Pässe und Waffen
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In Nicaragua erklärt ein Gericht 94 Oppositionelle im Exil – Journalist*innen, Schriftsteller*innen, Aktivist*innen, ein ehemaliger Außenminister, ein früherer Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs, ein katholischer Bischof – für “Verräter des Vaterlandes” und entzieht ihnen die Staatsbürgerschaft. Dass Nicaragua sich im UN-Abkommen zur Verminderung von Staatenlosigkeit von 1961 völkerrechtlich verpflichtet hat, niemanden auszubürgern, der dadurch staatenlos wird, scheint weder Justiz noch Regierung groß zu interessieren.
In Israel beschließt das Parlament mit 94 zu 10 Stimmen, dass künftig verurteilten Terroristen die israelische Staatsbürgerschaft aberkannt werden kann, wenn sie von der palästinensischen Autonomiebehörde oder anderen Organisationen Geld bekommen. Geld von der Autonomiebehörde oder Dritten als “Lohn oder Entschädigung” für sicherheitsrelevante Straftaten in Empfang zu nehmen, heißt es in der Begründung, sei “gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, den Status als Bürger oder Aufenthaltsberechtigter aufgegeben zu haben”. Ein weiteres Gesetz, das die Deportation der Familien von Terroristen erlaubt, durchläuft gerade das parlamentarische Verfahren und wurde in vorläufiger Lesung mit 61 zu 13 Stimmen gebilligt. Familienmitglieder, die eingeweiht waren oder sich über den Terrorakt freuen, können in die besetzten Gebiete deportiert werden. Das soll potenzielle Terroristen abschrecken.
Dass Regierungen das Staatsangehörigkeitsrecht in den Dienst nehmen, um sicherheitspolitisch zu punkten, ist nichts Neues. Das haben im War against Terror viele erwogen und manche durchgezogen, insbesondere gegenüber solchen unter ihren Bürger*innen, die sich den Terrorbanden des “Islamischen Staates” anschlossen. Da scheint mir ein globaler Trend zum Einsatz des Staatsangehörigkeitsrechts als politisches Tool vorzuliegen, der mit sicherheitspolitischen Interessen allein nicht mehr hinreichend erklärt ist. Nicht allein der Entzug der Staatsbürgerschaft, generell die Zuteilung des Status der Staatsbürgerschaft wird zunehmend als Waffe eingesetzt, um Menschen und anderen Staaten Schaden zuzufügen. Und wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, was das Verfassungs- und das Völkerrecht zu diesem Waffeneinsatz zu sagen haben bzw. zu sagen haben sollten.
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Was das Völkerrecht betrifft, so hat letzte Woche das Global Citizenship Observatory am Europäischen Hochschulinstitut ein sehr lesenswertes Symposium unter der Überschrift “Weaponized Citizenship” veröffentlicht. Der Status der Staatsbürgerschaft, so Neha Jain in ihrem Kickoff-Beitrag, suggeriert eine trügerische Gleichheit. Solange jeder einen Staat hat, der als souveränes Glied der internationalen Staatengemeinschaft für ihn und seinen Schutz zuständig ist, solange ist das internationale Recht grosso modo zufrieden. Wem und nach welchen Kriterien der Staat welchen Status genau zuteilt, ist dessen eigene souveräne Entscheidung. Da hält das Recht sich raus. Auch wenn es sich um bloße “zombie citizenships” handelt, wie die Pässe der Komoren beispielsweise, die die Vereinigten Arabischen Emirate 2008 plötzlich an Zigtausende von Einwohnern mit nicht ganz lupenrein dokumentierter emiratischer Abstammung verteilte und die nicht mal zur Einreise in den bitterarmen afrikanischen Inselstaat berechtigten, von denen ihre neuen Staatsbürger*innen zumeist in ihrem Leben noch nie gehört hatten (nachzulesen in Noora Loris eindrucksvollem Buch “Offshore Citizens“). Oder die Bangladeshi-Staatsangehörigkeit, die die britische Regierung dem britischen IS-Teenager Shamima Begum andichtete, um sich um ihr Schicksal nicht mehr kümmern zu müssen. Passportization – also das Verteilen von Staatsbürgerschaften an Menschen außerhalb des Staatsgebiets, um andere Staaten zu destabilisieren – ist eine gut dokumentierte Taktik, nicht erst seit Russland sie im Krieg mit der Ukraine einsetzt. Vielleicht, so Neha Jain, entfaltet der Überfall auf die Ukraine wie beim Gewaltverbot auch hier auf das Völkerrecht belebende Wirkungen und trägt so mittelbar dazu zu der Erkenntnis bei, dass die als Waffe eingesetzte Zuteilung von Staatsbürgerschaft keine bloße innere Angelegenheit ist, sondern die internationale Staatengemeinschaft etwas angeht.
Was das Verfassungsrecht betrifft, so ist jedenfalls in Deutschland das Schutzniveau durchaus hoch. Das NS-Regime hatte das Staatsangehörigkeitsrecht als Waffe gegen oppositionelle, jüdische und andere Deutsche eingesetzt wie kaum ein zweites vor und nach ihm, weshalb Artikel 16 Abs. 1 Grundgesetz den Entzug der Staatsangehörigkeit kategorisch ausschließt und den Verlust der Staatsangehörigkeit nur zulässt, soweit man dadurch nicht staatenlos wird. Aber schon die Koexistenz dieser beiden Begriffe, Entzug und Verlust der Staatsangehörigkeit, von denen keiner so recht zu wissen scheint, wie genau man sie voneinander unterscheidet, lässt ahnen, dass der Schutz vielleicht nicht so lückenlos ist, wie man erwarten sollte. Auch das deutsche Recht ist nicht frei von der Vorstellung, dass die Staatsangehörigkeit unter der auflösenden Bedingung der Loyalität zum Vaterland steht. Der Dienst in einer fremden Armee oder – seit 2019 – Teilnahme an Kampfhandlungen einer terroristischen Vereinigung im Ausland wird als “Abwendung von Deutschland” gedeutet, der den Verlust der Staatsangehörigkeit zur Folge hat. Ob das verfassungsmäßig ist? “Der Bundesrepublik Deutschland ist nicht erlaubt, Probleme mit bestimmten Staatsangehörigen durch Ausbürgerung zu lösen”, schrieb 2019 Astrid Wallrabenstein, mittlerweile Richterin im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts, auf dem Verfassungsblog. Einstweilen ist das aber geltendes Recht.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
In Anbetracht der verfassungsrechtlichen Situation in Israel betont RODA MUSHKAT die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen, die eine fehlende Unabhängigkeit der Justiz haben dürfte. Sie spricht von: “unheilvollen Auswirkungen auf den künftigen Wohlstand Israels”.
Mehr als 13 Millionen Menschen sind allein in der Türkei von den beiden Erdbeben betroffen, die kürzlich die Türkei und Syrien erschütterten. BURAK HAYLAMAZ setzt sich kritisch mit der “legalen” Beschränkung des Internetzugangs durch die türkische Regierung auseinander, welche die Hilfe für Betroffene erschwert habe.
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Stellenausschreibung Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer)
Gesucht wird zum 1.Mai 2023 oder später, befristet auf zunächst 2 Jahre, ein*e wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d). Der Stellenumfang beträgt 30 Wochenstunden. Die Staatsprüfung/en sollte/n mindestens mit „vollbefriedigend“ bestanden und gute Englischkenntnisse vorhanden sein. Bewerbungen bitte bis 10.3.2023 an heidrun.meyer-veden@law-school.de. Weitere Informationen finden Sie hier.
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“Es ist keine Invasion, es ist eine Wiederinbesitznahme” – so lautet ein Narrativ, mit dem die Bolsonaro-Anhänger die Besetzung von Regierungsgebäuden und die Blockade von Straßen in Brasilien rechtfertigen wollen. BIANCA TAVOLARI & JONAS MEDEIROS analysieren das Narrativ, erörtern die institutionellen Reaktionen auf die Geschehnisse und kommen zu dem Schluss, dass eine “Entbolsonarisierung” notwendig sei.
Ein kleiner, aber wichtiger Schritt ist das Urteil Q v Commissioner of Registration, meint REHAN ABEYRATNE. In dem Verfahren in Hongkong versuchten zwei Trans*personen, die sich keiner geschlechtsangleichenden Operation unterzogen hatten, erfolgreich, den Geschlechtseintrag in ihren Personalausweisen zu ändern. Dies, so Abeyratne, bedeute auch eine Stärkung der Rechte der LGBTQ Community insgesamt.
Das schottische Gesetz zur Geschlechtsanerkennung ist umstritten. Verfassungsrechtlich wurde es relevant, da es vom schottischen Parlament zwar verabschiedet anschließend aber von der britischen Regierung blockiert wurde. STEPHEN TIERNEY kontextualisiert den Vorfall und bewertet das „system of devolution“ des Vereinigten Königreichs.
ANURAG DEB bespricht das Urteil des Supreme Court des Vereinigten Königreichs im Fall Allister and Peeples’ applications for judicial review aus der letzten Woche. Es handelt es sich um einen weiteren Brexit-Fall, diesmal mit der Frage, wie das Verhältnis zwischen dem Nordirland-Protokoll und den Unionsgesetzen von 1800 ist. Es scheint, als würde das Gericht die Idee ablehnen, dass bestimmte Gesetze des britischen Parlaments Verfassungscharakter haben. Deb hingegen argumentiert, dass der Grundsatz der „constitutional statutes“ fortbesteht.
CHARLIE BENNETT ist der Ansicht, dass das derzeitige zersplitterte Weltraumrecht zu einer Tragik der Allmende führen könnte. Er fordert daher, dass die EU eine Vorreiterrolle bei der Erneuerung der quasi-verfassungsrechtlichen Grundlage für Weltraumaktivitäten übernimmt, die durch den inzwischen überholten Weltraumvertrag von 1967 geschaffen wurde.
MAX VAN DRUNEN, NATALI HELBERGER & RONAN FAHY kommentieren den Vorschlag für ein Europäisches Medienfreiheitsgesetz. Dieses ziele darauf ab, die Beziehung zwischen Plattformen und Medienorganisationen umzugestalten und letztere dabei zu stärken. Die Autor*innen hingegen warnen, dass das Gesetz entgegen dieser Absicht die Medienfreiheit beeinträchtigen und neue Abhängigkeiten schaffen werde.
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An der Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht (Prof. Dr. Jan Henrik Klement), ist zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Stelle als Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in (m/w/d) oder Akademischer Rat/Akademische Rätin (m/w/d) auf Zeit zu besetzen, Stellenumfang 50-100 %. Es wird Gelegenheit zur Promotion oder zur Habilitation gegeben. Bewerbungsfrist: 15.03.2023; nähere Infos hier.
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KIMMO NUOTIO kommentiert einen finnischen Fall zu Journalisten, die 2017 Auszüge geheimer Militärdokumente veröffentlichten. Das Gericht befand, dass zwar über Machtmissbrauch berichtet werden dürfe, nicht aber Verschlusssachen veröffentlicht werden dürften, nur um Leser anzulocken. Dieser brisante Fall, bei dem beide Parteien angekündigt haben, in Berufung zu gehen, bleibe interessant, nicht zuletzt wegen des veränderten Sicherheitslage in Europa.
Olivier Vandecasteele, ein belgischer humanitärer Helfer, sitzt im Iran in Geiselhaft. Es sollte einen Gefangenenaustausch geben, doch das belgische Verfassungsgericht setzt das entscheidende Gesetz, das dies ermöglichte, aus. SARAH GANTY & DIMITRY VLADIMIROVICH KOCHENOV beanstanden, dass das Urteil kurzsichtig und unausgewogen gegenüber dem Recht auf Leben sei und zudem das Ansehen des Gerichts gefährde. Sie appellieren daher an das Gericht die selbstverschuldete Ungerechtigkeit zu korrigieren.
In Italien hat die Regierung unter Giorgia Meloni die Überstellung von Geflüchteten und damit die Bearbeitung deren Asylanträgen entgegen Dublin III vorübergehend ausgesetzt. ROSA-LENA LAUTERBACH spricht von einer Hängepartie für die Betroffenen und analysiert das asylrechtliche Niemandsland zwischen Europa und Italien.
Am 03. Februar gab das Bundesverfassungsgericht bekannt, dass Teile des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes Mecklenburg-Vorpommerns verfassungswidrig sind. THORSTEN KOCH geht der Frage nach, welche Auswirkungen das Urteil für Sicherheits- und Ordnungsvorschriften des Bundes und der anderen Länder hat.
Die wiederholte Wahl in Berlin ist keine Neuwahl. Auf den ersten Blick habe sich die Lage der SPD verschlechtert. Aber auf den zweiten Blick könne der besondere Charakter der Wiederholungswahl als auch die Eigenart des sogenannten „ewigen Senats“ die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey vor einem Machtverlust bewahren, erklärt JANNIK KLEIN.
ALEXANDER HOBUSCH greift die Debatte um den Twitter-Account von Innenministerin Nancy Faeser aus der letzten Woche auf. Er meint einiges spräche dafür, dass der beabsichtigte Wechsel von ministerialem zu privatem Account nicht vollzogen wurde.
Die Bundesregierung legte kürzlich den Entwurf für ein „Gesetz zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich“ vor. JULIA WULFF hält es für einen Papiertiger.
Neue psychogene Stoffe sei die Pest unserer Tage so LORENZ BODE. Besonders in Gefängnissen hätten sie herkömmliche Drogen weitgehend abgelöst. Meist gelangten sie auf dem Postweg durch getränktes Papier zu den Inhaftierten. Generell nur noch Briefe in Kopie an Inhaftierte herauszugeben sei aber der falsche Weg.
Schließlich gab es doch noch einen weiteren Beitrag in der Blog-Debatte Rechtsvergleichende Perspektiven zum Abtreibungsrecht, nämlich zu dem sehr besonderen Fall des Fürstentums Liechtenstein von CHRISTINA NEIER.
Das wäre es dann wieder für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche! Und wie gesagt: Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!
Ihr
Max Steinbeis
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