Grundrechtsverwirkung und Parteiverbote gegen radikale AfD-Landesverbände (Teil III)
Das demokratische Haus in Deutschland brennt. Es ist höchste Zeit, die Instrumente der streitbaren Demokratie gegen Landesverbände der AfD einzusetzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig sind, wie die in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Warum die Voraussetzungen für Grundrechtsverwirkung und Parteiverbot dort vorliegen, und die Verfassungstreue es auch verlangt, sie zu beantragen, soll dieser dreiteilige Beitrag begründen.
In Teil I habe ich erläutert, warum ein Antrag auf Grundrechtsverwirkung mit Wählbarkeits- und Ämterausschluss gegen einzelne herausgehobene Führungspersonen solcher Landesverbände hohe Erfolgsaussichten hat, und in Teil II, warum das auch für einen Parteiverbotsantrag gilt.
In diesem abschließenden dritten Teil werde ich die dritte These des Beitrags begründen: Die Verfassungstreuepflicht engt das politische Antragsermessen für solche Anträge umso stärker ein, je klarer ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Sie reduziert dieses Ermessen auf Null und begründet eine Antragspflicht, wenn, wie hier, die Voraussetzungen hinreichend klar vorliegen und die zu erwartenden Nachteile die Vorteile eines Antrags jedenfalls nicht klar und eindeutig überwiegen. Sie verlangt zudem auch von allen Amtsträger:innen, nicht zuletzt auch von der Staatsrechtslehre, sich stärker gegen diese Bedrohung der freiheitlichen Demokratie zu wenden, als das bislang vielfach geschieht.
Zuvor möchte ich aber noch auf eine Frage eingehen, die für die Forschung im Antidiskriminierungsrecht nicht selten relevant wird, nämlich ob ich für eine Stellungnahme zu diesen Themen nicht aufgrund meiner eigenen Betroffenheit zu „engagiert“ und damit befangen bin.
Menschenwürde ist kein Partikularinteresse
1. In den ersten beiden Teilen dieses Beitrags habe ich schockierende Befunde über verfassungsfeindliche Äußerungen aus den radikalen Teilen der AfD präsentiert, die sich aus dem Verdachtsfall-Urteil des VG Köln von 2022 ergeben.
Rechtswissenschaftler:innen und Amtsträger:innen, die sich trotz solcher Befunde vornehm zurücklehnen und auf weitere nötige Prüfungen verweisen, bevor über eine Grundrechtsverwirkung oder ein Parteiverbot von Landesverbänden überhaupt näher nachgedacht werden könne, werden nach meinem Eindruck ihrer Verantwortung für den Schutz der Verfassung nicht gerecht.
Bin ich nicht aber in dieser Sache befangen, weil ich von einem rassistischen Ausschluss selbst betroffen wäre, wie ihn diese radikalen Teile der AfD befürworten?
Nun, wären alle, die ein solcher Ausschluss nicht oder nicht direkt persönlich betrifft, dann nicht gleichermaßen befangen?
Wenn es darum geht, dass Angehörige einer Gruppe die einer anderen Gruppe diskriminieren, dann sind weder die Angehörigen der diskriminierten Gruppe noch die der nichtdiskriminierten Gruppe neutral. Darauf hat zu Recht Susanne Baer in ihrer Abschiedsrede als Richterin des Bundesverfassungsgerichts eindrücklich hingewiesen: „Wenn Sie mich in Verfahren mit Bezug auf gleichgeschlechtliche Paare für befangen halten, dann sind das ja alle heterosexuellen Kolleg:innen, wenn ihre Lebensweise irgendwie von Bedeutung ist, auch.“1)
2. Wir alle unterliegen den üblichen Verzerrungsfehlern (Verfügbarkeitsheuristik, Confirmation Bias), aufgrund derer wir unsere persönlichen Eindrücke und Erfahrungen tendenziell überbewerten.
Möglicherweise überschätze ich also deshalb tendenziell die Größe der völkisch-autoritären Gefahr. Ebenso wahrscheinlich ist es dann aber, dass alle diejenigen, die von ihren Anzeichen weniger stark persönlich betroffen werden, ihre Größe tendenziell zu gering einschätzen. Die unausweichliche Subjektivität der Perspektiven2) kann nur in einem wissenschaftlichen Diskurs überschritten werden, in den die ganze Diversität3) der Perspektiven eingeht.
3. Was in Gleichbehandlungsfragen als „natürlich“, „normal“ und „neutral“ zu gelten hat, lässt sich dabei nur ausgehend von der normativen Wertung einer gleichen Würde aller herausfinden, die eine demokratische Inklusion durch Recht verlangt.4)
Wenn ungleich Behandelte eine Diskriminierung anprangern, sehen manche stets den Verdacht im Raum stehen, dass diese damit „verkappt doch nur eigene Partikularinteressen“ fördern und sich persönliche Vorteile verschaffen wollten (so Reimer5)). Das lässt aber außer Acht, dass diejenigen, die einen diskriminierenden Status Quo, von dem sie persönlich profitieren, aufrechterhalten wollen, dann doch unter dem exakt gleichen Verdacht stehen müssten.
Auf eine solche Heuristik der gegenseitigen Verdächtigung sollten wir uns in der wissenschaftlichen Debatte über Diskriminierungen gar nicht erst einlassen. Der Schutz der gleichen Würde und Rechte aller unter dem Grundgesetz kann doch schließlich wohl kaum als ein Partikularinteresse gelten. Auch wenn wir stets darüber streiten werden und müssen, wie er am besten zu erreichen ist: Der Schutz der gleichen Menschenwürde aller, also des „obersten“ Wertes der Verfassung,6) ist kein Partikularinteresse. Er sollte unser aller Interesse sein.
Die Schutzverantwortung für die Menschenwürde
4. Gärditz weist zu Recht beharrlich auf die gemeinsame Schutzverantwortung aller für die Menschenwürde auch derer hin, deren Rechte von der Agitation verfassungsfeindlicher AfD-Landesverbände nicht erst im Fall einer Machbeteiligung, sondern bereits jetzt bedroht werden (siehe hier, hier und hier): „Anstatt immer sorgenvoll über diejenigen zu sprechen“, die die radikalen Landesverbände der AfD nach einem Verbot „nicht mehr wählen könnten, sollten wir über die Menschen nachdenken, für die diese Partei eine reale Bedrohung ist“.
Man muss es „sich leisten können“, solche radikalen Kräfte nur politisch zu bekämpfen, auch wenn ihr Einfluss, trotz aller politischen Bemühungen, weiter bedrohlich wächst. Die Kosten so „abgebrühter Liberalität sind“, wie Gärditz zu Recht betont, „recht ungleich verteilt“: „Die ersten Leidtragenden sind vor allem vulnerable Personengruppen, die längst als Feindbild markiert wurden und dann Repressalien unterworfen werden.“
Leider steht er mit dieser eindringlichen Mahnung, soweit ich das überblicken kann, unter den Professor:innen des Öffentlichen Rechts bislang doch noch vergleichsweise einsam da.
Unsere Würde in Euren Händen – und unser gemeinsames „Wir“ als Deutsche jeder Abstammung und Kultur
Es geht hier um die fundamentale Frage, wer wir sein wollen. Auch ungeachtet der Problematik der Geburtsrechtslotterie7) gibt es gute Gründe, am Konzept der Nationalstaaten und der Staatsbürgerschaft festzuhalten. „Wir“ Deutsche sollten dann aber untereinander keine an die Abstammung oder an kulturelle Pauschalzuschreibungen anknüpfenden Unterscheidungen zwischen „gut integrierten“ oder weniger gut integrierten Deutschen zulassen.
Es greift hier freilich, wie stets bei Diskriminierungen, das Dilemma der Differenz:8) Es kann nötig sein, die Unterscheidungen, die überwunden werden sollen, solange zu benennen und sich zu eigen zu machen, wie die strukturellen9) oder individuellen Diskriminierungen andauern, die darauf beruhen.
Wenn „wir“ Deutsche mit bestimmten internationalen Biographien, an deren äußerliche Wahrnehmbarkeit Verfassungsfeinde rassistische und vergleichbare Diskriminierungen anknüpfen, „uns“ als Gruppe verstehen, weil „wir“ diese Diskriminierungserfahrung miteinander teilen, dann muss das gerade keine gleichheitsfeindliche Essenzialisierung bedeuten, sondern richtet sich gerade dagegen, dass andere versuchen, das größere „Wir“ aller Deutschen durch solche Zuschreibungen aufzuspalten.
Wie Bilgen in seinem eindrücklichen Beitrag deutlich gemacht hat, liegt „unsere Würde“ deshalb in „euren“ Händen. Unsere Würde als Eingebürgerte oder Kinder von Eingebürgerten liegt in den Händen derjenigen Deutschen, die nicht von solchen Ausgrenzungen direkt betroffen sind. Es ist deshalb auch zu begrüßen, wenn der Bundeskanzler uns versichert: „Sie gehören zu uns.“ „Wir“, als Deutsche jeder Abstammung und Kultur, ebenso wie als Menschen, müssen diese Unterscheidung zugleich aber auch überschreiten können: „Unsere“ Würde als Deutsche und als Menschen liegt in unseren gemeinsamen Händen.
Die Bedeutung der Wachsamkeit und Abgrenzungsbereitschaft gerade in den Eliten
5. Wir dürfen in der deutschen Staatsrechtslehre nicht den Fehler machen, den man unter den Verfassungsrechtsprofessor:innen in den Vereinigten Staaten vor 2016 beobachten konnte, nämlich eine zu zögerliche und zu schwache Realisierung der drohenden Gefahr, der dann das böse Erwachen folgt, dass das eigene Haus abbrennt.
Das gilt auch dann, wenn glücklicherweise die dortige Polarisierung hier noch nicht festzustellen zu sein scheint, sondern derzeit (noch) eine große Mehrheit der Bevölkerung nichtextreme Auffassungen teilt.10)
Wie rasant sich, gerade im Zeitalter der sozialen Medien, die Dinge auch wieder ändern können, sollten Brexit und Trump jedoch hinreichend deutlich gezeigt haben. Es wäre deshalb ein fataler Irrtum, ausgerechnet in Deutschland, nach nur 75 Jahren stabiler Verfassung unter glücklichen Umständen, zu glauben, das Land sei nunmehr immun gegen eine Überwältigung durch autoritär-populistische Kräfte.
6. Funktionieren zur Eindämmung extremistischer Parteien aber nicht generell Kooperation und Integration besser als Brandmauern? Vergleichende politikwissenschaftliche Untersuchungen zu rechtspopulistischen Parteien scheinen eher in die Gegenrichtung zu deuten:11) Rechtsextreme Positionen zu kopieren, hilft danach wenig dabei, Wählende zurückzugewinnen, verschafft aber diesen Ansichten Legitimität; auch eine Kombination von Abgrenzung, Konfrontation und Kollaboration scheint allenfalls dann Erfolgsaussichten zu haben, wenn Brandmauern zu der bekämpften Partei konsequent aufrecht erhalten werden.12)
Die Verantwortung für den Aufstieg populistischer Parteien wird weniger darauf zurückgeführt, dass es ihnen gelänge, in einer „Welle“ neue Anhänger zu überzeugen, sondern eher darauf, dass sie bereits vorhandene Reservoirs, gerade von Nichtwählenden, mobilisieren.13) Es ist danach weniger eine vermeintlich „dümmer“ werdende Bevölkerung, sondern maßgeblich auch die Bereitschaft von Menschen in hohen Positionen, gerade auch in Politik und Wissenschaft, einer vermeintlich stärker werdenden Attraktivität hin zu populistischen Positionen zu wenig Abgrenzungswillen entgegenzusetzen: It’s the elites, stupid.
In einer paradoxen Umkehrung enthielte damit der populistische Slogan immerhin ein Körnchen Wahrheit: Nicht das Volk, sondern die unzureichende Bereitschaft gerade auch der Eliten, die Demokratie als Herrschaft von Freien und Gleichen offensiv zu verteidigen, ist schuld, wenn diese Demokratie derzeit zunehmend unter Druck von rechtsaußen gerät.
Verfassungstreue und Antragsermessen
7. Ich komme damit zu meiner dritten These: Die Verfassungstreuepflicht engt das Antragsermessen für Grundrechtsverwirkung und Landesverbände-Verbote ein, und sie verlangt von allen Amtsträger:innen, vor allem aber auch von den Professor:innen des Öffentlichen Rechts, dieser Gefahr entgegenzuwirken.
Die Verfassungstreuepflicht bindet als hergebracht