Alles auf Anfang oder weiter so?
Die Wahlprüfung als Demokratietest
Am Abend der Bundestagswahl richten sich bekanntlich alle Blicke nach Berlin. Was es dort am Abend des 26. September 2021 zu sehen gab, war allerdings nicht nur der herannahende Abschied der Union von der Bundesregierung und die sich andeutenden Schwierigkeiten, eine völlig neue Regierungsmehrheit zu bilden. Vielmehr legte der Blick an diesem Abend auch zunehmend ein Versagen in der Durchführung der Wahl im Berliner Stadtgebiet offen, wie es das zuvor noch nie gegeben hatte. Fehlende Stimmzettel, stundenlange Wartezeiten, weit nach 18h geöffnete Wahllokale – die gleichzeitige Durchführung von Wahlen zu Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksverordnetenversammlung und der Abstimmung über ein Volksbegehren, das alles zeitgleich mit dem Berlin-Marathon, hatte die dortige Verwaltung offensichtlich über ihre Grenzen gebracht. Es ist nicht übertrieben, die Zustände in Teilen als chaotisch zu bezeichnen.
Welche Konsequenzen dieses Chaos für die Rechtmäßigkeit und die Beständigkeit dieser Wahlen haben wird, wird sich voraussichtlich in den nächsten Wochen entscheiden. Für das Berliner Abgeordnetenhaus wird der Verfassungsgerichtshof voraussichtlich im November über die entsprechende Wahlprüfung entscheiden. Nach dem Eindruck von der mündlichen Verhandlung scheint es wohl wahrscheinlich, dass wohl die gesamte Wahl wiederholt werden muss. Für den Bundestag liegt die Entscheidung bisher noch beim Parlament selbst. Der Bundeswahlleiter selbst – ein absolutes Novum – hat Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundestag eingelegt. Der Verlauf der mündlichen Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuss lässt die vorsichtige Prognose zu, dass eine Teilwiederholung wahrscheinlich ist. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wird ein Parlament daher möglicherweise die (teilweise) Wiederholung seiner eigenen Wahl anordnen. Wie weit diese Wiederholung gehen soll, darüber wird allerdings gerade intensiv gestritten. Es wäre naiv, allein unterschiedliche juristische Positionen und nicht auch handfeste politische Machtinteressen hinter diesem Streit zu vermuten.
Einen irgendwie vergleichbaren Fall hat es in der Bundesrepublik zuvor nur ein einziges Mal gegeben. Die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft des Jahres 1991 wurde zwei Jahre später vom dortigen Verfassungsgericht für ungültig erklärt und musste vollständig wiederholt werden. Grund dafür war eine demokratischen Maßstäben nicht hinreichend genügende Kandidatenaufstellung bei der CDU.
Zu einer vergleichbaren Entscheidung kam es danach nie wieder, auch wenn sich die (öffentlich bekannt gewordenen) Probleme bei der Kandidatenaufstellung innerhalb der Parteien in jüngerer Zeit deutlich gehäuft haben. So wurde bei der sächsischen Landtagswahl 2014 ein innerparteilich gewählter Kandidat von der AfD-Landesliste nachträglich durch die Parteispitze gestrichen. Sein Listenplatz hätte später für ein Mandat gereicht. Der Landeswahlausschuss akzeptierte diese Streichung, der Landtag wollte keinen Wahlfehler erkennen. Das angerufene Verfassungsgericht erkannte zwar die Rechtswidrigkeit des Vorgangs, ordnete aber dennoch keine Wahlwiederholung an, da in der Abwägung das Interesse an der Stabilität des Landtags überwiege. Auch bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 wurde mit einer falschen Liste gewählt. Die FDP stellte zwar in korrekter Weise ihre Landesliste auf. Auf dem später eingereichten Wahlvorschlag waren allerdings die Kandidaten zweier Listenplätze vertauscht. Der Landeswahlleiter sah sich nicht in der Lage, den später bekannt gewordenen Fehler noch zu korrigieren. So zog die eigentlich auf dem erfolglosen Listenplatz gewählte Kandidatin in den Landtag ein, ihr Parteikollege ging hingegen leer aus. Auch hier hielt der Landtag das Vorgehen für korrekt. Zu einem Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof kam es nicht. Umgekehrt stellte sich die Situation bei der Landtagswahl in Sachsen im Jahr 2019 dar. Hier ließ der Wahlausschuss große Teil der AfD-Liste zunächst nicht zu, weil er einen – tatsächlich nicht existenten – Verstoß gegen das Wahlrecht bei der Kandidatenaufstellung ausmachen wollte. In einer einzigartigen Entscheidung korrigierte der Verfassungsgerichtshof diese Entscheidung später noch vor der Wahl. Bei der letzten Bundestagswahl schließlich wurde die Landesliste der AfD in Bremen zugelassen, obwohl eine gesetzlich zwingend vorgeschriebene Unterschrift fehlte. Umgekehrt wurde die Landesliste der Grünen im Saarland nicht zugelassen, weil das Bundesschiedsgericht der Partei die Delegierten eines Kreisverbandes von der Wahlaufstellung ausgeschlossen hatte, weil sie ihrerseits nicht hinreichend demokratisch gewählt waren. Beide Entscheidungen wurden vom Bundeswahlausschuss bestätigt.
Die Besonderheiten, die solche – tatsächlichen oder vermeintlichen – Wahlfehler aufweisen, beginnen schon bei der behördlichen Entscheidungsstruktur im Vorfeld. Denn die Wahlausschüsse, die über die Zulassung von Wahlvorschlägen entscheiden, bestehen zu einem großen Teil aus Vertreter*innen, die faktisch von den etablierten politischen Parteien benannt werden. Die Besonderheiten setzten sich fort in den sehr begrenzten Möglichkeiten ihrer rechtlichen Korrektur. Insofern sieht das Wahlprüfungsrecht des Bundes wie der Länder vor, dass die Entscheidungen der Wahlbehörden grundsätzlich nur nach Ablauf der Wahl im speziellen Wahlprüfungsverfahren gerichtlich überprüft werden können. Auch Fehler, die am Wahltag selbst passieren, lassen sich nur in diesem Verfahren rügen.
Diese Wahlprüfung zeichnet sich dann allerdings wiederum durch zwei sowohl unter demokratischen als auch unter rechtsstaatlichen Aspekten diskussionswürdige Besonderheiten aus: Zum einen wird über die Wahlprüfung (im Bund wie auch in fast allen Bundesländern) zunächst durch das Parlament selbst entschieden, bevor (Verfassungs-)Gerichte damit betraut werden – ein historisches Überbleibsel aus dem Konstitutionalismus. Zum anderen erfolgt eine allein mögliche nachträgliche Korrektur etwaiger Fehler nach der Rechtsprechung nur dann, wenn ein Fehler „mandatsrelevant“ war, d.h. sich tatsächlich auf die konkrete Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt hat. Dadurch soll verhindert werden, dass die Stabilität des Parlaments durch jeden noch so kleinen Fehler, wie er in einem Massenverfahren wie der Wahl immer vorkommen kann, bedroht wird. Wie aber insbesondere die Entscheidung aus Sachsen zur Landtagswahl 2014 gezeigt hat, hat dieses Merkmal mittlerweile ein Eigenleben entwickelt. Jedenfalls vor dem sächsischen Verfassungsgericht hat dies dazu geführt, dass eine allgemeine Folgenabwägung an die Stelle der Rechtsmäßigkeitsprüfung getreten ist. Die erheblichen Unsicherheiten, die dadurch entstanden sind, hat die aktuelle Arbeit des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages deutlich gezeigt. Die Maßstäbe, nach denen insbesondere die Mandatsrelevanz zu beurteilen ist, und die Frage, inwiefern tatsächlich darüber hinaus noch eine Folgenabwägung und/oder Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen kann bzw. muss, stellten sich in der mündlichen Verhandlung als relativ unklar dar. Zuletzt hieß es aus der Ampelkoalition, man habe zu der Frage, wo genau die Wahl zu wiederholen sei, „einen Kompromiss zwischen den Parteien“ gefunden.
Die Folgen dieser Entwicklung sind unter demokratischen Aspekten hoch problematisch. Denn bei der Wahlprüfung durch das Parlament und durch die Verfassungsgerichte stellt sich nicht nur die Frage, wie stabil ein Parlament gehalten werden muss, sondern auch umgekehrt, in welchem Maße Wahlen noch die Überzeugungskraft besitzen, tatsächlich demokratische Legitimation zu stiften. Je öfter nämlich offensichtliche Rechtsverstöße bei der Wahl durch die Besonderheiten des Wahlprüfungsverfahrens vollkommen folgenlos bleiben, desto stärker werden Zweifel daran genährt, ob es bei der Wahl überhaupt mit rechten Dingen zugeht und nach demokratischen Regeln gespielt wird. Eine solche Entwicklung ist in der aktuellen Situation deshalb besonders gefährlich, weil ohnehin gerade die politische Taktik der Demokratiefeinde, demokratische Wahlen erzählerisch auch ohne Evidenz zu delegitimieren, an Bedeutung gewinnt. Die völlig substanzlosen, aber trotzdem gleichbleibend lauten und erstaunlich wirkmächtigen Erzählungen von Donald Trump, man habe 2021 die Präsidentschaftswahlen „gestohlen“, sind hier nur ein Extrembeispiel. Auch die AfD hat etwa im Vorfeld der letzten Bundestagswahl entsprechende Narrative bereitwillig aufgegriffen und immer wieder ohne jegliche Tatsachenanknüpfung behauptet, die Briefwahl in Deutschland sei manipulationsanfällig und die höhere Briefwahlquote aufgrund der pandemischen Situation daher legitimatorisch höchst problematisch. Für die öffentliche Wahrnehmung von Wahlen als dem Nukleus jeden demokratischen Systems kann dies nicht ohne Wirkung bleiben. Dabei befindet sich jede Wahlprüfung in gewisser Weise in einem unauflösbaren Dilemma: Einerseits muss es jede Wahl delegitimieren, wenn erhebliche Wahlfehler folgenlos bleiben, sich die demokratischen Regeln der Wahl in der Praxis also als wirkungslos erweisen. Andererseits sieht sich jede nachträgliche Korrektur der Wahl durch die zuständigen Wahlprüfungsorgane schnell den Vorwurf ausgesetzt, ihrerseits in illegitimer Weise in die demokratische Wahl einzugreifen. Die aktuelle Kritik angesichts der Ankündigung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, wohl die ganze Abgeordnetenhauswahl wiederholen zu lassen, zeigt dies anschaulich.
Das Online-Symposium will vor diesem Hintergrund aus rechts- wie politikwissenschaftlicher Sicht ausloten, welche Bedeutung der Wahlprüfung für die Infrastruktur der Demokratie zukommt, welche Bedrohungen in der aktuellen Situation von konkreten Ausgestaltungen ausgehen können und welche Optionen bestünden, es zu reformieren.
Hallo!
Ich möchte ein Wort zu der von Ihnen geäußerten Idee sagen, dass es gefährlich sei, eine rechtsextreme Partei wie die AfD zu verbieten, weil die Mitglieder in diesem Fall in den Untergrund gehen würden. Ich muss sagen, dass ich irritiert bin.
Glauben Sie denn, dass eine Partei, die mit öffentlichen Geldern massiv Propaganda betreibt und die demokratischen Parteien täglich diskreditiert, damit Erfolg hat und Wähler in den Rechtsextremismus treibt, als (mit-)regierende Partei KEINE Gefahr wäre?Denken Sie bitte an die NSDAP.
Das Schlüsselproblem ist die Normalisierung einer extremistischen Partei und ihrer Vorstellungen. Und dass die Mehrheit eines Volkes leider nun mal sehr anfällig für Propaganda ist. Die Demokratie verteidigen bedeutet nicht, ausdauernde Diskussionen zu führen. Wahlen werden zum größten Teil über Vorurteile gewonnen. Die Demokratie verteidigen bedeutet, demokratiefeindliche Parteien zu verbieten.
MfG, Reimund Noll