Offener Zugang zum Grundgesetz
Zum Stand der Verfassungsrechtsvermittlung
Weltweit erstarken autoritäre Kräfte, die sich offen gegen demokratische Strukturen wenden. Politik, Wissenschaft und Gesellschaft diskutieren zurzeit intensiv darüber, wie sich Verfassungen, Verfassungsorgane und –prozesse als Grundlagen von Demokratie und Rechtstaatlichkeit besser schützen lassen. In der Rechtswissenschaft ist dabei zumeist von dem klassischen Instrumentarium der wehrhaften Demokratie die Rede (zum Beispiel hier und hier). Kaum eine Rolle spielt dagegen das Thema der Verfassungsrechtsvermittlung – obwohl für die Rechtsbefolgung und damit für die Resilienz der Verfassungsordnung Normverständnis bekanntlich viel wichtiger ist als Zwang.1) Politische Bildung in den Schulen ist so etwas wie die „Feuerwehr der Demokratie“. Welchen Beitrag aber leistet die Rechtswissenschaft, Verständnis für und Einsicht in den Wert unserer Verfassung zu fördern? Wie steht es überhaupt um ihr Verhältnis zur verfassungsrechtlichen Bildung?
Verfassungsrechtsvermittlung in der Rechtswissenschaft
Nach über 75 Jahren Grundgesetz besinnt sich die Rechtswissenschaft zwar der Bedeutung dieser Frage, wie die kürzlich im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 71 (2023) erschienenen Beiträge von Fabian Michl zur Verfassungsvermittlung und von Maximilian Steinbeis zum Verfassungsmissbrauch bezeugen. Sie verharrt aber bei der Diagnose, ohne daraus Schlüsse zu ziehen, wie eine weitergehende Öffnung ihrer eigenen Disziplin in die Gesellschaft gelingen könnte. Bis auf wenige Formate – man denke an den TV-Auftritt des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle in der SWR Extra Sendung „Im Namen des Volkes – Deutschland fragt zum Grundgesetz“ beschränkt sich rechtswissenschaftliche Verfassungsrechtsvermittlung weit überwiegend auf die Hörsäle und gelegentliche Stellungnahmen für Rundfunk und Fernsehen. Im Übrigen findet rechtswissenschaftlicher „Schutz der Verfassung“ hinter der Paywall statt: Das in der Rechtswissenschaft etablierte Publikationssystem bedingt, dass wissenschaftliche Erörterungen verfassungsrechtlicher Fragen Bürger:innen (digital und damit niedrigschwellig abrufbar) im Regelfall nur über kostenpflichtige, für viele nicht erschwingliche Datenbankmodule oder Zeitschriftenabonnements, also im Endeffekt überhaupt nicht zugänglich sind.
Dem Gegenstand nach geht Verfassungsrechtsvermittlung über Verfassungsvermittlung hinaus: Im Vordergrund steht nicht nur die breite Vermittlung von Akzeptanz für das Grundgesetz als Fundament des Staates und dessen Bedeutung, sondern die Vermittlung von (Fach-)Wissen über Verfassungsrecht. Verfassungsrechtsvermittlung will ein Verständnis für die wissenschaftlich diskutierten Zusammenhänge und Auswirkungen von Grundrechten, Staatsorganisation und Staatsstruktur erzeugen und in breitere Bevölkerungsschichten tragen. Wissen als Folge einer Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs ist die Grundlage von Akzeptanz, die jeder (jedenfalls öffentlich stattfindende) wissenschaftliche Diskurs über die Verfassung braucht. Insofern setzt Verfassungsrechtsvermittlung erfolgreiche Verfassungsvermittlung voraus. Die Bedeutung der Verfassung zu kennen, ist eine Grundbedingung für ein weitergehendes Interesse an der vertieften Auseinandersetzung mit den Einzelheiten des Verfassungsrechts. Das wiederum kann nur gelingen, wenn der wissenschaftliche Diskurs ein Mindestmaß an (jedenfalls passiver) Teilhabe zulässt, indem er sich öffnet: formell durch einen barrierefreien Zugang und materiell durch eine verständliche Sprache. Nur dann kann Verfassungsrechtsvermittlung gelingen.
Öffnung der Rechtswissenschaft als Open Science
Potentiale einer solchen Öffnung der Wissenschaft werden unter dem Schlagwort Open Science erforscht. Open Science hat viele Facetten: Da sind zunächst die Output-orientierten Formate des Open Access (der offen lizenzierte Zugang zu Forschungsliteratur), der Open Data (offener Zugang zu Forschungsdaten) und der Open Educational Resources (der offen lizenzierte Zugang zu Lehrmaterialien). Open Science geht aber darüber hinaus, in dem auch das wissenschaftliche Arbeiten selbst auf seine Öffnungspotentiale untersucht wird. Dies kann unter den Aspekten von Diversität (wie personell und thematisch inklusiv forschen wir eigentlich?) und der Qualitätskontrolle (wie transparent machen wir die Bewertung wissenschaftlicher Arbeit?) geschehen. Für die Verfassungsrechtsvermittlung aber noch dringlicher zu diskutieren sind die Öffnungspotentiale hin zur Bürger:innenschaft, die unter dem Schlagwort Citizen Science firmieren. Deren Vorzüge liegen auf der Hand: Die Einbindung von Bürger:innen in die herrschaftslegitimierende Produktion von Rechtswissen eröffnet Möglichkeiten der Partizipation und demokratischen Teilhabe und sollte deshalb wichtiger Baustein einer offeneren Rechtswissenschaft sein.
Open Access zu Kommentarliteratur
Es bedarf dafür gar nicht notwendig einer Wissenschaft mit den Bürger:innen; schon das Konzept eines Open Access zu Forschungsliteratur ist von der Idee getragen, eine Selbstermächtigung der Bürger:innen zu ermöglichen und Wissenschaft frei rezipierbar zu machen (d.h. Wissenschaft für die Bürger:innen). Bereits ein offener Zugang zu Forschungsergebnissen verbessert nachweislich den Wissenstransfer in die Gesellschaft. Die Idee, die Rechtswissenschaft in den zivilgesellschaftlichen Raum zu öffnen, verlangt dort umso stärker nach ihrem Recht, wo es um die normativen Grundbausteine unseres Gemeinwesens geht. Wie steht es aber nach 75 Jahren Grundgesetz um frei zugängliche rechtswissenschaftliche Erläuterungen der deutschen Verfassung?
Ein erstes Schlaglicht auf den Komplex wirft der Bürgerkommentar von Christof Gramm und Stefan Ulrich Pieper zum Grundgesetz: Der in 3. Auflage 2015 erschienene Grundgesetzkommentar erläutert die Verfassung auf 399 Seiten, ist in der kostengünstigen Druckausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung jedoch vergriffen. Erst kürzlich erschienen ist der Reclam-Band „Das Grundgesetz“ von Alexander Thiele, der auf 295 Seiten zugänglich in das Grundgesetz einführt, dafür aber auf die kommentareigene Erläuterung der Verfassung Norm für Norm verzichtet. Beide genannten Werke sind im digitalen Raum nicht offen zugänglich. Bis vor kurzem – und damit nach über 75 Jahren Bestand unserer Verfassung – existierte keine über das digitale Medium frei zugängliche Erläuterung der Normen des Grundgesetzes. Diesen Missstand hat nunmehr auch der Beck-Verlag erkannt und zur Feier des 75. Jubiläums der Verfassung kürzlich die 5. Auflage 2024 des Grundgesetz-Kommentars von Prof. Dr. Helge Sodan kostenfrei zugänglich gemacht. In der Druckfassung umfasst die Kommentierung 1138 Seiten, auf die nun auch unter www.grundgesetz-fuer-jeden.de zugegriffen werden kann. Auch wenn die Zugänglichmachung des Wissensbestands für jedermann als Beitrag zu einer Öffnung der Verfassungsrechtswissenschaft vollumfänglich zu begrüßen ist, fehlt der Publikation doch die offene Lizenzierung und damit der Charakter eines wirklichen „Open Access“ nach der in der Wissenschaft maßgeblichen Berliner Erklärung: Das Werk ist mangels offener Lizenz nur kostenlos lesbar; weitergehende Nutzungsrechte, die ein Kopieren oder gar Nachnutzen, etwa in Bildungsmaterialien für Schulen u.ä. erlaubten, werden nicht eingeräumt.
OZUG – Offener Zugang zum Grundgesetz
An einer Öffnung des juristischen Wissens zum Grundgesetz in einer solch nachnutzbaren, weil mit Creative-Commons-Lizenzen offen lizenzierten Form arbeiten die Verfasser:innen dieses Beitrags zurzeit im Projekt „Offener Zugang zum Grundgesetz (OZUG)“. Dazu geben wir den ersten Grundgesetzkommentar heraus, dessen Inhalte für jede:n frei verfügbar und offen lizenziert über das Internet zugänglich gemacht werden. An dem Projekt wirken 74 Professor:innen und Postdoktorand:innen als Autor:innen mit. Zugleich verfolgt das Projekt den Anspruch, sich als Bürger:innenkommentar breiteren Bevölkerungsschichten zu öffnen. Ziel der Kommentierung ist es, die wesentlichen Gehalte der Verfassung aufzubereiten und durch einführende Erläuterungen Kontextverständnis zu erzeugen. Dabei sollen die Ausarbeitungen die Gehalte der Verfassung in einer für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglichen und verständlichen Weise aufbereiten, ohne die Differenziertheit des rechtswissenschaftlichen Diskurses auszublenden, um damit auch für die Rechtswissenschaft als Informationsquelle attraktiv sein.
Die Kommentierungen sollen eine Öffnung rechtswissenschaftlicher Fachdiskurse für breitere Bevölkerungsschichten ermöglichen und verstehen sich in der damit eröffneten Interaktion breiterer Leser:innenschichten auch als Beitrag zu Citizen Science. Zivilgesellschaftliche Expertise soll über Bürger:innen-Reviews eingebunden werden. Gleichzeitig möchten wir in die Fachcommunity zurückwirken und zeigen, dass wissenschaftlicher Anspruch nicht an geschlossene Publikationsinfrastrukturen gebunden sein muss. Wir möchten mit dem Projekt auch zu einem Diskurs einladen, wie die Rolle rechtswissenschaftlicher Publikationsmedien, -plattformen und -formate sinnvoll zukunftsgerichtet ausgestaltet sein kann. Dafür erscheint der Kommentar neben der in der Rechtswissenschaft weiterhin obligatorischen Printfassung auf einer der Schweizer Plattform www.onlinekommentar.ch nachempfundenen Publikationsplattform für Open-Access-Kommentare in Deutschland (www.oa-kommentar.de). Die Schweiz ist mit dem Onlinekommentar Vorreiter im Zugänglichmachen von Rechtswissen für jedermann. Der Kommentierung der Schweizer Bundesverfassung kommt dabei sicherlich zentraler Stellenwert zu. Der Onlinekommentar weist aber darüber hinaus, indem etwa auch Kommentierungen des Schweizer Zivilgesetzbuchs und der Prozessordnungen im Open Access erscheinen.
Kommentare als untaugliches Medium der Verfassungsvermittlung?
Taugen Kommentare aber überhaupt dazu, einen Beitrag zur Verfassungsrechtsvermittlung zu leisten? Als Medium sind sie im europäischen Vergleich primär in Deutschland beliebt und bereits fachintern nicht unumstritten. Zahlreiche Kolleg:innen beklagen ein Übermaß an Kommentaren, ein Einwand, der mit Blick auf die schiere Anzahl verschiedener Parallelkommentare zum Grundgesetz zunächst auf der Hand zu liegen scheint. Zum anderen wird die Publikationsform des Kommentars oft als unwissenschaftlich kritisiert und für untauglich gehalten, um tiefergehende abstrakte Überlegungen zu formulieren.
Beide Einwände haben zutreffende Aspekte, die aber nicht pauschal formuliert werden können. Kommentare zeichnen sich zunächst durch Autor:innenpluralität aus und ermöglichen unterschiedlicher Perspektiven, was im Bereich der Verfassungsrechtsvermittlung essentiell ist. Zudem eignet sich insbesondere das Grundgesetz für eine normbezogene Darstellung ganz besonders, um seine verschiedenen Facetten zugänglich zu machen. Denn diese ermöglicht nicht nur eine themenbezogene Darstellung im Detail, wie z.B. den Schutzgehalt der einzelnen Grundrechte, sondern auch durch einleitende Passagen und die Kommentierung von Grundsatznormen wie Art. 20, Art. 70 ff. oder Art. 116 GG eine übergreifende Darstellung von Zusammenhängen und Systematik. Zudem fungiert das Medium Kommentar als Scharnier zwischen Wissenschaft und Praxis, indem es insbesondere die einschlägige Rechtsprechung berücksichtigt und einordnet. Ein Grundgesetzkommentar eröffnet daher stets auch einen fundierten Einblick in die Verfassungsinterpretation des BVerfG und eine kritische Auseinandersetzung mit dieser. Schließlich ermöglicht er den Bürger:innen, anders als normfernere Angebote, eine Rückbesinnung auf die positivierten Gehalte der Verfassung anhand des Wortlauts des Grundgesetzes.
In der Schweiz trifft das Angebot des Onlinekommentars auf breite Resonanz, die weit über die Verfassungsrechtsvermittlung hinausweist. Auch in Deutschland hat die jurOA-Tagung das Thema offener Kommentare zum Gegenstand fachspezifischer Erörterung gemacht. Die Diskussionen zeigen, dass sich auch das bisher noch meist statische Format des Kommentars den Herausforderungen der Digitalisierung stellen muss. Mit dem CC-Kommentar wird in Bälde der erste offene Kommentar zu den Creative Commons Lizenzen erscheinen und auf www.oa-kommentar.de eine digitale Heimat finden. Erste von Künstlicher Intelligenz verfasste Kommentierungen werfen auch die Frage auf, welche Wissensbestände von KI für die Produktion von Rechtswissen verwertet werden können. Es liegt die Vermutung nahe, dass digital frei verfügbare, offen lizenzierte Kommentare als maschinenlesbare Ressourcen einen wesentlichen Einfluss auf die Produktion von Rechtswissen in der digitalen Zukunft nehmen werden. Verfassungsrechtsvermittlung kann so auch in die Strukturen automatisierter Wissensproduktion ein- und der Reproduktion von Fehlverständnissen entgegenwirken.
References
↑1 | Jan Henrik Klement, in: Patrick Hilbert/Jochen Rauber (Hrsg.), Warum befolgen wir Recht?, Mohr Siebeck 2019, S. 231 f. |
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