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30 July 2025

Parteiverbotsverfahren in der öffentlichen Debatte

Zehn populäre Irrtümer und ihre verfassungsrechtliche Einordnung

Verfassungsrecht ist bekanntlich Politik in einem anderen Aggregatzustand. Das bedeutet jedoch nicht, die Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht unterlägen denselben Funktionslogiken wie die gestalterische Tätigkeit der Politik. Im Gegenteil bestehen zwischen beiden deutliche Unterschiede. Während Politik auf das Gewinnen von Einfluss und eine möglichst hohe gesellschaftliche Wirkung zielt, fußt die Verfassungsrechtswissenschaft auf den Prinzipien der Normgeltung, Methodengeleitetheit sowie Systemkonsistenz. Zugespitzt formuliert: Im politischen Raum zählt (natürlich) nicht allein, aber doch auch, was mehrheitsfähig, strategisch zweckmäßig oder durchsetzbar erscheint. In der rechtswissenschaftlichen Argumentation kommt es hingegen entscheidend darauf an, ob Argumente sich durch Auslegung oder methodengeleitete Rechtsfortbildung begründen lassen.

Gerade deshalb ist es nicht risikolos, wenn Politiker im öffentlichen Diskurs juristische Argumente bemühen. Zum einen verkürzt der Rückgriff auf das Verfassungsargument nicht selten die politische Auseinandersetzung: Wer sich auf das Grundgesetz beruft, erklärt das Argument des Gegners nicht nur für unzweckmäßig, sondern in der Regel sogar von vornherein für indiskutabel. Zum anderen liegt die Versuchung nahe, den eigenen politischen Willen als das von der Verfassung Gewollte zu präsentieren. Dies muss nicht einmal absichtsvoll geschehen. Ein so offener und zugleich unbestimmter Text wie das Grundgesetz lädt den geneigten Interpreten geradezu ein, jene Schlussfolgerungen zu ziehen, die er ohnehin für richtig hält.

Eine solche Dynamik lässt sich auch in der seit einigen Monaten kontrovers geführten Debatte um ein mögliches AfD-Verbot beobachten. Ohne unterstellen zu wollen, dass dies in böser Absicht geschieht, finden sich dort wiederholt Positionen wieder, die mit Blick auf das (materielle) Verfassungsrecht kaum haltbar oder zumindest stark umstritten sind. Ihnen soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gelten: als Mahnung an alle, die sich öffentlich zu diesem Thema äußern – den Verfasser eingeschlossen –, dass die juristische Methodik auch dort nicht vernachlässigt werden darf, wo (gefühlte) politische Dringlichkeit auf normative Komplexität trifft.

Irrtum Nr. 1: „Too big to ban“

Als erstes Beispiel sei auf eine häufig wiederholte politische Äußerung verwiesen. Ein Parteiverbot, so heißt es, sei juristisch kaum zu rechtfertigen, weil es Millionen von Wählerinnen und Wählern ihrer Stimme beraube (zu Recht kritisch Gärditz). Tatsächlich ist die AfD den Kinderschuhen längst entwachsen: Sie hat über 50.000 Mitglieder, ist bundesweit in (fast) allen Landesparlamenten präsent und stellt im Deutschen Bundestag mit 151 von 630 Sitzen die stärkste Oppositionsfraktion. Doch ist Größe ein Schutzschild gegen ein Parteiverbot? Das BVerfG hat sich im zweiten NPD-Verfahren dezidiert mit der Frage auseinandergesetzt, welchen Einfluss eine Partei haben muss, die verboten werden soll – wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen (BVerfGE 144, 20, 224 f., Rn. 585). Ausgangspunkt war dabei die Überlegung, dass eine Partei „zu klein“ und derart wirkungslos sein kann, dass sie das für ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2, 4 GG erforderliche Maß an Gefährlichkeit nicht erreicht.

Ein Parteiverbot lässt sich als schärfste Sanktion gegen verfassungsfeindliche Parteien somit nur rechtfertigen, wenn die Partei mit ihrem gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Handeln erfolgreich sein könnte, also ein gewisses Wirkungs- und Mobilisierungspotential mitbringt (BVerfGE 144, 20, 224 f., Rn. 585). Dieses vom BVerfG herausgearbeitete Potentialitätskriterium steht im Kontext der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR; im Wortlaut des Art. 21 Abs. 2 GG findet es jedoch keinen ausdrücklichen Niederschlag und ist unter anderem aus diesem Grund in der Literatur heftig kritisiert worden.1) Zu Recht wird gefragt, welchen verfassungsrechtlichen Sinn es haben soll, eine als solche identifizierte extremistische Partei so lange zu verschonen, bis sie hinreichend stark geworden ist, um die Grundlagen der freiheitlichen Ordnung wirksam zu erschüttern.

Im hier interessierenden Zusammenhang genügt allerdings die Feststellung: Eine Partei kann verfassungsfeindlich sein, ohne dass ein Parteiverbot in Betracht kommt, nämlich wenn sie marginal geblieben ist und keine realistische Machtperspektive erkennen lässt. Hingegen kaum zu erwarten ist, dass das BVerfG je explizit konstatieren würde, eine Partei sei zu groß oder wirkmächtig für ein Verbot. Die Formel „too big to ban“ trägt verfassungsrechtlich nicht. Nichtsdestoweniger wäre es naiv anzunehmen, dass Größe, parlamentarische Stärke und gesellschaftliche Resonanz im verfassungsgerichtlichen Bewertungsprozess keinerlei (unterbewusste) Rolle spielten. Denn mit wachsender institutioneller Etablierung geht regelmäßig ein Mehr an demokratischer Legitimation einher und damit eine zunehmende Spannung zwischen dem Gebot demokratischer Toleranz und dem Prinzip wehrhafter Demokratie.

Irrtum Nr. 2: Die Stillhaltezusage ist ein AfD-Erfolg

Ebenso wenig überzeugt die seitens der AfD und ihrer mitunter auffällig agierenden Prozessbevollmächtigten propagierte Einschätzung, die im Eilverfahren vor dem VG Köln abgegebene Stillhaltezusage des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) stelle einen ersten prozessualen Erfolg dar. Konkret heißt es, der Schritt des BfV lasse sich als Hinweis darauf verstehen, dass ein mögliches Verbotsverfahren gegen die neurechte Partei wenig erfolgversprechend sein könnte. Derartige Aussagen erweisen sich indes als in der Sache unzutreffende „Litigation-PR“. Die Stillhalteerklärung beinhaltet nichts weiter als die vorläufige Zusage, bis zur Entscheidung über den Eilantrag die Einstufungsentscheidung auszusetzen, auf entsprechende öffentlichkeitswirksame Einordnungen zu verzichten und eine die Einstufung betreffende Pressemitteilung vom 02.05.2025 aus dem Internetauftritt des Bundesamts zu entfernen (vgl. die Pressemitteilung des VG Köln). Weder enthält sie das Eingeständnis eines behördlichen Fehlers noch kommt ihr eine rehabilitierende Wirkung zugunsten der Partei zu.

Hintergrund ist die Komplexität des anstehenden Verfahrens: Auch ein verwaltungsgerichtliches Eilverfahren kann geraume Zeit in Anspruch nehmen, insbesondere angesichts einer über 1.100 Seiten umfassenden Belegsammlung, die in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gewürdigt werden muss. Es war deshalb damit zu rechnen, dass das VG Köln andernfalls einen Hängebeschluss erlassen hätte, um den aufgrund der Dauer des Verfahrens befürchteten Eintritt irreversibler Nachteile auf Seiten der AfD zu verhindern. Dieser gerichtlichen Entscheidung ist das BfV mit seiner Stillhaltezusage zuvorgekommen. Es handelt sich hierbei um eine in komplexen verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren keineswegs unübliche Vorgehensweise, die nichts über die Erfolgsaussichten des vorläufigen Rechtsschutzes oder in der Hauptsache aussagt. Sie ist vielmehr allein Ausdruck einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, mit der das Gericht dafür Sorge trägt, dass keiner der Beteiligten auf der Strecke bleibt. Von einem Etappensieg der AfD kann nach alledem keine Rede sein.2)

Irrtum Nr. 3: Die Hochstufung zeichnet ein Parteiverbot vor

Umgekehrt wäre es verfehlt anzunehmen, ein Parteiverbotsverfahren sei angesichts der Einstufung der AfD als „gesichert extremistisch“ gleichsam ein Selbstläufer. Diese Einstufung durch das BfV setzt eine über längere Zeit gewonnene, inhaltlich verdichtete und auch insgesamt konsistente Erkenntnislage voraus. Auf dieser Grundlage muss die Behörde dann mit Gewissheit auf die Verfassungsfeindlichkeit der neurechten Partei schließen können.3) Mit anderen Worten: Das BfV muss von der Verfassungsfeindlichkeit überzeugt sein.4) Ob die Gerichte der behördlichen Wertung folgen, lässt sich derzeit schlicht nicht abschätzen. Auch wenn sich die Einstufungsvoraussetzungen und die Parteiverbotsvoraussetzungen weitgehend ähneln, liegt es nahe, dass das BVerfG – zumindest faktisch aufgrund der gravierenden Rechtsfolgen – noch stärker überzeugt sein muss, um sich für ein AfD-Verbot zu entscheiden. Entsprechend ist das behördliche Gutachten ein relevanter, aber keineswegs determinierender Faktor.

Ungeachtet ihres Umfangs und ihrer Tiefe lässt sich die behördliche Prüfung durch das BfV zudem nicht unmittelbar mit der unabhängigen Kontrolle durch das BVerfG vergleichen. Das Gutachten kann als (mehr oder minder) wertvolle Erkenntnisquelle sowie als Argumentationshilfe dienen – so wie es vergleichbare Papiere des Verfassungsschutzes bei früheren Partei- und diversen Vereinsverbotsverfahren maßgeblich getan haben. Dennoch bleibt das Parteiverbotsverfahren ein rechtlich anspruchsvoller, politisch sensibler und verfassungsrechtlich hochkomplexer Vorgang, dessen Erfolgsaussichten nur schwer abschätzbar sind.

Irrtum Nr. 4: Finanzierungsausschluss als „kleine Lösung“

In Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG zum Ausschluss der Partei „Die Heimat“ (ehemals: NPD) von der staatlichen Parteienfinanzierung erklärte der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder, das Urteil könne eine „Blaupause für die AfD“ sein. Unterhalb der Schwelle eines „schwierigen und langwierigen Verbotsverfahrens“ biete sich nun die Möglichkeit, verfassungsfeindlichen Parteien zumindest den Geldhahn zuzudrehen und zu verhindern, dass diese mit staatlichen Mitteln „gegen unsere Verfassung […] hetzen“. Politisch mag Söders Sicht der Dinge zwar als pragmatischer Zugang erscheinen, zumal sie jenen entgegenkommt, die Parteiverbote wegen der mit ihnen verbundenen Repräsentationsdefizite sowie aufgrund drohender Opfernarrative skeptisch beurteilen. Juristisch überzeugt sie aber nicht. Denn der entscheidende Unterschied zum Parteiverbot liegt ausschließlich im Verzicht auf das Erfordernis der „Potentialität“.5) In beiden Verfahren ist hingegen nachzuweisen, dass die betreffende Partei in ihrer Breite eine verfassungsfeindliche Zielsetzung hat.

Gerade dieser Nachweis stellt sich als äußerst anspruchsvoll dar. Anders als im Fall der früheren NPD, deren Programmatik in Teilen offen an die NSDAP der 1920er Jahre erinnerte und durch unverhüllten Antisemitismus geprägt war, wirken die offiziellen Grundsatzprogramme sowie Parteitagsbeschlüsse der AfD in wesentlichen Bereichen nicht unbedingt offensichtlich verfassungsfeindlich.6) Der juristisch relevante Gehalt ihrer Positionen erschließt sich oftmals erst aus innerparteilichen Entwicklungen, Äußerungen einzelner Funktionäre sowie eher unkoordinierten Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken. Ob dies der Partei zugerechnet werden kann, bedarf einer differenzierten Bewertung – wie sie etwa das OVG NRW im Verfahren zur Einstufung der Partei als Verdachtsfall bereits vorgenommen hat.7) Der für das Verbotsverfahren zentrale Nachweis der Verfassungsfeindlichkeit ist beim Finanzierungsausschluss nicht leichter zu realisieren als im Rahmen eines Parteiverbotsverfahrens.

Irrtum Nr. 5: Pflicht zur Verfahrenseinleitung

In der Literatur wird vereinzelt vertreten, die antragsberechtigten Verfassungsorgane seien unter bestimmten Voraussetzungen zur Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 2, 4 GG verpflichtet (vgl. Hong). Diese Auffassung beruft sich auf die aus dem Verwaltungsrecht bekannte Rechtsfigur der Ermessensreduzierung auf Null: Steht ein Organ vor einer Entscheidung, die das Wohl und Wehe des Staatswesens betrifft, könne sein Ermessen sich zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.

Im Ausgangspunkt zutreffend ist, dass die Entscheidung über die Antragstellung im Parteiverbotsverfahren dem staatspolitischen Ermessen der jeweils antragsberechtigten Organe unterliegt. Die Vorstellung, dieses Ermessen könne, etwa bei entsprechend großer Wirkmächtigkeit der in Rede stehenden Partei, auf Null reduziert sein, verkennt jedoch, dass das Ermessen der Verfassungsorgane nur schwerlich mit dem Verwaltungsermessen vergleichbar ist – beide sind in unterschiedlichen normativen Rahmen verortet. Ersteres folgt eigenständigen Legitimations- und Verantwortungsstrukturen, die durch Mehrheitsbildung und politische Willensbildung geprägt sind. Für den Deutschen Bundestag etwa würde eine Ermessensreduzierung darauf hinauslaufen, dass einzelne Abgeordnete gehalten wären, in einem bestimmten Sinne abzustimmen. Dies würde jedoch für die Abgeordneten eine Rechtspflicht zur Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens bedeuten. Eine Konsequenz, die sich mit dem freien Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG kaum in Einklang bringen lässt und an anderer Stelle (Stichwort: Vizepräsidentenwahl) durch das BVerfG zu Recht in Abrede gestellt wurde.

Hinzu kommt: Selbst wenn man das Konzept der Ermessensreduzierung auf das Verfassungsrecht überträgt, wie sollte es dann durchgesetzt werden? Art. 21 Abs. 2 GG ist nicht in einem drittschützenden Sinne justiziabel. Weder einzelne Abgeordnete noch Bürger oder sonstige Verfassungsorgane können vom BVerfG verlangen, die Antragstellung anzuordnen. Ein gegen den erklärten Willen des Antragstellers eingeleitetes Parteiverbotsverfahren birgt zudem das Risiko einer bestenfalls halbherzigen Prozessführung, was in einem so sensiblen und politisch aufgeladenen Verfahren besonders schwer wöge. Und schließlich: Die AfD ist bislang in keinem Bundesland an einer Regierung beteiligt; insbesondere besteht auf Bundesebene keine nahende realistische Option zur Ausübung von Exekutivgewalt. Angesichts dieser Umstände erscheint es jedenfalls fraglich, ob schon jetzt von einer Rechtspflicht zur Einleitung eines bundesweiten AfD-Verbots gesprochen werden könnte, sofern man die Möglichkeit einer Ermessensreduzierung auf Null überhaupt anerkennen wollte.

Irrtum Nr. 6: Menschenwürdeverstöße genügen nicht

Ein weiterer politisch-rhetorischer Fehlgriff liegt in der verbreiteten Behauptung, ein Parteiverbot komme nicht Betracht, wenn die Partei „nur“ die Menschenwürde angreifen würde, sondern ausschließlich, wenn sie zusätzlich weitere Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekämpft – konkret die Demokratie und den Rechtsstaat. Solche Äußerungen lassen sich unschwer durch einen Blick in die zweite NPD-Entscheidung des BVerfG entkräften. Dort heißt es unmissverständlich: „Bei differenzierter Betrachtung bezeichnet der Begriff des ‚Beseitigens‘ die Abschaffung zumindest eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem“ (BVerfGE 144, 20, 211, Rn. 550). Die Karlsruher Richter stellten damit klar, dass Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht kumulativ betroffen sein müssen. An anderer Stelle präzisiert das Gericht: „Ausreichend ist, dass sie [scil. die Partei] sich gegen eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat) wendet, da diese miteinander verschränkt sind und sich gegenseitig bedingen“ (BVerfGE 144, 20, 213, Rn. 556).

Irrtum Nr. 7: Straßenkampf als Verbotserfordernis

Häufig wird gegen ein Verbot der AfD eingewandt, Art. 21 Abs. 2, 4 GG greife nur dann ein, wenn eine Partei mit einer „aggressiv kämpferischen Haltung“ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehe – und dies setze den Einsatz von Gewalt voraus. Zutreffend ist, dass das BVerfG in seiner Judikatur nicht den Begriff der „aggressiv-kämpferischen Haltung“ verwendet, wohl aber in ständiger Formel eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ gegenüber der bestehenden Ordnung fordert. Diese Wendung geht auf das KPD-Verbotsurteil vom 17.08.1956 zurück (BVerfGE 5, 85, 141). Sie steht dort freilich nicht isoliert, sondern wird sogleich konkretisiert: Verlangt wird ein planvolles Vorgehen, das zunächst auf eine Beeinträchtigung, im weiteren Verlauf auf die Beseitigung der bestehenden Ordnung zielt (BVerfGE 5, 85, 141). Entscheidend ist also ein systematisch verfolgtes politisches Konzept – oder, um eine Formulierung des BVerfG aus der Entscheidung zum zweiten NPD-Verbotsverfahren aufzugreifen: ein planvolles Handeln, das im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder auf die Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist (BVerfGE 144, 20, 224 f., Rn. 570). Zudem unterstrich das BVerfG ausdrücklich, dass kein strafbares Verhalten erforderlich ist (BVerfGE 5, 85, 141f.).

Die Formulierung der „aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung“ ist gleichwohl erklärungsbedürftig, nicht zuletzt wegen ihres martialischen Klangs. Sie dürfte vor allem dem Zeitgeist der frühen Bundesrepublik geschuldet sein, in der die KPD als Partei galt, die mit revolutionären Mitteln eine grundlegende Umwälzung anstrebte. Programmatisch und rhetorisch stand der „Klassenkampf“ im Zentrum, verbunden mit der Forderung nach einer „Diktatur des Proletariats“, der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln sowie einer tiefgreifenden Transformation der bestehenden Verhältnisse. Die Gleichsetzung der Bundesrepublik mit dem „Faschismus“ machte deutlich, dass die KPD die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht als schützenswert, sondern als zu bekämpfendes System verstand. Karlsruhe griff jene Ausrichtung auf und leitete hieraus die „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ ab. Daraus folgt aber nicht, dass ein Parteiverbot eine konkrete Gewaltanwendung voraussetzt. Es ist, um im Bild zu bleiben, nicht erforderlich, dass Straßenblockaden errichtet werden oder es zu Ausschreitungen kommt, wie sie in der Weimarer Republik nicht selten waren. Auch eine offen zur Schau gestellte Drohkulisse – etwa in Form von Aufmärschen in Springerstiefeln – muss nicht festgestellt werden. Bereits die planvolle Umsetzung einer Strategie, die erkennbar auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielt, kann genügen.

Irrtum Nr. 8: Landesverbände kann man nicht verbieten

Mit Blick auf ein mögliches Parteiverbot wird bislang nur selten thematisiert – und gelegentlich zu leichtfertig in Frage gestellt –, dass auch das Verbot eines Landesverbands einer Partei in Betracht kommt. Tatsächlich ist ein solcher Schritt unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich zulässig. Wer sich mit den einschlägigen Bestimmungen im BVerfGG befasst, könnte jedoch leicht einen anderen Eindruck gewinnen: Nach wohl herrschender Meinung in der Literatur muss ein von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung gestellter Verbotsantrag (§ 43 Abs. 1 BVerfGG) auf die Gesamtpartei bezogen sein.8) Zur Begründung wird insbesondere auf den Wortlaut der Norm verwiesen, der anders als etwa § 46 Abs. 2 BVerfGG nicht nahelegt, dass ein Antrag sich auch auf die Auflösung einzelner Parteiteile beziehen kann. Daraus wird geschlossen, dass ein Verbotsantrag gegen einen bloßen Teilverband – etwa einen Landesverband – unzulässig sei.

Nach verbreitetem Verständnis haben auch Landesregierungen keine Möglichkeit, gemäß § 43 Abs. 2 BVerfGG gegen einen Landesverband einer bundesweit organisierten Partei vorzugehen.9) Die Vorschrift erlaubt einen solchen Antrag nur, wenn sich die Parteiorganisation auf das Gebiet eines einzelnen Bundeslandes beschränkt. Ob das der Fall ist, hängt letztlich von der inneren Struktur der Partei ab. Entscheidend ist, ob sie ausschließlich in einem Land über organisatorische Gliederungen verfügt. Für Landesverbände überregionaler Parteien greift dieses Antragsrecht der Länder also nicht.

Doch damit ist die Diskussion nicht beendet. Denn der bereits erwähnte § 46 Abs. 2
BVerfGG erlaubt es dem BVerfG, seine Verbotsentscheidung auf einen rechtlich oder organisatorisch selbstständigen Teil einer Partei zu beschränken, also auch auf einen bestimmten Landesverband. Zwar mag es als systematisch widersprüchlich erscheinen, dass ein Verbotsantrag zwingend gegen die Gesamtpartei gerichtet sein muss, das Gericht in der Folge aber ausschließlich einen Teilverband verbieten kann. Aus diesem Widerspruch eröffnet sich dennoch eine verfahrenstaktische Möglichkeit, um auf das Verbot einzelner Landesverbände hinzuwirken: So kann der Antrag formal auf die Gesamtpartei zielen, sich inhaltlich aber auf die Aktivitäten einzelner Landesverbände beschränken, deren Verfassungswidrigkeit besonders evident und gut nachweisbar ist. Vor diesem Hintergrund greift es zu kurz, davon zu sprechen, ein Verbot von Landesverbänden der AfD scheide von vornherein aus.

Irrtum Nr. 9: Größerer Einfluss rechtfertigt geringere Nachweisanforderungen

Wenig überzeugend ist überdies die – in Stellungnahmen zuweilen anzutreffende – Annahme, bei wachsendem Einfluss einer Partei sänken die Anforderungen an den Nachweis ihrer Verfassungsfeindlichkeit. Die unterstellte Reziprozität erinnert an die aus dem Polizeirecht bekannte Formel: Je wichtiger das bedrohte Rechtsgut und je größer der drohende Schaden, desto geringer sind die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit, die für die Annahme einer Gefahr erforderlich ist. Ein solcher Rückgriff auf gefahrenabwehrrechtliche Denkfiguren führt im Kontext von Parteiverbot und Finanzierungsausschluss jedoch zu dogmatischen Spannungen. Denn er ließe die paradoxe Konstellation zu, dass bei Verfahren gegen besonders gefährliche Parteien geringere Nachweishürden für die Verfassungsfeindlichkeit anzulegen wären als beim – deutlich weniger eingriffsintensiven – Ausschluss von staatlicher Parteienfinanzierung. Letzterer kennt das Kriterium der Potentialität nicht, sodass ein entsprechendes Absenken der Eingriffsschwelle denklogisch ausscheiden muss (vgl. Ogorek).

Irrtum Nr. 10: Der ethnisch-kulturelle Volksbegriff ist verfassungskonform

Schließlich sei auf einen zentralen verfassungsrechtlichen Befund hingewiesen, der in der öffentlichen Debatte neuerdings vermehrt bestritten wird: dass der innerhalb der AfD vertretene ethnisch-kulturelle Volksbegriff in einem unauflöslichen Widerspruch zur freiheitlichen Verfassungsordnung steht.10) Er lässt sich insbesondere nicht mit Verweis auf Art. 116 GG legitimieren. Die Norm dient der Erweiterung des Kreises der Deutschen – etwa im Kontext von Vertriebenen und Spätaussiedlern – und eröffnet spezifische Zugangsmöglichkeiten zur deutschen Staatsangehörigkeit. Sie enthält jedoch keinerlei Anhaltspunkte für eine ethnisch-kulturelle Verengung im Sinne eines exklusiven „Abstammungsdeutschtums“.

Zwar ist es denkbar, dass der Gesetzgeber den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit künftig wieder stärker einschränkt. Dies ist mit Blick auf den ethnisch-kulturellen Volksbegriff, wie er jedenfalls von Teilen der AfD vertreten wird, aber ohne Belang. Denn dieser zielt nicht (nur) auf den Zugang zur Staatsangehörigkeit, sondern auf eine Unterscheidung innerhalb des Staatsvolks ab. Es geht darum, zwischen „echten“ Deutschen und sog. Passdeutschen zu differenzieren, also Menschen, die zwar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber dennoch nicht zum Staatsvolk zählen sollen. Ein solcher Volksbegriff reduziert, wie das BVerfG in seiner zweiten NPD-Entscheidung (BVerfGE 144, 20, LS 9. a) betont hat, den Menschen jedenfalls dann auf seine Abstammung, wenn an ihn etwa im Sinne einer Ungleichbehandlung Konsequenzen geknüpft werden. Derartige Forderungen verletzen die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG in ihrem Kern.

Hinzu tritt ein demokratietheoretisches Problem von erheblichem Gewicht: Wer innerhalb der Gruppe der deutschen Staatsangehörigen ganze Bevölkerungsgruppen exkludiert, erklärt deren politische Teilhabe für unzulässig. Die Konsequenz wäre die Delegitimierung vergangener und gegenwärtiger Wahlen auf allen staatlichen Ebenen – und damit die Infragestellung der demokratischen Ordnung in Bund, Ländern und Kommunen. Auch aus diesem Grund ist dem ethnisch-kulturellen Volksbegriff eine klare verfassungsrechtliche Absage zu erteilen. Dabei muss der AfD zugestanden werden, dass sie das Konzept des Ethnopluralismus inzwischen häufiger nur noch allgemein formuliert, etwa als Wunschkonzept oder Zukunftsvision, und zumindest in den öffentlich dokumentierten Äußerungen vermehrt auf konkrete Differenzierungen innerhalb der Gruppe der Staatsangehörigen verzichtet. Durch diese (strategische?) Verhaltensweise erschwert die neurechte Partei ein Verbotsverfahren nicht unerheblich.

Fazit: Politische Dringlichkeit trifft auf methodische Strenge

Die öffentliche Diskussion über ein mögliches AfD-Verbotsverfahren ist nicht nur Ausdruck wachsender politischer Besorgnis, sondern auch ein Gradmesser für den Zustand verfassungsrechtlicher Argumentationskultur. Sie zeigt, wie schnell juristische Kategorien im Eifer politischer Auseinandersetzungen verformt werden und wie wichtig es ist, normativen Maßstäben auch dann treu zu bleiben, wenn Demokratie und Rechtsstaat unter Druck geraten. Gerade das Parteiverbot als ultima ratio der wehrhaften Demokratie verlangt nach methodischer Präzision und rechtsstaatlicher Nüchternheit.

Die hier beleuchteten Missverständnisse – vom Mythos der Größe als Verbotshemmnis bis hin zur Fehldeutung des Begriffs der aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung – führen vor Augen, dass rechtliche Komplexität durch politische Zuspitzung nicht aufgehoben, sondern oft nur verschleiert wird. Wer sich ernsthaft mit einem Parteiverbot auseinandersetzt, darf nicht dem Wunsch nach einfachen Lösungen erliegen, sondern muss sich komplexen rechtswissenschaftlichen Diskussionen stellen. Die Verteidigung der Verfassung erfordert Maß und Mitte ebenso wie ein konsequentes Festhalten an jenen Prinzipien, die sie zu schützen sucht.

References

References
1 Statt vieler Uhle, NVwZ 2017, 583 (588 f.).
2 Ogorek, in: Kölner Stadt-Anzeiger (KStA) v. 15.05.2025, S. 4.
3 Schneider, DÖV 2022, 372 (373).
4 Vgl. Schneider, DÖV 2022, 372 (373); Ogorek, JZ 2025, 53 (56).
5 Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, 106. EL (Oktober 2024), Art. 21 Rn. 540c.
6 Vgl. Ogorek, JZ 2025, 53 (57).
7 OVG NRW, NVwZ-Beilage 2024, 94 (100, Rn. 107).
8 Vgl. von Coelln, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 64. EL (August 2024), § 46 Rn. 57. Siehe auch Heußner, NJOZ 2024, 993 m.w.N.
9 von Coelln, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 64. EL August 2024, § 43 Rn. 11; Lenz/Hansel, BVerfGG, 4. Aufl. 2024, § 43 Rn. 13.
10 OVG NRW, NVwZ-Beilage 2024, 94 (103 Rn. 129). Siehe auch BVerfGE 144, 20, LS 9. a) und Rn. 635, 640, 646, 653 ff.

SUGGESTED CITATION  Ogorek, Markus: Parteiverbotsverfahren in der öffentlichen Debatte: Zehn populäre Irrtümer und ihre verfassungsrechtliche Einordnung, VerfBlog, 2025/7/30, https://verfassungsblog.de/afd-parteiverbot-verfassungsrecht/, DOI: 10.59704/7d9583d3d63bd953.

3 Comments

  1. Mario Moretti Wed 30 Jul 2025 at 19:17 - Reply

    Herr Professor, vielen Dank für Ihre Worte ! Die Streitereien zum Verbot der AfD sind viel zu politisch. Es kommt in Deutschland aber auf das Recht an. Daher ist es wichtig, dass sie mit einigen Irrtümern aufklären wie der Idee vom Dobrindt dass die ganze Verfassung verletzt sein muss. MfG

  2. Stefan Loimhagel Thu 31 Jul 2025 at 12:41 - Reply

    Sehr geehrter Herr Ogorek,

    vielen Dank für diese wertvolle und nüchterne Darstellung, die gewissermaßen ein Leuchtfeuer in der ideologischen Flut dieses Blogs ist.

    Beim Irrtum Nr. 10 muss aus meiner Sicht tatsächlich differenziert werden, ob mit dem “ethnisch-kulturellen” Volksbegriff rechtliche oder politische Argumentationen verbunden sind.
    Eine Einteilung von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit nach Abstammung in Staatsbürger verschiedener Klassen und beispielsweise Aberkennung bestimmter Rechte wäre grotesk und sicher verfassungsfeindlich (wenngleich aus meiner Sicht nicht unbedingt in jedem Fall gegen die Menschenwürde).
    Gleichwohl halte ich es für legitim, eine Gesellschaft für erstrebenswert zu halten, in der grundlegende Werte von allen geteilt werden. Je unterschiedlicher die Kulturen sind, die aufeinandertreffen, desto schwieriger wird in der Regel ein Zusammenleben. Dass mittlerweile deutsche Staatsbürger sogenannte Ehrenmorde begehen, deutet auf Fehlentwicklungen hin und ich halte es für legitim, ein strikteres Einwanderungsrecht unter Verweis auf die schwierige Integration von Menschen aus fremden Kulturkreisen zu fordern. Hinweise auf bestehende Missstände und die Forderung nach (verfassungskonformen) Konsequenzen können unterschieden werden von Fällen, in denen Menschen pauschal aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds herabgewürdigt werden. Trotzdem liegt beidem ein kultureller Volksbegriff zugrunde. Im Gegensatz zu einer Abstammung ist es eben auch möglich, sich an eine andere Kultur anzupassen, und ich sehe nicht, wieso eine solche Forderung gleich verfassungsfeindlich sein sollte. Auch können Werte ja neu ausgehandelt werden – allein ein schlichtes Nebeneinander sehr verschiedener Kulturen und Wertvorstellungen ist eben konfliktträchtig und es ist aus meiner Sicht legitim, auf politischer Ebene entsprechend zu argumentieren.

    Der Gedanke eines ethnische Deutschtums ist sicher kritischer zu sehen, solche Einteilungen sind aber keineswegs unüblich, wenn es zum Beispiel um unterdrückte Minderheiten geht. Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass im einen Fall der Gedanke verfassungsfeindlich sein soll und im anderen nicht. Vielmehr sollte auf die Folgerungen abgestellt werden: Werden ethnische Gruppen herabgewürdigt, benachteiligt, ausgegrenzt, oder lediglich im Diskurs als solche benannt?

  3. Roland Forster Thu 31 Jul 2025 at 12:46 - Reply

    “Irrtum Nr. 9” ist ein schöner Gedanke, dessen Gegenargument zwar nachvollziehbar ist, jedoch nicht durchgreifend trägt.

    Spricht tatsächlich etwas dagegen, dass Parteiverbot als Gefahrenabwehrrecht in verfassungsrechtliche Einkleidung zu sehen? Logische Konsequenz wäre dann auch – wie angesprochen – eine entsprechende Anwendung des Gedanken aus dem Polizeirecht. Dies erscheint auch zweckmäßig: Desto wahrscheinlicher die AfD die Exekutive in Zukunft kontrollieren könnte, umso geringer die “Pflicht” des Staates die potentielle Gefahr auszusitzen.

    Die These allein mit einem dogmatische Argument zu entkräften halte ich für etwas dünn. Insbesondere basiert die hier vorgebrachte Dogmatik um den Entzug der Parteifinanzierung und der Potentialität seinerseits ursprünglich auf einer bloßen Auslegung durch das BVerfG.

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