Tanz um das geborene Kind
Der Schutz des ungeborenen Lebens und das Selbstbestimmungsrecht der Frau
Wie erwartet hat der Bundestag die Streichung des strafrechtlichen Werbeverbots für den Schwangerschaftsabbruch beschlossen. Als gemeinsames Vorzeigeprojekt der Ampelkoalition sollte die Streichung des § 219a StGB zu Beginn der Legislaturperiode rechtspolitischen Gleichklang in Fragen des Lebensschutzes suggerieren und einem Informationsdefizit schwangerer Frauen abhelfen. Inwieweit es ein solches gegenwärtig tatsächlich gibt, und ob für die Ärzteschaft Rechtssicherheit nicht auch auf anderem legislativem Weg hätte gewährleistet werden können, mag nach dem Federstrich des Gesetzgebers offenbleiben. Über die jetzt beschlossene Verortung grob anstößiger Werbung für Schwangerschaftsabbrüche im Heilmittelwerbegesetz – zwischen medizinischen Heilbehandlungen und kosmetischen Schönheitsoperationen – kann man rechtspolitisch diskutieren. Doch dürfte die Einstufung eines strafrechtlichen Werbeverbots als integraler Bestandteil eines grundgesetzlich garantierten Beratungskonzepts einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der aktuell erfolgten Novellierung kaum standhalten.
Rechtlich interessant ist daher jetzt allein, wie es nach der Streichung des § 219a StGB mit dem Recht des Schwangerschaftsabbruchs weitergeht.1) Denn dass inzwischen nicht nur gegenüber der Opposition, sondern auch innerhalb der Koalition die Fronten verhärtet sind, hat die erste Lesung im aktuellen Gesetzgebungsverfahren gezeigt: Während der Bundesjustizminister die Beratungslösung der §§ 218 ff. StGB als historischen Kompromiss lobte, an dem durch die Abschaffung des Werbeverbots nicht gerüttelt werden solle, ist diese für das Bundesfamilienministerium nur ein erster Schritt. Ihm sollen weitere folgen, insbesondere die Einlösung eines Versprechens aus dem Koalitionsvertrag: die Einsetzung einer „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung“, „die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches“ „prüfen wird“ (Koalitionsvertrag, S. 116).
Das Recht des Schwangerschaftsabbruchs als rechtspolitisches Pulverfass
Welche politische Brisanz eine Novellierung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs aufweist, zeigt bereits jetzt die Diskussion um das bevorstehende Ende von Roe versus Wade nach dem kürzlich erfolgten Leak: Immer noch weist das Recht des Schwangerschaftsabbruchs das Potenzial auf, Gesellschaften zu spalten. Wer aber hat ein Interesse daran, nachdem die Proteste der Coronaleugner vorübergehend verhallt sind, nun laufend mit Bildern von Märschen der Pro-life oder Pro-choice Bewegung konfrontiert zu werden? Für die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen, die uns in näherer Zeit bevorstehen, ist eine Gesellschaft, die in grundlegenden Fragen auf welchen Kompromiss auch immer geeint ist, eine unabdingbare Voraussetzung. Im Rückblick lässt sich daher der Wert der schlichtenden Funktion, die das BVerfG vor nahezu dreißig Jahren zu erfüllen vermochte, kaum überschätzen.
Die drei Säulen des bundesverfassungsgerichtlichen Schutzkonzepts
Aus verfassungsrechtlicher Sicht wird eine Novellierung an der Bindungswirkung der drei Entscheidungen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975, 1993 und 1998 nicht vorbeikommen. Sie mögen aus dem letzten Jahrhundert stammen und vorwiegend von alten weißen Männern verfasst worden sein. Doch entfalten ihre tragenden Gründe nach Art. 93 GG, § 31 BVerfGG Bindungswirkung für alle Gerichte und Behörden. Damit stecken sie den verfassungsrechtlichen Rahmen für legislative Novellierungen ab. Grund genug, das damals formulierte Schutzpflichtkonzept des BVerfG genauer unter die Lupe zu nehmen. Es fußt auf drei Säulen, von denen in der derzeitigen rechtspolitischen Diskussion die erste – die grundsätzliche Pönalisierung des Abbruchs – Gegenstand heftiger Kontroversen ist, die zweite – die Beratung der Schwangeren – seit längerem und zurecht ein Schattendasein fristet, und die dritte – präventive Maßnahmen des Lebensschutzes – zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Die wichtigste Aufgabe einer Kommission zur Prüfung möglicher Novellierungen des Schwangerschaftsabbruchs wird es daher sein, die Pönalisierungsdiskussion zu versachlichen, das Beratungsverfahren nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz am Maßstab des Untermaßverbots zu evaluieren und vor allem, die vom BVerfG aufgegebene Verpflichtung des Staates zu erfüllen, einer schwangeren Frau die Entscheidung für das Austragen des Kindes zu erleichtern.
Die festgefahrene Pönalisierungsdiskussion
Zu einer emotional geführten rechtspolitischen Diskussion ist in neuerer Zeit die Frage avanciert, ob das Strafrecht der richtige Standort dafür ist, den Konflikt zwischen der Austragungsverantwortung der Frau und ihrem Selbstbestimmungsrecht zu lösen. Hierzu hatte das BVerfG klargestellt, das Strafrecht sei „regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene grundsätzliche Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern“.2) Es hatte allerdings auch eine Tür für ein Absehen von einer Strafdrohung „in begrenztem Umfang“ offengelassen, wenn „verfassungsrechtlich ausreichende Schutzmaßnahmen anderer Art“ vorgesehen würden.3) Die vom BVerfG aufgeworfene, bei einer Novellierung logisch vorrangig zu beantwortende Frage, auf welchem rechtstechnischen Wege es möglich sein soll, von einer Strafdrohung „in begrenztem Umfang“ abzusehen, ist bislang ungelöst. Dafür wurden rechtspolitische Argumente für eine Regelung außerhalb des Strafrechts gesammelt – von einer strikten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bis zum Kampf gegen eine Kultur des Misstrauens gegenüber betroffenen Frauen und beteiligter Ärzteschaft. Studien zur spezifisch strafrechtliche Steuerungswirkung auf das Abbruchverhalten haben sich bislang als wenig aussagekräftig herausgestellt.4) Unergiebig sind in diesem Zusammenhang auch rechtsvergleichende Hinweise, da die konkrete Ausgestaltung einer Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und deren Einbettung in das jeweilige Lebensschutzkonzept eine zu hohe Variationsbreite aufweisen, als dass sie die Chance eines Makrovergleichs eröffnen würden.5) Unter rechtssoziologischem Blickwinkel lässt sich immerhin feststellen, dass die Straftatbestände des StGB gerade in den letzten Jahren zu einem Kommunikationsinstrument der Politik geworden sind, zu einem Weg, positiv-präventive Botschaften an die Rechtsgemeinschaft zu senden.6) Wenn aber der Gesetzgeber Straftatbestände novelliert, um dadurch Gefahren für Rechte weit geringerer Ranghöhe zu bekämpfen, indem er etwa Vorschriften des Tierschutzgesetzes in das StGB verschiebt,7) so lässt sich jedenfalls der Anschein einer Degradierung des Lebensschutzes – aus der Perspektive der Schwangeren wie auch der Ärzteschaft – nicht von vorneherein in Abrede stellen. Für die Effektivität des staatlichen Schutzkonzepts birgt eine Entpönalisierung daher zumindest ein gewisses Risiko.8) Zu einer für das Untermaßverbot relevanten Gefahr würde Entpönalisierung jetzt vor allem dadurch, dass die Kirchen angesichts nicht zuletzt ihres Organisationsverschuldens in Missbrauchsfällen9) ihre Funktion als moralische Instanz verloren haben – am deutlichsten in Bezug auf Kinder, und damit auch mit Blick auf den pränatalen Lebensschutz. So ist es zur Aufgabe des Strafrechts geworden, die lebensschützende Funktion der Religionsgemeinschaften gesellschaftspolitisch zu ersetzen.10) Dies verleiht heute den pönalisierungsbezogenen Aussagen des BVerfG aus dem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch eine besondere Aktualität. Es bedürfte daher gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse dazu, dass das Strafrecht keinen Einfluss auf das Abbruchverhalten hat, damit es nach den Maßstäben des BVerfG verfassungsrechtlich zulässig wäre, auf seinen Einsatz zu verzichten.
Das Beratungsdilemma
Ob allerdings ähnliche Beharrungskräfte auch zugunsten des eingeführten Beratungskonzepts wirken, darf bezweifelt werden. Denn schon bei Erlass des zweiten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch war bekannt, dass Frauen, die eine Konfliktberatung in Anspruch nehmen, nur in seltenen Ausnahmefällen zur Fortsetzung der Schwangerschaft bewegt werden.11) Heute haben der höhere Bildungsgrad und das gestiegene Selbstbewusstsein moderner Frauen ihre Beratungsresistenz noch erhöht. Die Prozeduralisierung des Lebensschutzes12) muss – jedenfalls für den Bereich des Schwangerschaftsabbruchs – als weitgehend gescheitert angesehen werden.13) Zugespitzt formuliert: Für den Schutz des ungeborenen Lebens bringt Beratung wenig, den betroffenen Frauen kann die Pflichtigkeit ihrer Inanspruchnahme als Akt paternalistischer Bevormundung erscheinen. Unter dem Gesichtspunkt des Untermaßverbots mag es daher offenbleiben, ob eine – nicht in jeder Hinsicht offene – Beratung nicht einen Widerspruch in sich darstellt, wie im Einzelnen eine am Lebensschutz orientierte Beratung ausgestaltet sein muss und wie die staatliche Kontrolle der Beratungsstellen zu erfolgen hat.
Pränataler Lebensschutz
Neben Pönalisierung und Beratung bilden staatliche Maßnahmen zur Erleichterung der Entscheidung für das Austragen des Kindes die dritte Säule des pränatalen Lebensschutzes. In der Diskussion um das Recht des Schwangerschaftsabbruchs finden sie seit Jahrzehnten allerdings kaum Berücksichtigung. Die Einsetzung einer Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ist daher als Chance zu begreifen, dies grundlegend zu ändern und die Vorgaben des BVerfG endlich zu erfüllen.
Nach dem Grundgesetz ist der Staat dazu verpflichtet, einer ungewollt schwangeren Frau die Entscheidung für das Austragen des Kindes zu erleichtern und Faktoren entgegenzuwirken, die sie davon abbringen könnten.