht über eine Nichtanerkennungsbeschwerde der Zentrumspartei entschieden. Die Begründung wurde nun knapp ein Jahr später veröffentlicht. Bemerkenswert ist, dass das Gericht der Ansicht ist, in diesem Verfahren sei – grundsätzlich – die Verfassungsmäßigkeit der streitgegenständlichen Normen nicht zu entscheiden. MARTIN MORLOK über einen seltenen Beschluss im Wahl- und Parteienrecht – und eine versteckte Mahnung an den Gesetzgeber.
Russland und seine starken Männer sollen buchstäblich für die Kriegsschäden in der Ukraine zahlen. Die Europäische Kommission schlägt vor, die Durchsetzung von Sanktionen mit unionsweit einheitlichen Strafandrohungen zu stärken und auf diesem Weg elegant zugleich einen Rechtsgrund für die Einziehung involvierter Vermögenswerte zu schaffen. FRANK MEYER erhebt sanktions-, unions- & strafrechtliche Bedenken gegen den Kommissionsvorschlag.
Symbole wie das “Z”, das “V” und das St.-Georgs-Band, die den Krieg Russlands unterstützen oder gutheißen, sind im öffentlichen Raum aufgetaucht. Dies hat die in vielen europäischen Rechtsordnungen bestehenden Bestimmungen zur wehrhaften Demokratie ins Rampenlicht gerückt, aber auch die Gesetzgeber in einigen Staaten dazu veranlasst, neue Bestimmungen zu erlassen, die die Verwendung solcher Symbole verbieten. DOVILĖ SAGATIENĖ, ANNA WÓJCIK & PAULA RHEIN-FISCHER vergleichen die rechtlichen Mechanismen in Litauen, Polen und Deutschland.
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Hybrid Conference: Access to Vaccines and Medical Care during Pandemics
TU Dresden and Stellenbosch University invite you to join us either in Dresden or online on the 11th of July to reflect on the Covid19 pandemic. We will examine, from the perspective of both the Global North and the Global South, whether existing legal concepts and frameworks, including their implicit ethical values, have proven successful in combating the pandemic. The focus will be intellectual property law, international law and constitutional law.
Please click here for further information.
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Nach den Parlamentswahlen und dem nationalen Referendum in Ungarn im April 2022 stellte die OSZE fest, dass der rechtliche Rahmen für die Durchführung eines demokratischen Plebiszits unzureichend war. Die Beobachter stellten mehrere Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelung fest und dokumentierten zahlreiche schwerwiegende Anomalien des Wahlsystems. VIKTOR Z. KAZAI erörtert die Rolle von Referenden unter Orbáns Regime.
Als Ursula von der Leyen noch für das Amt der Präsidentin der Europäischen Kommission kandidierte, erklärte sie feierlich: “Es kann keine Kompromisse geben, wenn es darum geht, die Rechtsstaatlichkeit zu respektieren. Es wird sie nie geben.” Für LAURENT PECH ist nun klar, dass dies nur Orwell’scher Doppelsprech war. Er nimmt Ursula von der Leyens rechtsstaatliches Appeasement gegenüber Polen ins Visier.
Am 21. Juni 2022 hat der Gerichtshof der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren über das Schicksal der Richtlinie über die Verwendung von Fluggastdatensätzen entschieden. Der EuGH hat die Richtlinie bis zur Unkenntlichkeit verändert und gleichzeitig ein Instrument der willkürlichen Überwachung aufrechterhalten. CHRISTIAN THÖNNES über einen rätselhaften Kompromiss, der eine Fülle neuer Fragen aufwirft.
TIMO ZANDSTRA & EVELIEN BROUWER erörtern das Europäische Reiseinformations- und -genehmigungssystem (ETIAS) und argumentieren, dass das System in seiner derzeitigen Form gegen das in Artikel 8 der Grundrechtecharta verankerte Recht auf Datenschutz verstößt, insbesondere im Lichte des Fluggastdatensätze-Urteils des EuGH von Anfang dieser Woche.
Die Konferenz zur Zukunft Europas – eine einjährige paneuropäische Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union, die sowohl Beratungen mit den Bürgern als auch eine interinstitutionelle Debatte über Empfehlungen in der Plenarsitzung umfasste – ging am 9. Mai mit der Vorlage eines Abschlussberichts mit 49 Empfehlungen und 329 konkreten Maßnahmen an die Präsidenten der drei EU-Institutionen zu Ende. PAUL BLOKKER wirft einen kritischen Blick auf die Konferenz und ihre Ergebnisse.
Am 21. Juni legten Meta und das U.S. Department of Housing and Urban Development einen Rechtsstreit bei, der einige der wichtigsten Ad-Targeting-Produkte von Meta aufgrund von diskriminierenden Ausschlüssen einschränken wird. RACHEL GRIFFIN zeigt, dass diese Klage ein Weckruf für die EU-Regulierungsbehörden sein sollte, die bei der Bekämpfung von Diskriminierung durch Targeted Advertising ins Hintertreffen geraten.
In Indien häufen sich die Abrisse von Häusern, die als Mittel zur außergerichtlichen Bestrafung von Andersdenkenden eingesetzt werden. So verlockend es auch ist, die jüngsten Abrisse als eine schockierende neue Entwicklung zu betrachten, in Wirklichkeit hat der Bulldozer die Konturen des Raums in Indien schon immer maßgeblich bestimmt. ANINDITA MUKHERJEE über die Flut von Wohnungsabrissen als außergerichtliche Bestrafung in Indien.
Auf den Philippinen gab es drei Verfassungen. Die zweite von 1973 verlieh dem vierzehnjährigen autoritären Regime von Präsident Ferdinand Marcos sen. einen Mantel der Legitimität. Seit dieser historischen Erfahrung sind die Philippinen mit Verfassungsreformen sehr zurückhaltend. MICHAEL HENRY YUSINGCO hat einige Ideen, wie der neue Präsident Ferdinand Marcos Jr. dieses tiefe Misstrauen gegenüber Verfassungsreformen überwinden könnte.
Der brasilianische Oberste Gerichtshof hat kürzlich die Verwendung von Cannabis sativa zu medizinischen Zwecken erlaubt – entgegen der Politik von Bolsonaro. Ein wichtiges Urteil, aber kein Fall von richterlichem Aktivismus, sagen EMILIO PELUSO NEDER MEYER, THOMAS BUSTAMANTE & DAVI TANGERINO.
Wenn man in der letzten Zeit den rechtspolitischen Diskurs verfolgt, Gesetze und Urteile liest und juristische Posts und Podcasts, Artikel und Monografien rezipiert, drängt sich eine Beobachtung auf: eine Hinwendung der Rechtwissenschaft zur Psychologie. Rezipiert die Rechtswissenschaft aktuell vor allem psychologische Begriffe und sozialtherapeutische Konzepte? Und wenn ja: Warum ist das so? Und wohin soll das führen? Diesen Fragen geht JENS KERSTEN nach.
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Ihre
Evin Dalkilic