Selbstbestimmt, aber ausgeschlossen?
Überlegungen zu Art. 3 GG anlässlich des Referentenentwurfs zum Selbstbestimmungsgesetz
Am 5. Mai 2023 legte das BMFSJ den Referentenentwurf (RefE) zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vor, der vorsieht, das Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister zu vereinfachen. Die Resonanz unter Betroffenenverbänden auf diese epochale Neuerung ist im Grundsatz positiv. Im Detail allerdings hat der RefE schon jetzt, das heißt noch vor der Auswertung des Stellungnahmeverfahrens, profunde Kritik etwa in Bezug auf das Haus- und Abstammungsrecht sowie den Verteidigungsfall (etwa hier und hier) erfahren. Mit den paternalisierenden Tendenzen der bedingten Rechtswirksamkeit der Änderungserklärung sowie im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit Minderjähriger setzte sich schon Ronja Heß auseinander. Dass bisher vor allem Freiheitsaspekte der „Selbstbestimmung“ besprochen wurden, mag in der Ausrichtung des RefE auf den Personenstandseintrag begründet liegen. Doch ist rechtliche Freiheit ohne substanzielle Gleichheit nicht denkbar. Der vorliegende Beitrag mahnt daher auch eine unzureichende Reflexion der Geschlechtergleichheit an, die in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG statuiert und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdifferenziert ist. Nicht umsonst stützte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung zur “Dritten Option“ nicht nur auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. GG), sondern auch auf das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 S. 1 GG. Dem gleichheitsdogmatischen Umwälzungspotential, das der Marge zwischen Vulnerabilitätsdoktrin und Förderauftrag erwächst, wird der RefE nicht gerecht. Bedenklich sind die §§ 6 und 7 SBBG-RefE, die nicht-binäre Personen von positiven Maßnahmen ausnehmen.
Status quo: Frauenförderung wider strukturelle Benachteiligung
Der RefE verpasst es, die Gleichheit in der Geschlechterdimension über die binäre Vergleichslogik Frau/Mann hinaus weiterzuentwickeln. Frauenquoten, ob in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst, zählen zu den am stärksten umkämpften Errungenschaften feministischer Rechtskämpfe, wie sich auch deutlich an der Debatte um ein paritätisches Wahlrecht abzeichnet. Die Vehemenz, mit der diese Teilhaberechte für den politischen Raum mitunter abgelehnt werden, stimmt doch verwunderlich angesichts der Konsolidierung der Frauenförderung im Grundgesetz. Denn Art. 3 II 2 GG lautet:
„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Auch wenn Details, insbesondere die Frage nach Chancen- oder Ergebnisgleichheit, das Verhältnis zu anderen Gleichheitssätzen und Gewichtungsentscheidungen bei der Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern umstritten sind, ist damit doch fraglos eine verfassungsrechtliche Grundlage für materiale, konkret-asymmetrische Gleichheit geschaffen worden. „Der Satz ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen. […] Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden“, meinte schon das Bundesverfassungsgericht in der reichlich rezipierten “Nachtarbeitsentscheidung“, noch vor der Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG um das Gleichstellungsgebot im heutigen Satz 2. Anders als ein formales Differenzierungsverbot erkennt damit Art. 3 Abs. 2 GG erstens strukturelle Benachteiligung – und damit die Vulnerabilität von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft – an und ermöglicht zweitens positive Maßnahmen zur Herstellung faktischer Gleichberechtigung. Der Absatz reagiert damit auf konkrete Lebenssachverhalte und tariert Asymmetrien aus.
Ausrichtung an einer binärgeschlechtlichen Quotenpraxis im RefE
Positive Maßnahmen in Form von Quoten und Gleichstellungsbeauftragten sollen nach dem RefE nun weiterhin nach einer binärgeschlechtlichen Logik operieren. § 6 Abs. 1 RefE SBBG bestimmt, dass der jeweils aktuelle Geschlechtseintrag und die jeweils aktuellen Vornamen im Rechtsverkehr maßgeblich sind, soweit auf die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung oder die Vornamen Bezug genommen wird und durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Diese als unscheinbare „Klarstellungsvorschrift“ daherkommende Regelung hat es in sich. Ein Blick in die Begründung des Entwurfes verdeutlicht das:
„Der jeweils aktuelle Geschlechtseintrag im Personenstandsregister ist etwa bei Regelungen relevant, die das Ziel verfolgen, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verwirklichen, bestehende Benachteiligungen auf Grund des Geschlechts, insbesondere Benachteiligungen von Frauen, zu beseitigen und künftige Benachteiligungen zu verhindern (zum Beispiel Regelungen zu Arbeitsplatzausschreibung, Bewerbungsgesprächen und Auswahlentscheidungen in der Bundesverwaltung und in den Gerichten des Bundes, soweit für die Berufung von richterlichem Personal keine Wahl oder die Mitwirkung eines Wahlausschusses vorgeschrieben ist, §§ 6 bis 8 BGleiG).“
Die Ausführungen zu § 7 nehmen abermals auf § 6 Bezug:
„Nicht erfasst vom Wortlaut des § 7 SBGG sind [hingegen] die Ämter der Gleichstellungsbeauftragten und ihrer Stellvertreterinnen nach § 19 Absatz 4 Satz 2, Absatz 5 BGleiG sowie der Vertrauensfrauen nach § 20 Absatz 4 Satz 4 BGleiG. Die Geltung der Regelung des § 6 SBGG, wonach auf den jeweils aktuellen Geschlechtseintrag abgestellt wird, ist in diesen Fällen sachgerecht. In Bezug auf die Ämter der Gleichstellungsbeauftragten und ihrer Stellvertreterinnen kommt ein passives Wahlrecht ausschließlich den weiblichen Beschäftigten der Dienststelle zu. Auch zur Vertrauensfrau dürfen nur weibliche Beschäftigte bestellt werden.“
Auch führt die Änderung der Geschlechtszuordnung während der laufenden Amtszeit aufgrund des damit verbundenen Wegfalls der Wählbarkeit beziehungsweise subjektiven Voraussetzung der Bestellbarkeit zu einem automatischen und sofortigen Ausscheiden aus dem Amt.
§ 7 selbst widmet sich daneben Quotenregelungen ausdrücklich. Als Anwendungsbereiche verbleiben in Zusammenwirken mit § 6 Verfahren nach dem Bundesgremienbesetzungsgesetz, dem Mitbestimmungsgesetz, dem Mindestlohngesetz und SGB III, IV und V sowie nach dem Gesellschaftsrecht (etwa die feste Mindestquote nach § 96 Abs. 2 AktG). § 7 Abs. 1 SBBG-RefE erklärt auch hier das im Personenstandsregister eingetragene Geschlecht der Mitglieder zum Zeitpunkt der Besetzung für maßgeblich. Die Satzungsautonomie privater Vereinigungen bleibt, soweit es keine zwingenden gesetzlichen Vorgaben gibt, unberührt.
Die §§ 6 und 7 RefE bekunden damit ein prononciertes Bemühen der Rechtsetzung, die überkommene soziale Geschlechterordnung vor der „Dritten Option“ zu konservieren.
Verfassungsdogmatik und Konfliktvermeidung zulasten von nicht binären Menschen
Die Begründung zum RefE nimmt nicht nur auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Schutz der geschlechtlichen Identität, sondern auch auf das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 GG Bezug (RefE, S. 19). Explizierte Zielsetzung ist gleichwohl nur der Schutz der geschlechtlichen Identität (RefE, S. 25). Geschützt werden soll also vor allem die Freiheit, der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen: Selbstbestimmung ist – eingedenk paternalistisch anmutender Einschränkungen in den §§ 4 und 5 RefE – Programm. Allerdings kommt Freiheit in der Rechtsgemeinschaft nicht ohne Gleichheit aus. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG konkretisiert sich in Freiheits- und Gleichheitsrechten. Liberalistische Ansätze ringen hier mit partizipatorischen bzw. pluralistischen um abstrakt-symmetrische (formale) und konkret-asymmetrische (materiale) subjektive Gleichheit. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht eine fehlende personenstandsrechtliche Registrierungsmöglichkeit entsprechend der Geschlechtsidentität abseits der Kategorisierungen männlich und weiblich im Beschluss zur „Dritten Option“ auch nicht nur als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, sondern auch als Verstoß gegen das Unterscheidungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG gewertet. Das hatte Neuheitswert in zweierlei Hinsicht. Einerseits aktivierte der Erste Senat das konventionelle Unterscheidungsverbot auch für den Diskriminierungsschutz von Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. Umbruchspotential birgt aber darüber hinaus die Anerkennung struktureller Diskriminierung in der Geschlechterdimension über die Vergleichslogik Mann/Frau hinaus:
„Die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft besonders hoch.“ (Rn. 59).
Die „Dritte Option“ hat mit diesem Satz ein strukturelles Diskriminierungsverständnis in den juristischen Diskurs eingebracht, das auf den machttheoretischen Ansatz feministischer Rechtswissenschaft rekurriert. Liest man den Beschluss – konkret: die Einführung des Konzepts der Vulnerabilität sowie das Abstellen auf eine selbstbestimmte Geschlechtsidentität – unter Berücksichtigung poststrukturalistischer und postkategorialer Theorie, so lauten die Zwischentöne: Das Patriarchat benachteiligt nicht nur Frauen, sondern alle nicht hegemonial-männlich “Anderen“. Der Beschluss denkt „Geschlecht“ neu, löst nämlich erstens das geschlechterbezogene Gleichheitsnarrativ aus der binären Vergleichslogik Frau/Mann und fordert zweitens die Systematik der Absätze 2 und 3 des Art. 3 GG heraus. Die systematische Inkohärenz suchte der Erste Senat mit folgender Klarstellung zu lösen:
„Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt (BVerfGE 85, 191 [206 f]). Seit 1994 betont Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis.“
Keine Freiheit ohne substanzielle Gleichheit
Es stellt sich die Frage: In welchem Geschlechterverhältnis? (Verfassungs-) Recht als Instrument gesellschaftlicher Ordnung hat seine Kategorisierungsleistungen mindestens nach dem Kohärenzprinzip zu rechtfertigen. Das misslingt de lege lata und zwar zu Lasten von Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. Das Grundgesetz beantwortet die strukturelle Vulnerabilität von Frauen und enby-Personen unterschiedlich: Für erstere kommen auch asymmetrische positive Maßnahmen in Betracht, letztere dürfen nicht diskriminiert werden. Die „Dritte Option“ ist nicht nur, aber vielleicht gerade wegen dieser Widersinnigkeit wertvoll für die Revision der gesamten Gleichheitsdogmatik. Konkret kollidiert hier der eingeführte strukturelle Diskriminierungsbegriff („Vulnerabilität“) mit der bisherigen Rechtfertigung für positive Maßnahmen. Der RefE führt dies nun deutlich vor Augen, dessen §§ 6 und 7 eine binaristische Förderpolitik konservieren. Nicht-binäre Personen verlieren mit dem Zeitpunkt der Änderung des Geschlechtseintrags den Zugang zu positiven Maßnahmen, die ihnen möglicherweise als „Frauen“ noch zustanden. Die neue Freiheit zur Selbstbestimmung ist kostspielig, solange die Wechselwirkungen mit der faktischen Gleichheit übersehen werden. Der Sinngehalt dieser binären Logik des materialen Gleichheitssatzes des Absatzes 2 reduziert sich aus der Perspektive der machttheoretischen Ansätze aber auf den eines historischen Reliktes früherer Gleichheitskämpfe und die letzte Zuflucht einer konservativen Diskurshoheit. Pikant in diesem Zusammenhang ist insbesondere die Heraufbeschwörung von Lagerkämpfen zwischen Frauen und Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität. Hier geht es um vermeintliche oder reale Ängste von Frauen, dass die Ihnen zugestandenen Schutzräume – seien es nun Quoten, Damentoiletten oder Frauensaunen – durch den RefE genommen würden. Der RefE will darauf mit dem „Saunaparagrafen“, also der Sicherung des Hausrechts in § 6 Abs. 2 reagieren. Dass Transfrauen hier auch nach geltendem Recht grundsätzlich Zugang haben, wird unterschlagen.
Daher handelt es sich bei der Heraufbeschwörung etwaiger Angstfantasien offensichtlich um transfeindliche Narrative, die in der Sache ins Nichts führen: Wären Übergriffe bis dato in entsprechender Häufigkeit zu verzeichnen gewesen, dann wäre ein darauf zugeschnittenes Schutzgesetz die wohl passgenauere Regelungsoption als die Nebenklausel im SBBG-RefE. Hier wird die ganz reale Angst von Frauen vor struktureller sexualisierter Gewalt – nicht von Transmenschen, sondern Männern – pervertiert und instrumentalisiert, um ein Projekt zu diffamieren, das Ungleichheit und Unfreiheit unter den Geschlechtern doch gerade demontieren soll. Der Diskursstrang um Saunen und Toiletten lässt sich auch als Kollision von Differenz- und Dominanzfeminismen, alternativ genealogisch als Kampf der 2nd-wave Feminist:innen gegen 3rd-wave Feministinnen framen und sicher ließen sich noch andere, vermeintliche Pattsituationen heraufbeschwören. Die Substanzlosigkeit dieser „Kämpfe“ verdeutlicht, dass hier eine hegemoniale Sprecherposition die Karten zinkt, um ihre Deutungshoheit zu sichern: divide et impera – das ist nichts Neues.
Notwendigkeit dezidierter Fördermaßnahmen für nicht-binäre Menschen
In Bezug auf Quoten und Gleichstellungsbeauftragte ist nunmehr eine „typisierende Kompensation“ signifikanter struktureller Benachteiligung auch für nicht-binäre Menschen dringend erforderlich. Da das personenstandsrechtliche Änderungsverfahren vereinfacht wird, ist es künftig zur Vermeidung von missbräuchlicher Inanspruchnahme von Fördermaßnahmen wohl grundsätzlich angemessen, auf den Geschlechtseintrag abzustellen. Der Zugang zu positiven Maßnahmen (über die selbstbestimmte Zuordnung zu einer rechtlichen Kategorisierung wie „Frau“, „divers“ und ohne Geschlechtseintrag) sollte jenen vorbehalten bleiben, die auch tatsächlich benachteiligt werden. Das dient der Rechtsklarheit, wie ein Fall vor dem Bundesschiedsgericht der GRÜNEN demonstriert: Weil § 3 Abs. 1 des Parteistatutsdas Prinzip der geschlechtlichen Selbstbestimmung zugrunde legt, stand das Gericht jüngst vor der unglücklichen Herausforderung, zwischen den Missbrauchsvorwürfen eines Kreisverbands und dem Selbstbestimmungsrecht der antragstellenden Person vermitteln zu müssen. Hier geht es um den Zugang zur rechtlichen Kategorisierung „Frau“, aus der die Berücksichtigung bei positiven Maßnahmen folgt. Wenn die Inanspruchnahme partizipativer positiver Maßnahmen wie Frauenquoten und Gleichstellungsstellen aber, wie das Schiedsgericht meinte, eine „eindeutige“ – und nach Inkrafttreten des SBBG dementsprechend eingetragene weibliche – Geschlechtsidentität voraussetzt, sind nach dem Vulnerabilitätsgrundsatz zusätzliche vergleichbare Strukturen für Personen mit nicht-binärem Geschlechtseintrag zu schaffen. Exemplarisch sei hier auf die universitätsinterne Umsetzung der Frauenförderpläne nach den Landesgleichstellungsgesetzen hingewiesen. Frauen(*)beauftragte werden sich in Zukunft die Frage stellen müssen, ob sie das Sternchen aus ihrem Namen zu streichen haben, das heißt: zu wessen Vertretung sie überhaupt berufen sind. Schon jetzt werden Anliegen geschlechtlicher Vielfalt mitunter von sogenannten Antidiskriminierungsreferaten verhandelt. Das Bremische Hochschulgesetz etwa verpflichtet die Universität nach einer Novelle im März 2023 in einem neuen § 5b, ein:e Beauftragte:r für Diversität und Antidiskriminierung zu bestimmen. Durch den Verweis auf das AGG (§ 4 XI BremHG) korrespondiert die Vorschrift wiederum mit Art. 3 Abs. 3 GG. Das konkretisiert für den Bereich Gleichstellung in der Öffentlichen Verwaltung die grundgesetzlichen Parameter: Besondere Berücksichtigung von Frauenförderung – und dann noch einen „Topf“ für alle anderen „Anderen“. Ob die Beauftragten diesem diversen Anforderungsbereich gerecht werden können, wird wohl von den zur Verfügung gestellten Geldern und der Qualifizierung des Personals abhängen. Und hier bleibt die Durchsetzungskraft des Gleichberechtigungssatzes aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG hinter dem expliziten Förderauftrag des Abs. 2 zurück. Das korrespondiert mit der salvatorischen Rechtsprechung des Ersten Senats (s. o.) zum Verhältnis der beiden Absätze zueinander, konfligiert aber mit dessen Gedanken zur Vulnerabilität.
Systematisch überzeugend: Revision des Art. 3 GG
Es handelt sich jedenfalls um eine Binnenhierarchisierung zwischen und innerhalb von Ungleichheitsdimensionen. Nimmt man die Einführung der Vulnerabilität, das heißt die Berücksichtigung tatsächlicher gesellschaftlicher Ungleichheitsphänomene, in den Rechtsdiskurs aber ernst, so erscheint nicht nur die unterschiedliche rechtliche Behandlung der Diskriminierung von Personen mit weiblicher und nicht-binärer Geschlechtsidentität hinsichtlich des Zugangs zu positiven Maßnahmen rechtfertigungsbedürftig: Vielmehr entfaltet hier die „Dritte Option“ ihre intersektionale Sprengkraft. Denn dann wäre zu fragen, welche Ordnungsstrukturen weitere strukturelle Vulnerabilität von Kollektivitäten erzeugen. Der auch in Deutschland gemächlich einsetzenden Institutionalisierung (siehe auch hier und hier) einer deutschen Critical Race Theory sind mittlerweile wertvolle Erkenntnisse über Ungleichheit in einer nicht nur patriarchalen und postnationalsozialistischen, sondern auch postkolonialen Gesellschaft zu verdanken. Der logische Schluss ist die Forderung substanzieller Gleichheit. Eine Ergänzung des Grundgesetzes um einen „Förderauftrag zur tatsächlichen Durchsetzung der rassischen Gleichberechtigung“ (wieder hier) oder aber eine asymmetrische Auslegung des Absatzes 3 als Grundrecht mit nachteilsausgleichendem Gehalt können diese rechtlich ermöglichen. Das entspricht der hier am Bespiel der geschlechtlichen Identität vorgetragenen Revision der verfassungsrechtlichen Gleichheit. Art. 3 Abs. 3 GG ist auf seine Bedeutung als Diskriminierungsverbot in einer von struktureller Ungleichheit durchzogenen Gesellschaft hin zu prüfen. Möglicherweise weist das Bundesverfassungsgericht der künftigen Gleichheitsdogmatik in dieser Hinsicht den Weg – wie schon damals in der Nachtarbeitsentscheidung.
Ich lobe den Beitrag dafür, dass er nicht allzu viel an der Dogmatik von Art. 3 GG rumdoktort, sondern eine Verfassungsänderung als wesentliches Argument der Weiterentwicklung anführt – damit hat er an Ehrlichkeit anderen Beiträgen viel voraus.
Andererseits ist die interessante Frage bei Gleichheitsproblemen ja immer, wodurch man eine “materielle” Definition von Gerechtigkeit abseits von einer “nur formellen” intersubjektiv greifbar will. Meiner Meinung nach ist das unmöglich weil die Präferenzrelationen unterschiedlicher Menschen bei sozialen Fragen immer global intransitiv sind – das weiß man ja schon aus der Sozialwahltheorie.
Ich finde im Übrigen auch witzig, dass hier wie bei anderen Beiträgen versucht wird, “offensichtlich transfeindliche” Narrative von außen herbeizureden. Ich bin nun kein Mitglied irgendeiner kritischen Garde von Juristinnen und kenne die genauen Machtstrukturen innerhalb der Organisationen nicht, allerdings handelt es sich dabei aus etwas weiter entfernter Sicht weniger um einen Fall von “divide et impera”, sondern eher um einen Fall einer kognitiven Verzerrung namens “out group homogeneity”, bei der selbst einem nahestehende Personen zugeschrieben wird, aufgrund von kleinen Unterschieden wesentlich anders zu sein als die eigene Gruppe und zu “den anderen” zu gehören. Das ist ja ein allgemeines Problem von Gruppierungen, die sich maßgeblich Werten verschreiben. Irgendwann implodiert jede “wertebasierte” Gruppierung ohne relativ festes Dogma in sich selbst, weil es eine Eskalation der Forderungen gibt, um die eigene Existenzberechtigung nicht infrage zu stellen. Religionen haben immerhin irgendwo unter den Detailfragen noch Gott.
Das Problem scheint mir weniger im geplanten Gesetz als im bestehenden Recht zu liegen, an das die Entwurfsverfasser wohl mit minimalen Anpassungen anschließen wollen. Insofern kann man dem Gesetzentwurf jedenfalls zugute halten, dass er zusammen mit der Diskussion über Geschlechter sehr geeignet ist, die Widersprüche und Verrücktheiten unseres gesellschaftlichen wie auch rechtlichen Umgangs mit geschlechtlicher Differenz unübersehbar zu machen – und stellenweise ad absurdum zu führen:
Die verfassungsrechtlich (!) vorgesehene Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer, im direkten Gegensatz zu den Prinzipien von Gleichberechtigung und Gleichheit vor dem Gesetz, ist schon seit längerer Zeit nur als anachronistisch zu bezeichnen; wenn aber zudem die rechtlich verbindliche Einstufung als weiblich, männlich, divers zukünftig auf einer bloßen willkürlichen Erklärung beruht, kann sich dieser Widerspruch doch weniger leicht im Dunst der verinnerlichten Vorstellungen verstecken, dass Männer und Frauen eben verschieden seien. (Nicht selbstbestimmt und von den Rechten auf körperliche Unversehrtheit und allgemeine Freiheit ausgeschlossen, könnte man dazu sagen.)
Gerechtigkeit und Gleichbehandlung sollten primär für Einzelpersonen angestrebt werden, nicht Kollektive. Dass Frauenquoten offenbar als große Errungenschaft gelten, spricht allerdings Bände über die im Feminismus dominierende asymmetrisch-kollektive Sichtweise.
Dabei hat Asymmetrie in anderer Weise durchaus ihren Platz; so gibt es kein Symmetrieprinzip, aus dem sich eine Gleichverteilung der Geschlechter über alle Lebensbereiche ergeben würde. Auch die Betrachtung von Kollektiven kann eine entscheidende Methode sein, um Ungleichheit festzustellen; bei der Beseitigung etwaiger Nachteile macht man es sich aber viel zu einfach: Ursachen und Mechanismen sowie die darauf zurückzuführende Quantität einer Benachteiligung müssten etwa zumindest ansatzweise ermittelt werden, damit man passende Maßnahmen dagegen ergreifen könnte.
(Zum Thema Wahlrecht habe ich in Kommentaren schon aufgezeigt, dass man den Einfluss der Wählenden auf die geschlechtliche Zusammensetzung einer Volksvertretung leicht steigern könnte, unter Wahrung der demokratischen Wahlrechtsprinzipien und sogar mit einer Erhöhung der Wahlfreiheit. Sollte ein Mangel an Kandidaturen das Hindernis sein, wären ggf. statt des Wahlrechts die Bedingungen der Mandatsausübung in den Fokus zu nehmen.)
Durchaus verrückt erscheint mir allerdings auch die Tatsache, dass die Frauenbeauftragten nur in Gleichstellungsbeauftragte umbenannt wurden, ohne eine neue Konzeption ihrer Wahl. Die “Gleichstellung” oder Beseitigung bestehender Nachteile wird also in der Praxis überwiegend als bloße Frauenförderung interpretiert (so auch im Artikel), die “positiven Maßnahmen” bleiben demzufolge exklusiv für Frauen. Aber es wäre nicht ausreichend, diese “überkommene soziale Geschlechterordnung” nun zu einer ähnlich verfassten Dreiheit umzubauen. Wer “tatsächlich benachteiligt” ist, hängt nicht einfach vom Geschlecht(seintrag) ab, denn: “Das Patriarchat benachteiligt nicht nur Frauen, sondern alle nicht hegemonial-männlich “Anderen“.”
Tatsächlich wird den Erwartungen an ein hegemonial-männliches Ideal nämlich kaum ein Mann genügen können. Die aus der Gesellschaftsstruktur resultierenden Nachteile für Männer mögen vielfach andere sein, aber sie auszublenden oder zu einer Nebensache zu erklären, ist aus meiner Sicht sehr schädlich: Aus einer Denk- und Handlungsweise, die von einer kollektiven und derart asymmetrischen Perspektive durchdrungen ist, kann schwerlich eine gleichere und gerechtere Gesellschaft hervorgehen, und gerade bei Strukturen, die eine “konkret-asymmetrische Gleichheit” zum Ziel haben sollen, besteht die Gefahr, dass sie nicht nur neue Ungleichbehandlung bewirken, sondern auch bestehende Asymmetrie perpetuieren.
Einer Gerechtigkeit für alle – egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft, etc. – kann man nur näher kommen, wenn man sie nicht als Verkörperungen eines Kollektivs, sondern als Individuen behandelt.
Bezugnehmend auf meinen obigen Beitrag wollte ich noch zusätzlich auf folgende Stellungnahme des lesbischen Aktionszentrums hinweisen
https://www.laz-reloaded.de/stellungnahme-lesbisches-aktionszentrum-laz-reloaded-e-v-zumreferentenentwurf-des-bundesministeriums-fuer-familie-senioren-frauen-undjugend-und-des-bundesministeriums-der-justiz-vom-09-mai-2023/
Insoweit finde ich die Aussagen, Kritik gegen das Gesetz käme nur aus der Richtung “patriarchaler” Mächten noch amüsanter. Insoweit klingen die Aussagen dazu noch mehr nach “manufactured consent”, wie es Chomsky einst gennant hat.