Notrecht am Limit
Gilt der Rechtsstaat auch bei der Rettung einer Großbank?
Die am 19. März 2023 bekannt gegebene Übernahme der Credit Suisse AG («CS») durch die UBS AG und die diesbezüglich im Eiltempo erlassenen Massnahmen und Rechtsakte eröffnen eine Flut von juristischen Streitfragen: Ist eine Fusion unter Ausschluss der Generalsversammlungen der beiden Gesellschaften von der Beschlussfassung zulässig? Stellt ein solches Vorgehen eine Verletzung konventionsrechtlich garantierter Verfahrensgarantien dar? Können Aktionäre oder anderweitig Geschädigte die getroffenen Massnahmen gerichtlich anfechten? Können die Verantwortlichen in den Verwaltungsräten für Schäden haftbar gemacht werden? Welche Rolle spielen wettbewerbsrechtliche Überlegungen bei einer Fusion der zwei grössten Banken des Landes (vgl. Art. 10 Abs. 3 KG)?
Bei der Suche nach Antworten auf diese Probleme wird man schnell auf den Dreh- und Angelpunkt der ganzen Operation stossen: Die bundesrätliche «CS-Notverordnung»? Dass Fragen dieser Tragweite durch exekutive ad-hoc Beschlüsse und nicht durch im vornherein klar in formellen Gesetzen etablierten Prinzipien beantwortet werden, wirft tiefgreifende Probleme bezüglich der Vereinbarung dieser Notrechtsbestimmungen mit der Gewaltentrennung und der Rechtsstaatlichkeit auf.
Darf die Exekutive per Verordnung vom Gesetz abweichen?
Das Notrechtsregime in der Schweiz wurde hier (im Kontext von Covid-19) bereits vorgestellt. Zur Erinnerung: Die Bundesverfassung erlaubt es dem Bundesrat, Verordnungen und Verfügungen zu erlassen, sofern die «Interessen des Landes» es erfordern (Art. 184 Abs. 3 BV bezüglich der Beziehungen zum Ausland), oder um einer «eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen» (Art. 185 Abs. 3 BV bezüglich der inneren und äusseren Sicherheit). Beim Erlass seiner CS-Notverordnung stützte sich der Bundesrat unmittelbar auf diese beiden Verfassungsbestimmungen.
Die Verordnung regelt unter anderem ein zusätzliches Liquiditätshilfe-Darlehen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) an die CS (Art. 3), Ausfallgarantien des Bundes an die SNB bezüglich dieser Darlehen (Art. 4), die Pflichten der CS als Darlehensnehmerin(Art. 9), sowie Strafbestimmungen im Falle der Verletzung dieser Pflichten aus Art. 9 (Art. 14). Art. 10a der CS-Notverordnung normiert schliesslich ebenfalls diverse Abweichungen vom regulären Fusionsrecht. So wird etwa die Notwendigkeit eines Beschlusses der beiden Generalversammlungen der Banken für eine Fusion ausgeschaltet (Art. 10a Abs. 1 lit. a CS-Notverordnung). Verschiedentlich wird diesbezüglich von einer Enteignung der Aktionäre gesprochen.
Damit werden also Gesetzesbestimmungen (konkret im Fusionsgesetz) vom Bundesrat nicht nur ergänzt, sondern abgeändert. Es handelt sich damit um Notrecht contra legem: Die Exekutive derogiert und ändert die Gesetze der Legislative. Das führt zu einer tiefgreifenden Machtverschiebung zwischen diesen Gewalten. Reguläre Gesetze werden zu Schönwetter-Paragrafen, die beim ersten Regentropfen von der Regierung beiseite gewischt werden können. Oder, wie es Kley in seiner Abhandlung zum Einsatz von Notrecht in der letzten Bankenkrise formuliert hat: «Das Notrecht lädt dazu ein, von der Rechtsordnung abzuweichen.»1)
Man könnte auch sagen: Notrecht macht faul. Es erlaubt dem Bundesrat «durchzuregieren», ohne sicherstellen zu müssen, dass die gewählten Handlungen tatsächlich auch dem geltenden Gesetzesrecht entsprechen.
Befürworter solcher weitreichenden Notrechtskompetenzen argumentieren, dass diese in der Schweiz nur in absoluten Ausnahmefällen zur Anwendung kommen und die oben formulierten Bedenken daher keine wirkliche Gefahr für den Rechtsstaat darstellen. So befasste sich das Bundesgericht in 2011 mit der Anwendung von Notrecht, um die «existenziellen Bedrohung» der «systemrelevanten Bank» UBS abzuwenden. Konkret ging es um die Weitergabe von Kundendaten der UBS durch die Schweizer Finanzmarktaufsicht an die US-Behörden, für welche es keine reguläre Gesetzesgrundlage gab, die jedoch als unumgänglich erachtet wurde, um die UBS vor potentiell fatalen Rechtsfolgen in den USA zu bewahren.
Dass Gericht entschied anhand dieser Gefahrensituation, dass die Weitergabe notrechtlich begründet werden könne, dies aber «rechtsstaatlich eine Ausnahme bleiben muss» (BGE 137 II 431, E. 4.4). Weniger als 15 Jahre später kommt es nun zu einer weiteren «Ausnahme»: Wieder weil sich eine Bank in eine existentielle Krise manövriert hat und nun wieder «die Stabilität der Schweizer Volkswirtschaft und des schweizerischen Finanzsystems» (Art. 1 Abs. 2 CS-Notverordnung) geschützt werden muss. Dazu kommt, dass die Notrechtsbestimmung nicht etwa nur bei Krisensituationen auf dem Finanzplatz zum Zug kommen, sondern auch im Rahmen von Covid-19 extensiv genutzt wurden.
Die Ausnahmen werden also zur Regel. Ní Aoláin und Gross beschreiben diesen Prozess in ihrer umfassenden Studie zum Verhältnis von Notrecht und der Rechtsstaatlichkeit folgendermassen: “As the boundaries of normalcy and exception are redefined and reshaped, the previously unthinkable may transform into the thinkable.“2) Das Undenkbare (Bankenrettung durch Notrecht) wird zuerst zur Ausnahme (UBS 2008/2009) und dann zur Norm (CS 2023), während die Norm (Anwendung der regulären Gesetzesbestimmungen) zuerst zur Ausnahme und dann gänzlich undenkbar wird.
Darf die Exekutive in Kraft gesetzte Verordnungen geheim halten?
Beinahe zum Schattenerlass verkommt die CS-Notverordnung, wenn man die Daten mit der sie in Kraft gesetzt und dann publiziert wurde, vergleicht. In der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts wird die Verordnung unter dem Publikationstyp der «dringlichen Veröffentlichung» ausgewiesen. Eine dringliche Veröffentlichung nach Art. 7 Abs. 3 Publikationsgesetz erlaubt, dass Erlasse (inkl. Verordnungen) «ausnahmsweise spätestens am Tag des Inkrafttretens» veröffentlicht werden. Der Tag des Inkrafttretens ist gemäss der Amtlichen Sammlung der 16. März 2023, während die Publikation erst am 19. März erfolgte. Während drei Tagen galt in der Schweiz damit eine nicht öffentliche Notverordnung, in welcher von diversen regulären Gesetzesbestimmungen «abgewichen» wurde (Art. 3 und 11 CS-Notverordnung; am 19. März wurde die Verordnung zudem um weitere Gesetzesderogationen ergänzt).
Auch hier lässt sich die Gefahr der Ausdehnung von Ausnahmen von regulären rechtsstaatlichen Prinzipien (i.c. dass die zum aktuellen Zeitpunkt geltenden Erlasse öffentlich sein müssen)3) nachzeichnen: Aus der ausnahmsweisen Veröffentlichung am Tag des Inkrafttretens wird kurzerhand die Publikation drei Tage nach dem Inkrafttreten.
Darf die Exekutive durch geheime Verordnungen Strafrecht erlassen?
Eng verknüpft mit der Problematik der Geheimhaltung ist auch Art. 14 CS-Notverordnung, welcher eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe für die vorsätzliche Verletzung der Pflichten aus Art. 9 CS-Notverordnung aufstellt. Das Bundesgericht hat zwar den Erlass von Strafnormen durch bundesrätliche Notverordnungen in der Vergangenheit als rechtmäßig erachtet.4) Diese Praxis biegt die in einem Rechtsstaat geltenden Grundnormen jedoch bis zum Brechen. Wie Niggli aufzeigt, sind Strafen eine Reaktion auf die Verletzung von «sozial bedeutsame[n] Wertvorstellung[en]». «Für Wertvorstellungen aber [so Niggli] ist in einem Rechtsstaat weder die Regierung noch die Verwaltung zuständig, sondern ausschliesslich der Souverän.»
Die sozial bedeutsamen Wertvorstellungen, deren Verletzung eine Strafe rechtfertigt, werden mit der CS-Notverordnung nicht nur ausschliesslich durch die Exekutive bestimmt. Sie sind für drei Tage sogar im Geheimen angeordnet worden. Eine gesellschaftliche oder parlamentarische Debatte, ob die Pflichten, deren Verletzung unter Strafe gestellt wurde, als «sozial bedeutsame Wertvorstellungen» zu klassifizieren sind oder nicht, war damit nicht einmal im Ansatz möglich. Statt der 246 Mitglieder der Bundesversammlung unter Beizug der Stimmberechtigten im Falle eines Referendums, entscheiden nun 7 Bundesräte mit geheimen Verordnungen, was in der Schweiz strafbar ist und was nicht.
Wird das Notrecht zu einer systemischen Gefahr für den Rechtsstaat?
Als das Bundesgericht in 2011 die Weitergabe von Kundendaten der UBS an die USA als rechtmäßig erachtete, war dies insbesondere auch mit der «systemischen Bedeutung» der Bank für die Schweizer Wirtschaft begründet (vgl. BGE 137 II 431 4.2 ff.). Nach der anhaltenden Proliferation der Verwendung von Notrecht durch den Bundesrat in allerlei Sachbereichen, muss man sich mehr und mehr fragen, ob das Schweizer Notrechtregime zu einer systemischen Gefahr für den Rechtsstaat geworden ist.
Konfrontiert mit der habituellen Verletzung von Rechtsnormen in Krisensituationen, kam der amerikanische Verfassungsrechtler Gross zum Schluss, man könne sich die Versuche, eine Notsituation rechtlich zu regeln, eigentlich sparen.5) Die einzige Kontrolle in einer Notsituation sei der demokratische Prozess; mit anderen Worten: Das Verhalten der Politik in der Krise könne man nur auf der Strasse oder an der Wahlurne, aber nicht im Gerichtssaal kontrollieren. Einer solchen defätistischen Selbstaufgabe kann kein Rechtsstaat folgen. Nicht zuletzt, weil die rechtliche Toleranz gegenüber Rechtsbrüchen im Notstand, diese legitimiert und damit die Strukturen für deren Ausbreitung und Anwendung in weiteren Fällen schafft.
Dabei ist essenziell, dass die gerichtliche Akzeptanz einer unrechtmäßigen Notstandshandlung diese Handlung noch einmal deutlich gefährlicher macht. Ein unrechtmäßiger Beschluss der Exekutive bleibt genau das: unrechtmäßig. Eine Abweichung vom rechtsstaatlichen Zustand. Wenn ein Gericht einen solchen Beschluss hingegen mittels akrobatischer juristischer Konstruktionen als rechtmäßig akzeptiert, wird er zum Präzedenzfall. Ein Präzedenzfall, der jedes Mal ins argumentative Feld geführt werden kann, wenn die Exekutive wieder in dieser Art und Weise vorgehen will.
Besonders illustrativ zeigt dies Justice Jackson in seinem dissent in Korematsu auf, einem Fall des US Supreme Court zur Rechtmäßigkeit der Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs:
„A military order, however unconstitutional, is not apt to last longer than the military emergency. […] But once a judicial opinion rationalizes such an order to show that it conforms to the Constitution, or rather rationalizes the Constitution to show that the Constitution sanctions such an order, the Court for all time has validated the principle […]. The principle then lies about like a loaded weapon ready for the hand of any authority that can bring forward a plausible claim of an urgent need. Every repetition imbeds that principle more deeply in our law and thinking and expands it to new purposes.“6)
Kaum jemand wird darauf vertrauen, dass zukünftige Bankenkrisen nach den Regeln abgewickelt werden, welche zweifelslos im Nachgang an die aktuelle Krise erlassen werden. (Banken-)Krisen und Notrecht werden mehr und mehr aneinandergeschweißt. Jede weitere Anwendung von Notrecht stärkt die Erwartung, dass in der Schweiz in der Not das Gesetz schweigt. Gänzlich anders hatte sich noch Lord Atkin in seinem dissent in Liversidge v Anderson geäußert, einem Fall der die Tragweite der Internierungskompetenz des Britischen Home Office während des Zweiten Weltkriegs betraf: „In England, amidst the clash of arms, the laws are not silent. They may be changed, but they speak the same language in war as in peace.“7)
Man kann nur hoffen, dass am Bundesgericht in Lausanne bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Notrechtsanwendung ein englischer Wind wehen wird.
References
↑1 | Andreas Kley, Die UBS-Rettung im historischen Kontext des Notrechts, ZSR 2011 I, S. 124. |
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↑2 | Fionnuala Ní Aoláin/Oren Gross, Law in Times of Crisis: Emergency powers in theory and practice, Cambridge 2006, S. 228. |
↑3 | Vgl. Joseph Raz, The Authority of Law, Oxford 1979, S. 214. |
↑4 | Vgl. BGE 123 IV 34, 122 IV 261. |
↑5 | Oren Gross, Chaos and Rules: Should Responses to Violent Crises Always Be Constitutional?, YLJ 2003 112, S. 1019 ff. |
↑6 | Jackson J (dissent) in Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944), S. 246. |
↑7 | Lord Atkin (dissent) in Liversidge v Anderson , [1942] AC 206, S. 244 f. |