01 September 2023

Aiwanger und wir

Ende der 80er Jahre, als der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger in seinem niederbayerischen Gymnasium mit einem Nazi-Flugblatt in seiner Schultasche erwischt wurde, ging auch ich auf ein solches Gymnasium, etwas weiter südlich, im oberbayerischen Rosenheim. Wir sind ungefähr gleich alt, Aiwanger und ich. Wir sind beide zur gleichen Zeit in der gleichen Gegend aufgewachsen. Wir haben im gleichen Jahr 1990 Abitur gemacht.

Gestern Nacht, als ich nicht schlafen konnte, habe ich meine alte Abi-Zeitung hervorgekramt. Da war es, das “alldeutsche Triumvirat” aus dem Geschichts-Leistungskurs in meinem Rosenheimer Gymnasium, wie es dort in heiterster Unschuld geschrieben steht. Auf dem Foto sind sie zu sehen, G., M. und S., drei grinsende Burschen, die geballten Fäuste zusammengesteckt wie zum Rütlischwur. Normale Jungs mit normalen Frisuren. S. war der Sohn des Schuldirektors, ein Einser-Schüler, der ganze Stolz seines stramm autoritären CSU-Papas. Der Geschichts-LK, so heißt es in der Abi-Zeitung, “bildete für die drei Historikfreaks den Rahmen für ihre politischen Aktivitäten zur Rettung des Vaterlandes. Der Katalog ihrer diesbezüglichen Vorstellungen war lang, wie z.B. die Wiedereinführung ihrer geliebten alten Reichskriegsfahne.” Ein paar Seiten weiter hinten beschreibt M., der künftige Berufsoffizier, diesen Geschichts-LK als Ausbildungslager einer “Elitetruppe”, die sich dort allerdings so langweilte, dass sie damit begann, “sich anderweitig zu beschäftigen”, etwa “die nächsten (militanten) Anschläge zu planen. Als höchstes Ziel war sogar ein ,Marsch auf Berlin’ geplant.”

Das war natürlich alles Quatsch und niemand nahm das ernst. Ganz im Gegensatz zu dem Manifest einer “anarchistisch-nihilistischen Volksfront”, das zur gleichen Zeit mein Freund N. und ich eines Tages vor lauter Langeweile in einer Freistunde entwarfen und an das Oberstufenbrett hefteten. Ich wurde ins Direktorat zitiert. Stolz konfrontierten sie mich mit einer meiner Klassenarbeiten: Da, die gleiche Handschrift! Ob ich noch leugne, dass ich der Urheber dieses Pamphlets sei? Ich konnte gar nicht glauben, dass die unseren Unfug ernst nahmen. Taten sie aber. (Mir ist nichts passiert außer einer strengen Ermahnung, lächerlich machen wollten sie sich dann doch nicht.)

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Das Flugblatt in Aiwangers Schultasche war kein bloßer Quatsch, das behauptet nicht mal er selber, sondern ein Nazi-Text von lupenreiner, schier nicht zu überbietender Niedertracht. Aber es war auch Quatsch. Es war offenbar satirisch gemeint. Lustig. Ein Spaß. Was das “alldeutsche Triumvirat” in Rosenheim über sich selbst in die Abi-Zeitung schrieb, war Quatsch, ich bin ziemlich sicher, dass die keine Anschläge geplant haben, schon gar keine “militanten”, und mit dem “Marsch auf Berlin” war die Kursfahrt in die damals noch geteilte heutige Bundeshauptstadt gemeint. Aber es war nicht nur Quatsch. Die drei mit ihrer “Reichskriegsfahne” wussten durchaus, womit sie da herumwedelten. Ein paar Monate zuvor, bei den Europawahlen 1989, hatten die Republikaner im Wahlkreis Rosenheim 22,1 Prozent bekommen.

Quatsch macht mächtig. Das war uns allen gemeinsam, dass wir das wussten. Die ultra-humorlose Zeit der K-Gruppen war noch nicht lange vorbei, die der Friedens- und Umweltbewegung und der RAF war noch Gegenwart. Die aus den Jahrgängen über uns fuhren am Wochenende nach Wackersdorf zum Demonstrieren. Von uns, soweit ich weiß: keine*r. Wir machten uns lustig. Ironiker*innen wollten wir sein, das fanden wir attraktiv, schillernd und kontingenzbewusst, allen auf der Nase herumtanzend, nie zu fassen, nie zu packen. Große Satiriker. Die ganze Abi-Zeitung: nichts als (peinvoll mittelmäßige) Satire von der ersten bis zur letzten Seite. Und die Macht, die uns das verlieh! Die Verzweiflung, in die wir die Autoritäten damit treiben konnten! Nicht zu packen, nicht zu fassen. Ich spüre heute noch geradezu physisch, wie es sich anfühlte, diesen Schuldirektor begreifen zu sehen, dass er sich gerade vor mir total zum Deppen macht mit seinem Versuch, mich und meine “anarchistisch-nihilistische Volksfront” auf irgendeine disziplinierbare Position festzunageln.

Hubert Aiwanger hat seine ganze politische Karriere darauf aufgebaut, der CSU auf der Nase herumzutanzen. Nicht ihr Gegner, und doch keiner von ihnen. Mir ihr im Bunde, aber ihr nichts schuldig. Immer noch ein Stückchen niederbayerischer als die ohnehin schlechthin niederbayerischst-mögliche Partei. Immer die lautesten Lacher in jedem Bierzelt. Nicht zu fassen, nicht zu packen. Vielleicht ist der Preis dieser fortwährenden Unfestnagel- und Unangreifbarkeit, dass man jedes Gefühl dafür verliert, ob man etwas getan hat oder bei etwas dabei war, das einfach nicht geht. Das nicht mit Zeitablauf, nicht mit “nicht verpfeifen wollen”, nicht mit Jugendtorheit zu entschuldigen ist. Das auch nach 30 Jahren nichts als schiere, nicht zu überbietende Niedertracht ist. Etwas, wo die Gaudi aufhört. Wofür man nur noch um Vergebung bitten kann.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Die Causa Aiwanger ist nicht nur historisch und politisch, sondern auch verfassungsrechtlich höchst interessant. Was passiert, wenn Ministerpräsident Söder seinen Wirtschaftsminister hinauswirft? Was dazu in der Bayerischen Verfassung steht, analysiert JANNIK KLEIN.

Im Jahr 1990 war über die Klimaerwärmung alles Wesentliche bereits bekannt, und hätte mein Abi-Jahrgang weniger Quatsch im Kopf gehabt, dann wären wir bei der Abwendung der Klimakatastrophe 33 Jahre später vielleicht ein bisschen weiter. So aber muss sich die rot-grün-gelbe Bundesregierung von 60 Rechtswissenschaftler*innen daran erinnern lassen, dass sie zur effektiven Absenkung des CO2-Ausstoßes verfassungs- und völkerrechtlich verpflichtet ist. Ist offenbar nötig. Presseresonanz auf den Aufruf: hier.

Lando Kirchmairs kürzlich hier vorgetragene Idee, Gesetze künftig direkt am Maßstab des Umweltschutz-Staatsziels in Art. 20a Grundgesetz zu messen, stößt auf Widerspruch: Selbst wenn man mit Kirchmair davon ausgeht, dass sich aus Art. 20a ein Rechtfertigungsvorbehalt für klimaschädigende Politik ergibt, so ANDRÉ BARTSCH, kann praktische Konkordanz auf die Verteilungsprobleme des Klimaschutzes jedenfalls keine befriedigende Antwort geben.

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An der Juniorprofessur für Öffentliches Recht, insbesondere transnationales Verwaltungsrecht von Prof. Dr. Anika Klafki an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist zum 01. März 2024 eine Stelle als

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in Teilzeit (50% / 20 Wochenstunden) befristet für zunächst drei Jahre zu besetzen. Eine Beschäftigung in geringerem Umfang ist grundsätzlich möglich.

Den vollständigen Ausschreibungstext finden Sie hier.

Die Bewerbungsfrist endet am 30.09.2023

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Dass die Art, wie die Verfassung von Bosnien-Herzegowina das aktive und passive Wahlrecht ethnisch überformt, mit den Grundprinzipien der Demokratie nicht zu vereinbaren ist, ist nicht ganz so lange bekannt wie die Klimaerwärmung, schon weil es diese Verfassung 1990 noch gar nicht gab, aber auch schon sehr lange. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg seine Rechtsprechung dazu mit einem weiteren Grundsatzurteil vertieft. JENS WOELK analysiert die Hintergründe und Folgen des Urteils.

In Tschechien wird Präsident Petr Pavel in den nächsten zwei Jahren fast das komplette Verfassungsgericht neu besetzen können. Die intransparente Praxis seines Vorgängers will der aktuelle Präsident nicht fortsetzen. Aber über das richtige Verfahren für die Zukunft gibt es Streit, auch innerhalb der Rechtswissenschaft. ANDREA PROCHÁZKOVÁ berichtet.

In Polen wird die PiS-Regierung die bevorstehende Parlamentswahl mit einem Referendum über vier heavily loaded questions u.a. zu Migration und Rentenalter koppeln. Nicht die erste Idee, die sie sich von den Freunden aus Budapest abschaut. ELIZA RUTYNOWSKA untersucht deren Verfassungsmäßigkeit.

In Russland tritt, pünktlich zum Beginn des neuen Schuljahrs, ein Gesetz in Kraft, das nicht nur den Geschichtsunterricht im ganzen Land in bisher nicht gekannter Radikalität auf Linie bringt, sondern auch die Möglichkeit vorsieht, Kinder zu Zwangsarbeit für den Krieg zu verpflichten. ANASTASIIA VOROBIOVA sieht sich an die schlimmsten Zeiten der Sowjetunion erinnert.

In der deutschen Debatte um die sogenannte “Clankriminalität” (warum dieser Begriff problematisch ist: hier) wird diskutiert, die Abschöpfung inkriminierten Vermögens durch eine Beweislastumkehr zu erleichtern. JAN BAUERKAMP hält dies weder für notwendig noch für verfassungsmäßig.

Wenn das Bundesverfassungsgericht einen Eilverfügung gegen ein Gesetz erlassen hat, fertigt der Bundespräsident dieses Gesetz vorläufig nicht aus. So wird es im Augenblick auch offenbar in Hinblick auf die Sperrklausel bei der Europawahl praktiziert. HEIKO SAUER untersucht, welchen rechtlichen Anforderungen und Grenzen dieses Praxis der Stillhaltezusage unterliegt.

Das war’s für diese Woche. Ihnen einstweilen alles Gute, und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis

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SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Aiwanger und wir, VerfBlog, 2023/9/01, https://verfassungsblog.de/aiwanger-und-wir/, DOI: 10.17176/20230902-062955-0.

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