Ab 1. Juli kann Deutschland nicht mehr alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen lassen
In 25 Tagen wird Deutschland einen verfassungspolitischen Bruch von potenziell unabsehbaren Folgen erleben.
Das klingt wie eine Prophezeiung des Nostradamus, ist aber bedauerlicherweise ganz real: Es geht um das Bundeswahlgesetz – den Code, nach dem in Deutschland auf Bundesebene aus den politischen Präferenzen von 80 Millionen individuellen Deutschen der “Willen des Volkes” errechnet wird, von dem nach Art. 20 I GG alle Staatsgewalt ausgeht.
Einen Teil dieses Codes, und keinen unerheblichen, hat das BVerfG 2008 für verfassungswidrig erklärt. Gleichzeitig hatte es allerdings, wie es das öfter mal tut, eine Übergangsfrist eingeräumt, um dem Gesetzgeber Gelegenheit zu geben, den Fehler zu korrigieren.
Diese Übergangsfrist läuft am 30. Juni ab. Und der Gesetzgeber hat gar nichts korrigiert. Es gibt bislang noch nicht einmal ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren.
Jetzt wird tatsächlich der Fall eintreten, dass eine von Karlsruhe gesetzte Übergangsfrist ergebnislos abläuft. Korrigiert mich, wenn ich mich irre: Aber ich glaube, das gab es noch nie. Wie mir scheint, ist überhaupt nicht klar, was in so einem Fall eigentlich genau passiert.
Klar ist nur dies: Wenn Neuwahlen nötig werden, und das ist angesichts des Zustands der Koalition keineswegs nur ein akademisches Szenario, dann haben wir kein verfassungsgemäßes Recht, nach dem diese Wahlen ablaufen können. Wir sind ab 1. Juli bis auf weiteres außerstande, die Staatsgewalt vom Volke ausgehen zu lassen.
Ein Riesenfehler
Der Reihe nach: Am 8. Juli 2008 verkündete der Zweite Senat sein Urteil, wonach die entfernte, aber reale Möglichkeit, dass mehr Zweitstimmen zu weniger Mandaten für eine Partei führen können, mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar ist. Die Folge wäre eigentlich gewesen, dass der 16. deutsche Bundestag auf verfassungswidrige Weise zustandegekommen und damit all seine Gesetzgebung seit 2005 illegitim ist. Das fand der Senat unverhältnismäßig und setzte daher eine Übergangsfrist bis 30. Juni 2011 fest – also noch über die laufende Wahlperiode hinaus.
Diese Frist konnte man mit gutem Grund absurd finden: Immerhin führte sie zu dem singulären Ereignis, dass der 17. Deutsche Bundestag 2009 nach einem Recht zustande kam, dessen materielle Verfassungswidrigkeit von vorn herein amtlich festgestellt war.
Wahlrechtsreformen brauchen Zeit, hieß es damals:
Im Hinblick auf die hohe Komplexität des Regelungsauftrags und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Fristen zur Vorbereitung einer Bundestagswahl (vgl. §§ 18, 19 BWG) erscheint es danach unangemessen, dem Gesetzgeber aufzugeben, das Wahlrecht rechtzeitig vor Ablauf der gegenwärtigen Wahlperiode zu ändern.
Das, so kann man jetzt sagen, war ein Riesenfehler. Der Zweite Senat hätte niemals zulassen dürfen, dass Wahlen nach einem nicht über alle Zweifel erhabenen Wahlrecht stattfinden. Er hat dies zugelassen, weil er sich so wohl gefühlt hat mit seiner Macht, sich über solche Zwänge aus eigenem Gutdünken mittels einer Verhältnismäßigkeitserwägung, zu der niemand das Gericht ermächtigt hat als es selber, mal so eben ganz elegant hinwegzusetzen.
Und jetzt hat er den Salat.
Wer repariert das kaputte Wahlrecht?
Was passiert jetzt? Wenn man das Urteil liest, bekommt man den Eindruck, dass der Senat sich diese Frage gar nicht richtig gestellt hat.
Wenn man den Tenor beim Wort nimmt, müsste man sagen, dass § 7 III 2 des Bundeswahlgesetzes ab 1. Juli nichtig ist (Korrektur s. Update). Da steht drin, wie bei Listenverbindungen Direkt- und Listenmandate zustande kommen. Das kann man nicht so einfach rausstreichen, ohne dass das ganze System zusammenkracht, wie der Senat in seinem Urteil ja auch schon herausgestrichen hatte:
Würde (…) der Verweis in § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG gestrichen, würde das personale Element in einem zentralen Punkt verändert, weil nunmehr ein Direktmandat erst dann gewonnen wäre, wenn es von einer entsprechenden Anzahl von Zweitstimmen „gedeckt“ wäre.
Das heißt, das Wahlrecht ist kaputt. Wer soll es reparieren?
Die FAZ zitiert einen Wahlforscher namens Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen (was es alles gibt) mit folgendem spaßigen Vorschlag:
„Kommt es nicht rechtzeitig zu einer Einigung, könnte das Verfassungsgericht selbst eine Übergangsregelung festsetzen“, sagt Wahlforscher Behnke. „Das wäre eine heftige Ohrfeige für die Politik.“
Höhö, das wäre es zweifellos. Es wäre sogar noch viel mehr: Es wäre ein Staatsstreich.
Wie soll man sich das vorstellen? Soll der Senat jetzt einfach einen provisorischen Regelungsentwurf aufsetzen, und den unterschreiben dann alle Richter, und dann wird er auf der Website des Verfassungsgerichts veröffentlicht? Auf welcher Grundlage? Als Notverordnung? Karlsruhe als wohlwollender Diktator? Der Hüter der Verfassung als Herr über den Ausnahmezustand, oder was?
Das BVerfG ist ein Gericht. Es handelt, indem es Fälle entscheidet, die ihm im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Entscheidung vorgelegt werden. Wenn es dem Gesetzgeber detaillierte Ratschläge auf den Weg gibt, wie er seiner Pflicht, ein verfassungsgemäßes Gesetz zu erlassen, nachkommen kann, dann strapaziert es die Grenzen zwischen Legislative und Judikative. Wenn es die Geltungsdauer verfassungswidrigen Rechts nach Maßstäben der Verhältnismäßigkeit festlegt, dann strapaziert es diese Grenzen noch mehr. Aber wenn es plötzlich anfangen würde, ohne dass irgendwer geklagt hat, irgendwelche Übergangsregelungen zu verhängen, nur weil es beleidigt ist und das Verlangen nach einer “heftigen Ohrfeige für die Politik” verspürt, dann hätte das eine ganz andere Qualität.
Nein, diese Suppe muss der Gesetzgeber schon selbst auslöffeln, auch wenn Karlsruhe am Einbrocken derselben nicht ganz unbeteiligt war.
Eins scheint mir aber schon bemerkenswert: Dass es die Koalition so weit kommen lassen würde, hätten weder ich noch offenbar das Bundesverfassungsgericht noch sonst irgendwer jemals für möglich gehalten.
In der Justiz mehren sich seit einiger Zeit die Anzeichen, dass immer mehr Richter die Autorität des Bundesverfassungsgerichts mehr oder weniger offen in Frage stellen. Signalisiert der Vorgang, dass jetzt auch der Gesetzgeber sich nicht mehr unbedingt scheut, Karlsruhe zu zwingen, seine Karten auf den Tisch zu legen?
Update: Ich muss mich, meinen Kommentatoren sei Dank, in zwei Punkten korrigieren: Erstens gab es natürlich zuletzt mit Hartz IV den Fall, dass eine Übergangsfrist ohne Umsetzung verstrich. Zweitens hat das BVerfG § 7 III 2 BWahlG nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Die Übergangsfrist ist nicht eine Art aufschiebende Bedingung für die in § 78 BVerfGG verlangte Rechtsfolge der Nichtigkeit. Denn die muss formell festgestellt werden vom BVerfG, und daran fehlt es einstweilen, also gilt § 7 III 2 BWahlG, wenngleich verfassungswidrig, formell fort.
Woran man aber nur einmal mehr sieht, in welch Teufels Küche sich das BVerfG mit dieser selbstherrlichen Auslegung von § 78 S. 1 BVerfGG gebracht hat, welcher bekanntlich lautet:
Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig.
Politisch kommt das ohnehin auf das Gleiche heraus. Wir haben schon eine Bundestagswahl nach einem verfassungswidrigen Wahlrecht gehabt, mit dem Segen des BVerfG. Wir können nicht noch eine nach einem verfassungswidrigen Wahlrecht haben, ohne den Segen des BVerfG. Das hieße die Legitimationskraft des Wahlrechts mutwillig aufs Spiel setzen.
Foto: David Ciriaco, Flickr Creative Commons
Bei dem Harz-4 Urteil wurde die Frist des Verfassungsgericht auch nicht eingehalten. http://www.sueddeutsche.de/politik/hartz-iv-reform-verfassungsgericht-soll-bei-hartz-iv-eingreifen-1.1057991
Mit den Hartz4-Sätzen ist die Frist auch ausgelaufen. Da wurde das Gesetz zwar geändert, aber die Forderungen des Verfassungsgerichts wurden nicht umgesetzt. Das war irgendwann anfang des Jahres, und eigentlich muss der Satz noch deutlich erhöht werden und ab diesem vergangenen Fristablauf rückwirkend gezahlt werden. Sie haben also die Verfassung gebrochen, und haben damit überhaupt nichts erreicht.
Wahlgesetz ist natürlich kritischer, wie soll die nächste Regierung gefunden werden? Wenn es bis 2012 kein neues Wahlgesetz gibt, gibt es kein gültiges Parlament.
„Nein, diese Suppe muss der Gesetzgeber schon selbst auslöffeln, auch wenn Karlsruhe am Einbrocken derselben nicht ganz unbeteiligt war.“
Joachim Behnke ist ja kein Jurist, vermutlich hat er die Äußerungen (auch die mit der Ohrfeige) vom früheren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Papier aus dessen Interview mit BILD nur ungenau übernommen – http://j.mp/mfzaAq Papier wiederum sieht wohl Verfassungsbeschwerden bzw. Organstreitverfahren als Grundlage für ein Handeln der Verfassungsrichter, was (vor allem bei einer ausbleibenden oder sehr späten, dem Urteil nicht entsprechenden Reform) durchaus möglich ist. So viel Zeit hat die Koalition auch nicht mehr, um dem zu entgehen – die Bundestagswahl beginnt ja bereits Ende März 2012 mit den dann möglichen Wahlen von Vertreterversammlungen.
ja.. Ein wahrer “Salat” an dem Deutschland da gerade krankt 😉
Nach etwas überlegen bin ich zu de Schluss gekommen, dass der geschickteste Ausweg aus der Verfassungskrise folgendermaßen aussehen könnte
Jemand klagt beim BverfG wegen ungültigem/inkonsistentem Bundeswahlrecht (da ja die entsprechenden Absätze nichtig sind) und in dessen Folge erklärt das BVerfG alle Regelungen zur Erststimme für nichtig. Der nächste Bundestag (falls der Bundestag nicht agiert) hätte also nur 298 Mitglieder und 298 leere Stühle. Also eine große “Ohrfeige” für die Politik, aber kein Erlass von “neuen” Regelungen. Dennoch natürlich ein massiver Eingriff in das Verfassungssystem Deutschlands.
In der Folge dieser Krise müsste das BVerfG auch erklären, was es mit “Der Gesetzgeber ist verpflichtet…” meint, meines Wissens ist dies nirgendwo erklärt.
So oder so wäre es ein Schaden für die Bundesrepublik Deutschlands. Schade um unsere Demokratie :/.
Dieses Handeln verwundert nicht, besieht man sich die juristische und legislative Vergangenheit der letzten 62 Jahre. Staatstragende Gesetze sind auf Grund des Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG formell nichtig, da man nach Inkraftsetzen des Grundgesetzes lieber gemeinsame Sache mit Altnazis wie Maunz, Dürig oder Mangoldt und ihren verfassungsfeindlichen Kommentaren, geschrieben in privater Nebentätigkeit, machte; d.h. tagtäglich werden Rechtsscheintatbestände ohne gültige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseinschränkungen (u.a SGB II, AtomG, UStG, ArbGG, GVG!) als Gesetze angewendet – Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 97 Abs. 1 Halbsatz 2 GG spielen dahingehend in keinem Gericht eine Rolle. Wird der Richter daran erinnert, erfolgt eine Privatklage wegen angeblicher Beleidigung, nicht etwa eine in öffentlicher Verhandlung zu erfolgen habende Klärung.
Ein paar kleine Beispiele am Rande: Auf Grund des Verstoßes gegen Art. 80 GG ist die StVO nach wie vor nichtig und wurde auch nicht neu erlassen – alle wissen es, Richter und Polizei (Bild berichtete schließlich) – keinen interessiert es.
Alle PsychKG der Länder leiden entweder an dem Mangel, dass sie sich auf das seit 1009 ungültige FGG beziehen oder auf das gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßende FamFG. Egal, täglich werden hunderte Menschen auf Grund dieser Rechtsscheintatbestände in geschlossene Einrichtungen verbracht und ihr Leben zerstört.
Alle Atommeiler laufen ohne gültige gesetzliche Grundlage – abschalten sofort?
In 7 Jahren wurden 45 Änderungen des bis heute ungültigen SGB II (ca. 50 Grundrechtseinschränkungen ohne Zitat gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) in Rechtsschein gesetzt.
Das GVG als Grundlage der Judikative – § 178 schränkt Grundrechte ein und zitiert diese nicht gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, ist demnac