In dubio pro libertate?
Zur Frage der Visabeschränkungen für russische Staatsbürger
Sollte es angesichts des Krieges für russische Staatsbürger schwerer gemacht werden, in Europa einzureisen? Seit einige osteuropäische Staaten und Finnland angefangen haben, die Visavergabe für Russinnen und Russen einzuschränken, und seit es europaweit Forderungen nach einem „visa ban“ für Reisende aus Russland gibt, geht es in den sozialen Medien und in den russischen Fernsehsendern zu dieser Frage hoch her. Putins Chefpropagandist Vladimir Solovyev geriet sogar so in Rage, dass er die nukleare Bedrohungskeule herausholte, um die Folgen von Visarestriktionen möglichst drastisch auszumalen. Das Nebeneinander der Forderung nach unbeschwerten Urlaubsreisen und der Gräuelbilder des Krieges wirkt nicht nur auf den ersten Blick bizarr, verstörend ist auch der lautstarke Pro-domo-Aktivismus von Teilen der russischen Gesellschaft, die um ihre Reisemöglichkeiten fürchten, und ihr zugleich beredtes Schweigen, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.
Auch wenn touristische Reisen in die Europäische Union im Zusammenhang mit den kriegerischen Verbrechen Russlands in der Ukraine wie ein Nebenschauplatz erscheinen mögen – hier geht es um etwas. Das sieht man schon an den erwähnten, fast panisch zu nennenden Reaktionen. Hier hat man ein simples Sanktionsschwert zu Hand, welches tatsächlich empfindlich treffen würde, denn es gehört in Russland zu den Annehmlichkeiten der besser Gestellten, ihre Ferien im Ausland zu verbringen. Ob Badeurlaub, Shoppingtour oder Bildungsreise – die EU-Mitgliedländer sind ein beliebtes Ziel. Allerdings: Nur 30 Prozent der Russinnen und Russen besitzen einen Reisepass. Dies sind vor allem die Angehörigen der urbanen Mittelschicht Russlands, für alle anderen dürften Einschränkungen der Reisemöglichkeiten weit weniger bedeutsam sein, aber ihr politischer Hebel für die öffentliche Meinungsbildung ist auch kleiner.
Gegenstimmen
Mehrere gewichtige Argumente werden gegen einen „blanket visa ban“ ins Feld geführt. Das erste besagt, wir könnten für „Putins Krieg“ nicht die gesamte Gesellschaft in Haftung nehmen, eine Kollektivschuld oder gar die Kollektivbestrafung sei schlicht ein Relikt vergangener Zeit und passe auch nicht zu unserem Rechtsverständnis. Auch das zweite Argument sieht einen „visa ban“ als unvereinbar mit den Werten und Regelwerken der Europäischen Union und des Schengen-Vertrags. Im Verfassungsblog hat Sarah Ganty ausgeführt, dass eine solche Maßnahme diskriminierend sei und Visaanträge nach Schengen-Recht auf individueller Basis geprüft werden müssten, was eine pauschale Ablehnung unmöglich mache. In der Süddeutschen Zeitung vom 17. August 2022 schwang sich der Kommentator Josef Kelnberger zu der These auf, mit einem Aussetzen von Visa für russische Touristen würde Europa seine eigenen Werte verraten.
Vielleicht macht man sich keines allzu schlichten Whataboutismus verdächtig, wenn man auch daran erinnert, wie weit Europa an seinen Grenzen von den eigenen liberalen Ansprüchen entfernt ist: Im Wald zwischen Polen und Belarus harren noch immer Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen aus, die illegalen Push-backs an den EU-Außengrenzen sind eine unübersehbare Realität und die tausenden Ertrunkenen in Mittelmeer werden tagtäglich in Kauf genommen. Ist das nicht ein viel bedeutsameres moralisches Scheitern der EU als die Frage der touristischen Visa, die jetzt zum Lackmustest liberaler Prinzipientreue hochgejazzt wird?
Ein drittes Argument ist von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin bemüht worden. Die russische Zivilgesellschaft einfach auszusperren, sei kontraproduktiv, weil sie dann noch stärker in der Putin-Blase gefangen bliebe, zumal das Schengen-Visa auch für viele russische Oppositionelle ein wichtiger Pfad sei, um in die EU einzureisen, dort sogar Schutz zu suchen.
Sortierung durch Visumpolitiken
Vielleicht sollte man sich an dieser Stelle daran erinnern, dass auch die EU lange gebraucht hat, um die Freizügigkeitsschranken gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern abzusenken. In Deutschland hat der „zu liberale“ Umgang mit Visaanträgen in der deutschen Botschaft in Kiew im Jahr 2004 sogar zu einem politischen Skandal und einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss geführt, vor dem sich der damalige Außenminister Joschka Fischer verantworten musste. In dubio pro libertate – im Zweifel für die (Reise-)freiheit – stand in einem Erlass, den das Auswärtige Amt im Jahr 2000 an die Auslandvertretungen geschickt hatte, mit der Bitte, die Praxis der Visavergabe großzügiger zu gestalten. Der politische Vorwurf der zehntausendfachen Erschleichung von Visa und der Schaffung krimineller Netzwerke wog jedenfalls so schwer, dass diese Regelung wieder zurückgenommen wurde. Das Reisen nach Europa sollte auch nach der Orangenen Revolution nicht für alle möglich sein, die Sorge vor irregulärer Zuwanderung war groß. So zimperlich-großzügig, wie man sich heute bei der Reisefreiheit für russische Staatsbürger gibt, war man damals nicht.
Nicht nur dieses Beispiel sollte dazu anhalten, zwischen Gesetzestexten und Rechtspraxis zu unterscheiden. Die konkrete Umsetzung von Gesetzesvorgaben in den Botschaften und Konsulaten weist eine große Streubreite auf, allein durch Ausführungsvorschriften können Zugänge erleichtert oder auch erschwert werden. Auch die Handhabung eigentlich einheitlicher Visaregeln unterscheidet sich zwischen den Schengen-Ländern erheblich, sodass sich je nach Herkunftsland sehr unterschiedliche Visumablehnungsquoten ergeben. Man sollte sich auch keine Illusionen machen, dass jeder Visaantrag individuell und ausgiebig geprüft werden würde und die „Herkunft“ beziehungsweise Staatsangehörigkeit der oder des Reisenden keine Rolle spielte. Dies ist eine Schimäre: Der Status einen Landes ist entscheidend für den Genuss von Freizügigkeitsrechten und wiegt viel mehr als individuelle Eigenschaften, nicht umsonst spricht man vom „Power of Passport“. Der „Wert eines Passes“ kündet auch vom Status eines Landes in der internationalen Gemeinschaft und ist entscheidend bei der Zuweisung von Reiseprivilegien, nicht nur beim visafreien Reisen, auch bei jedem Visumantrag.1) Dabei sind der Wohlstand und das politische System die entscheidenden Variablen dafür, ob sich Türen öffnen oder verschlossen bleiben. Visapolitik ist Vertrauens- und Verdachtspolitik, die Bewerberinnen und Bewerber stark nach der Passinhaberschaft klassifiziert und vom Pass auf die Vertrauenswürdigkeit, die Reiseintentionen, die Rückkehrbereitschaft etcetera schließt. Das Argument der individualisierten Bewertung fußt eher auf einer Rechtsfiktion denn auf der tatsächlichen Rechtspraxis. Verabschieden sollte man sich in der Debatte deshalb von dem unscharfen Begriff der „Kollektivbestrafung“, den man letztlich auch auf die Gesamtheit der internationalen Visabeziehungen anwenden müsste, denn da geht es immer – passabhängig – um privilegierten (und kollektiv definierten) Zugang zu oder Ausschluss von grenzüberschreitender Mobilität.
Die Versicherheitlichung von Grenzen auch durch Visumpolitiken ist umfangreich erforscht und es gibt deutliche Hinweise auf die Kategorisierung nach Staatsbürgerschaft und damit im Zusammenhang stehende diskriminierende Praktiken.2) Grenzen sind „Sortiermaschinen“3) und die Visumpolitik hilft dabei, die Unterschiede zwischen Willkommenen und Unwillkommenen durchzusetzen. Der Pass ist die entscheidende Eintrittskarte im internationalen Mobilitätsgeschehen: Man kann leicht Grenzen überschreiten, weil man aus der Bundesrepublik Deutschland kommt, nicht aufgrund individueller Meriten. Umgekehrt bleibt Menschen aus Afghanistan das Reisen in westliche Länder verwehrt, ganz unabhängig von individuellen Eigenschaften (wie wir beim Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan vor einem Jahr gesehen haben). Ginge man davon aus, dass Schengen nur eine individualisierte Prüfung kennt, wären im Kontext der Corona-Pandemie Grenzschließungen oder Einreiseverbote aus „Risikoländern“ undenkbar gewesen. Auch temporäre Grenzschließungen im Hinblick auf spezifische Ereignisse sind im Schengen-Raum immer wieder durchgeführt worden, während der Fußball-WM 2006 hat Deutschland Schengen sogar teilweise suspendiert. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die EU das Schengen Abkommen und die Visabestimmungen wiederholt angepasst hat, so dass prinzipiell möglich sein sollte, auch auf die „Zeitenwende“ zu reagieren.
Tourismus trotz Krieg? In dubio contra libertatem
Dennoch sollte man weniger über ein pauschalen „blanket travel ban“ diskutieren als über eine Einschränkung des touristischen Reisens. Zwar gibt es kein „Tourismus-Schengen-Visa“, aber die Bewerbung um ein Schengen-Visum unterscheidet sehr wohl danach, ob man ein Visum für touristische Zwecke beantragt oder zum Besuch von Familienangehörigen, für Geschäftsreisen, zum Kulturaustausch, für Sportveranstaltungen, zum Studium, für offizielle Besuche, für eine medizinische Behandlung; auch können andere Gründe angegeben werden. Auch die zivilgesellschaftliche Netzwerkpflege könnte hier rubriziert werden, so dass sich hier keine erzwungene Isolation ergibt. Jeder dieser Gründe ist entsprechend zu plausibilisieren und zu dokumentieren und bildet die Basis der Visaentscheidung. In der Diskussion um Visa für russische Staatsangehörige sollte es ausschließlich um das touristische Reisen gehen. Die EU weist selbst darauf hin, dass solche beschränkenden Maßnahmen im Ermessen der Mitgliedsstaaten lägen. Selbst der Schengen-Visakodex liefert Gründe für Visaablehnungen, die in diesem Kontext genutzt werden könnten, denn dort sind die internationalen Beziehungen eines EU-Staates oder Sicherheitsbedenken ausdrücklich genannt. Wenn Repräsentanten Russlands EU-Mitgliedsstaaten öffentlich bedrohen oder zu Gegnern erklären, dann sind die internationalen Beziehungen offenkundig tangiert. Bemühen kann man auch das in den internationalen Beziehungen hoch gehaltene Prinzip der Reziprozität, denn Russland verweigert regelmäßig und ohne Angabe von Gründen EU-Bürgern die Einreise, unterbindet die Aktivitäten ausländischer Stiftungen und deklariert sie als „ausländische Agenten“ oder fordert von Ausländern, die sich im Land aufhalten, regelmäßige Medizinchecks. Auch dies sind keine freundlichen Behandlungen im grenzüberschreitenden Verkehr.
Auch dem oft angebrachten Argument, das Aussetzen der Visa schließe die Fluchtwege für die russische Opposition, lässt sich schon auf der jetzigen rechtlichen Grundlage begegnen. Im Schengen-Antrag können weitere Gründe bekannt werden, nach dem Visakodex können die Mitgliedländer Antragstellern Visa aber auch „aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen“ ausstellen, welche allerdings auf den Mitgliedsstaat begrenzt bleiben. Polen hat von der Möglichkeit „humanitärer Visa“ gegenüber belarussischen Oppositionellen intensiv Gebrauch gemacht. Ein solcher Zugang müsste parallel mit Restriktionen für das touristische Reisen konsolidiert und ausgeweitet und zudem entbürokratisiert werden.
Es ist verwunderlich und argumentativ inkonsistent, dass Wissenschaftskooperation und Städtepartnerschaften – immerhin Kern des zivilgesellschaftlichen Austausches – auf Eis gelegt wurden, man aber über touristischen Reisen schützend die Hand hält. Mancher glaubt ja bis heute, der anhaltende Kontakt mit „dem Westen“ würde die liberalen Orientierungen der russischen Staatsbürger womöglich stärken. Die Vorstellung, dass allein der Austausch zu politischem Wandel führen würde, hat auch schon im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen zu folgenreichen Fehldeutungen geführt. Die in den Sozialwissenschaften populäre Kontakthypothese besagt zwar, dass Toleranz und wechselseitiges Verständnis durch Interaktion gesteigert werden können, sie ist aber an spezifische Randbedingungen geknüpft und zudem für das touristische Reisen kaum nachweisbar, da hier die Kontakte besonders oberflächlich bleiben. Dass derartige Effekte unter Kriegsbedingungen eintreten könnte, ist kaum vorstellbar. Dass andersherum mit temporären Visarestriktionen nun die große Entfremdung der liberalen Kräfte in Russland einsetzen sollte, ist auch nicht anzunehmen. Warum sollte eine Distanzierung stattfinden? Nimmt man an, dass ein Mensch mit liberalen Überzeugungen Sanktionen der touristischen Möglichkeiten als Reaktion auf einen verbrecherischen Krieg für unverhältnismäßig hält?
Angesichts der schrecklichen Verbrechen der russischen Armee in der Ukraine erscheint das touristische Reisen und das Beharren darauf, dass dieses Recht nicht einzuschränken sei, kaum nachvollziehbar. Die von Sarah Ganty bemühte rein legalistische Argumentation verdeckt, dass das Recht immer auch ein Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen ist. Nun mag man Gründe dafür finden, warum es wichtig sein könnte, von Visumrestriktionen abzusehen, aber man müsste sie klar benennen und auch empirisch ausbuchstabieren. Bislang jedenfalls überzeugen sie nicht. Wenn eine solche Maßnahme auf so großen Furor im Kreml trifft, sollten wir eher schließen, dass es um eine sehr wirksame und schmerzhafte Sanktion geht, die die Unzufriedenheit der russischen Bürger mit ihrer politischen Führung stärken könnte. Den Menschen in der Ukraine ist das touristische „Weiter-so“ sowieso kaum zu erklären. In Zeiten eines Aggressionskrieges sich für ein „in dubio contra libertatem“ – hier also gegen die Freiheit der Touristen – zu entscheiden, kann aus politischen Gründen ratsam und aus normativen Gründen geboten sein. Unklug wäre es auf jeden Fall, diese Maßnahme einfach so vom Tisch zu wischen.
References
↑1 | Neumayer, Eric (2006). Unequal access to foreign spaces: how states use visa restrictions to regulate mobility in a globalized world. Transactions of the Institute of British Geographers, 31(1), 72-84. |
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↑2 | Bigo, Didier, & Guild, E. (Eds.). (2005). Controlling frontiers: free movement into and within Europe. Ashgate Publishing; Mau, Steffen, Brabandt, Heike, Laube, Lena, & Roos, Christoph (2012). Liberal states and the freedom of movement: Selective borders, unequal mobility. Springer. |
↑3 | Mau, Steffen (2021). Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. C.H. Beck. |